Khmer

Jan 01, 2007 at 16:29 2430

Die Kunst und Geschichte der Khmer

Den Namen Kambodscha verbinden noch heute viele Menschen zuerst mit dem Steinzeitkommunismus der Roten Khmer und erst danach mit der tausendjährigen Kunst und Geschichte der Khmer. Bereits 1997 versuchte die damalige kambodschanische Regierung die Kultur des Landes mit einer herausragenden Ausstellung im Pariser Grand Palais in den Vordergrund zu rücken.

Angkor et dix siècles d’art khmer dokumentierte den tausendjährigen, eigenständigen kulturellen Beitrag Kambodschas zum Welterbe der Menschheit. Seit dem Zweiten Weltkrieg war in Paris keine bedeutende Ausstellung zur Kunst der Khmer mehr organisiert worden. Im Grand Palais wurden erstmals über 110 Skulpturen, Bronzen und Hochreliefs chronologisch geordnet präsentiert, die aus den zwei weltweit bedeutendsten Museen für die Kunst von Angkor stammten: Dem Kambodschanischen Nationalmuseum in Phnom-Penh und dem Pariser Musée Guimet, das damals wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossen war.

Die Kunstgeschichte Kambodschas – von 1863 bis 1953 ein französisches Protektorat – ist eng mit Frankreich verbunden. Die damaligen Standardwerke zum Thema waren von Franzosen verfasst und stammten weitgehend aus der Zeit vor dem kambodschanischen Bürgerkrieg der 1970er Jahre. Die Klassiker heissen Coedès, Groslier, Boisselier, etc. Neben dem Buch von Eleanor Mannika Angkor Wat: Time Space and Kingship (Hawaii University Press, 1996) das die künstlerische herausragendste aller Khmer-Anlagen analysierte, wurde bis 1997 wenig Erwähnenswertes zum Thema publiziert. Die Pariser Ausstellung Angkor et dix siècles d’art khmer deckte die Hochblüte der Kunst der Khmer vom VI. bis zum XVI. Jahrhundert ab.

Kambodscha wurde stark von Indien beeinflusst. Die sichtbarsten Zeugen dafür waren die Sprache Sanskrit sowie die Religionen Hinduismus (Shivaismus und Visnuismus) und Buddhismus. Das Nachbarland Vietnam hingegen gehört bereits zum chinesischen Einflussbereich.

Die Vor-Angkor-Periode beginnt mit unserer Zeitrechnung und endet Anfang des IX. Jahrhunderts. Der Grand Palais widmete rund 30 Werke dieser Zeitspanne, doch waren Werke erst ab dem VI. Jahrhundert vertreten. Über die Bildhauerkunst vor dieser Zeit verfügen wir über keine Informationen. Selbst die Zuschreibungen zum VI. Jahrhundert sind oftmals mit Schwierigkeiten verbunden. Die Verschiedenheit der Stile und die vielfältigen plastischen und ikonographischen Traditionen, selbst während Unter-Epochen, erschweren Zuschreibungen der Vor-Angkor-Epoche. Die Stilvielfalt ist wohl auch auf die verschiedenen parallelen Königreiche der Zeit zurückzuführen. Erst ab dem VII. Jahrhundert begann sich die Kunst Kambodschas von ihrem indischen Vorbild zu lösen. Damals tauchten die ersten nicht in Sanskrit verfassten Steineinschriften auf.

Im Jahr 802 etablierte sich mit Jayavaram II. (802-830?) die Khmer-Monarchie in der Region von Angkor. Ein absolutistischer Zentralstaat entstand, dessen Blütezeit 1431 mit dem Wegzug des Hofes aus der Hauptstadt Angkor endet. Der Grossteil der Pariser Ausstellung war dieser Hochperiode gewidmet. Der damals typische Werkstoff der Bildhauer war der Sandstein. Daneben entstanden Bronzeplastiken. Diese wurden zumeist aus mehreren Einzelteilen mit Hilfe von Nieten zusammengesetzt. Holz wurde zu allen Perioden verwendet, vor allem jedoch in der Nach-Angkor-Zeit.

