Gerhard Richter: Streifen und Glas

Mrz 27, 2023 at 18:27 427

Aus unserem Archiv: Das Kunstmuseum Winterthur beschäftigt sich unter Direktor Dieter Schwarz mindestens seit der Ausstellung Aquarelle und Zeichnungen von 1999 intensiv mit Gerhard Richter und seinem Werk. Im Zusammenhang mit der Entstehung eines dem Künstler gewidmeten Museums auf der japanischen Insel Toyoshima – dessen Realisierung inzwischen nicht mehr aktuell ist – schuf Gerhard Richter ab 2008 neuartige, grosse Lackbilder auf Glas sowie ebenso innovative Strip-Bilder. Die zwischen 2010 und 2013 entstandenen Arbeiten sind nun nach Dresden in Winterthur in einer vom Künstler selbst konzipierten Museumsausstellung öffentlich zu sehen.

Der 1932 in Dresden geborene Gerhard Richter steht nicht still. Von einem schwachen Alterswerk kann keine Rede sein. Die ersten kleinen Lackbilder schuf der Künstler 2008. Nun folgt also eine Serie mit grösseren Formaten. Lackfarben wurden dafür auf Plexiglas gegossen. Die Farben verflossen auf der Fläche ineinander. Der Künstler beeinflusste den Verlauf und die Mischung der Farben mit Pinsel und Spachtel, um dann ein bestimmtes Resultat mittels einer auf die flüssige Farbe gepresste Glasplatte festzuhalten. In Winterthur zu sehen sind 17 kleinere Werke der Bagdad-Serie von 2010 sowie 6 grössere Flow-Bilder aus dem Sommer 2013. Die hinter der Glasfläche unberührbaren Lackbilder erinnern mit ihrer schillernden Oberfläche an aufgeschnittene, polierte Mineralien, wie man sie in naturwissenschaftlichen Sammlungen findet.

Laut dem Winterthurer Museumsdirektor Gerhard Schwarz geht es Gerhard Richter bei seiner Lackmalerei auf Glas – wie generell bei seinen Arbeiten – um die Materialität der Farbe. Dabei führe diese ihn weder zu „selbstbezüglicher Thematisierung“ noch zu „Konzeptualisierung“. Bei Richter trete vielmehr „in dieser Faszination die ambivalente Erscheinungsweise von Farbe als Mittel der Repräsentation und als amorphe Materie hervor.“ Der Künstler neigte stets dazu, der Farbe „ihre Funktion als Instrument der Darstellung Priorität einzuräumen.“

Zudem sind zwei grosse Glasarbeiten in Winterthur ausgestellt. Eine Skulptur besteht aus 12 leicht abgewinkelt hintereinander montierten Scheiben. Sie sind so gestaffelt, dass sich der Blick im Ungewissen verliert, obwohl die Scheiben durchsichtig sind. Das eigene Spiegelbild verliert sich mit jedem Schritt. Dies gilt ebenfalls für den Blick auf die Streifen und Glas-Werke an den Wänden (Amazon.de). Im Zentrum eines zweiten Richter-Raums steht eine zweite Glasskulptur. Hier sind die geneigten Glasbilder nicht mehr hintereinander, sondern aneinander gelehnt aufgestellt. Die Werke der Ausstellung Streifen und Glas werden vielfach prismatisch gebrochen. Gerhard Richter spielt in seinen zwei Glasskulpturen mit Transparenz und Spiegelung, mit Realität und Schein.

Die Strip-Bilder malte Gerhard Richter nicht. Sie basieren vielmehr auf Reproduktionen seiner eigenen abstrakten Bilder, die systematisch geteilt, gespiegelt und wiederholt wurden. Die Vorlage wurde zuerst vertikal halbiert, dann geviertelt, danach geachtelt, bis zum Schluss eine Teilung in 4096 feine Streifen vorlag. Diese wurden daraufhin in sich gespiegelt. Diese Spiegelung wurde viele Male wiederholt. So entstanden aus den vertikalen Farbstreifen horizontale Linien. Der Künstler wählte daraufhin irgendeinen der 4096 Streifen, um daraus zufällige Linienkombinationen zu einem Bild zu vereinen. Die digitalen Daten wurden danach im Inkjet-Verfahren auf Papier gedruckt und aufgezogen. Da Spiegelung und Wiederholung unendlich fortgesetzt werden können, haben die Strip-Bilder keine inhärente Dimension. In Winterthur sind die zwei längsten, hinter Acrylglas gefassten Werke je 10 Meter lang.

Im Begleitblatt zur Ausstellung wird erklärt, dass Strips die vertikalen Ausschnitte aus dem Ursprungsbild und nicht die horizontalen Linien in den daraus geschaffenen Bildern heissen. Strip bedeute nicht nur ein schmales Stück eines beliebigen Materials, sondern to strip meine zudem das Abziehen, Wegnehmen, Berauben und Zerlegen, was in diesen neuartigen Bildern von Gerhard Richter als Verfahren angewandt wurde.

Der Künstler nahm sich die Freiheit, Strip-Bilder aus mehreren Streifen zusammenzusetzen, also zu komponieren. Die Werke hinter Plexiglas folgten weder „Logik noch Geschmacksurteil“, ist auf dem Begleitblatt zu lesen. Dennoch entfalten einige Bilder eine geradezu magische Wirkung, so Strip WVZ 927-7 aus dem Jahr 2012 mit seinen überwiegend dunklen Streifen mit viel grün am unteren Rand des Werkes. Allerdings lassen die Farbstreifen der Werke in der Tat wie beschrieben „das Auge weder ruhen, noch geben sie ein Geheimnis preis. Horizontal breiten sie sich auf der Wand aus, und der Betrachter erfährt ihr Fliehen. Anstelle eines Ruhepunktes im Bild findet [der Betrachter] die Illusion einer Bewegung vor, einer Bewegung freilich, die unbestimmt bleibt, da sie weder Anfang noch Ziel, sondern nur das Entweichen kennt.“

Wer ins Kunstmuseum Winterthur geht, sollte sich unbedingt im Erdgeschoss zusätzlich die Gerhard Richter-Ausstellung Von Elbe bis November: Arbeiten auf Papier aus der Sammlung ansehen. Das Kunstmuseum Winterthur besitzt die umfassendste Sammlung an Arbeiten auf Papier von Gerhard Richter in Museumsbesitz. Zu sehen sind Zeichnungen ab den 1960er Jahren, Aquarelle, Malereien in Ölfarben auf Papier sowie auf Photographien. Bei seinem Besuch zur Ausstellungseröffnung von Streifen und Glas brachte Gerhard Richter Gastgeschenke mit. Sie sind nun in der Ausstellung Von Elbe bis November: Arbeiten auf Papier aus der Sammlung zu sehen. Bei den Gastgeschenken handelt sich um die 54 Arbeiten auf Papier der Inkjet-Serie November aus dem Jahr 2013. Wer sich die Beschreibung der Werke nicht durchliest, wird glauben, Aquarelle zu betrachten. Dabei handelt es sich um Arbeiten aus dem Tintendrucker! Gerhard Richter ging es darum, die Konsistenz von Tinte aus verschieden Arten zu manipulieren und den Fluss von Tinte auf hochabsorbierendem Papier auszuloten. Eine Publikation zu November ist 2013 bei Heni Publishing in London in einer limitierten Auflage von 800 Exemplaren erschienen (72 Seiten; Amazon.de Ausgabe von 2018 im Jahr 2023 hinzugefügt).

Bei Elbe handelt es sich um ein Jugendwerk des Künstlers aus dem Jahr 1957 bestehend aus 31 Blättern in schwarzer Farbe. Es kam erst nach dem Mauerfall bei einem Freund des Künstlers wieder zum Vorschein und wurde im Gegensatz zu allen übrigen Arbeiten aus der Dresdner Zeit von Gerhard Richter als gültig anerkannt. Seine offizielle Liste an Werken starten ja erst im Jahr 1962. Daher gilt Elbe nun als Richters erstes Werk! Gleichzeitig ist es logischerweise seine erste Auseinandersetzung mit abstrakter Kunst. Den Namen Elbe gab der Künstler seinem bis dahin unbenannten Werkzyklus erst bei seiner Wiederentdeckung nach dem Mauerfall.

Kurzum, Winterthur ist wieder einmal eine Reise wert!

Gerhard Richter: Streifen und Glas. Von Dieter Schwarz und Robert Storr. Verlag der Buchhandlung Walther König, September 2013, 80 Seiten. Den Katalog bestellen bei Amazon.de. Weitere Bücher zu Gerhard Richter bei Amazon.de.

Die Ausstellung Gerhard Richter: Streifen und Glas war vom 14. September 2013 bis am 5. Januar 2014 in der Galerie Neue Meister in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu sehen. Seit dem 18. Januar 2014 und noch bis am 21. April 2014 sind die Werke im Kunstmuseum Winterthur ausgestellt.

Gerhard Richter, Dieter Schwarz: November. Heni Publishing, London, 2013, 72 Seiten. Limitierte Auflage von 800 Exemplaren. Das Buch bestellen bei Amazon.de [2023 Link zur Ausgabe von 2018 hinzugefügt].

Artikel vom 7. April 2014; zuletzt aufdatiert um 13:06. Rezension hinzugefügt zu unseren Webseiten in neuem Design am 27. März 2023 um 18:27 deutscher Zeit.