Charakteristisch für die Kunst der Khmer ist die realistische Tendenz. Doch nie wurde die anatomisch korrekte Wiedergabe gesucht, denn schliesslich wurden Götter und Herrscher in göttlicher Inkarnation dargestellt, nicht Menschen. Die Hochreliefs und Statuen zeigen weniger Aspekte des Göttliche als die indische Kunst. Sie konzentrieren sich vielmehr auf einige wenige Typen. Da diese nur mit wenigen Attributen ausgestattet sind, gestaltet sich ihre Zuweisung – insbesondere bei teilweise zerstörten Werken – oft schwierig.

Mit dem Stil von Kulên (802-877) beginnt die Hochperiode der Kunst der Khmer. Die Figuren müssen von den Künstlern nicht mehr gestützt werden, sondern sind nun im Raum freistehend. Die Werke zeichnen sich durch weiche, runde Körperformen aus. Diese Tendenz akzentuiert sich und findet ihren Höhepunkt mit der Korpulenz der Werke im Stil von Preah Kô (ab 877). Im X. Jahrhundert wird die Kunst mit dem Stil von Koh Ker kolossal.

Im X. Jahrhundert ist vor allem der Tempel von Banteay Srei in Siem Reap, südlich von Angkor, zu erwähnen. Er wurde 967 vom Brahmanen Yajnavaraha gegründet, dem Guru des zukünftigen Königs Jayavarman V. Der feine rosa Sandstein erlaubte dort die für die Kunst der Khmer subtilste und reichste Ausgestaltung von Tempel und Statuen. In der Pariser Ausstellung zeugten vier sublime Tempelwächter davon. Diese wurden zum Schutz der Hauptheiligtümer aufgestellt. Alle besitzen menschliche Oberkörper und Glieder, drei von ihnen Tierköpfe. Leicht erkennbar ist der Affe. Der mythische Raubvogel Garuda zeichnet sich durch Flügel und einen Schwanz aus. Der Löwenkopf braucht zur Identifizierung etwas Fantasie, die der Künstler ebenfalls aufbringen musste, da dieses Raubtier in Kambodscha nicht heimisch ist. Der Bildhauer kannte es lediglich aus indischen und indonesischen Vorlagen. Der vierte Wächter trägt den Kopf eines Yaksa, eines göttlichen Wesens von untergeordnetem Rang. Alle vier Statuen zeichnen sich durch grosse ikonographische Originalität aus (Boisselier).

Das XI. Jahrhundert beginnt mit einem Bürgerkrieg. Aufstände und Kriege prägen ebenfalls die zweite Hälfte. Künstlerisch sticht eine Neuerung des Stils von Baphuong in die Augen, der fast das gesamte Jahrhundert umfasst. Um die Hüften der Statuen schmiegen sich enganliegende gefaltete Stoffe. Zudem ändern sich die Proportionen leicht. Die Körper werden langgliedriger. Aus der Zeit des Baphuong stammte mit einem Visnu-Kopf eines der eindrücklichsten Ausstellungsstücke. Die monumentale, liegende Bronze-Statue war wohl einst über sechs Meter lang. Sie stammt aus der zweiten Hälfte des XI. Jahrhunderts und stellt eines der grössten je in Südostasien realisierten Bronzekunstwerke dar.

Nouth Narang, 1997 Kulturminister (der ranghöchste Beamte des Ministeriums), wies mich damals in der Ausstellung auf meine Frage nach dem für ihn schönsten Ausstellungsobjekt eben auf diesen Visnu-Kopf hin. Das Werk berühre ihn am meisten, nicht etwa wegen seiner Kolossalität, sondern wegen der Aktualität des ihm zu Gründe liegenden Mythos: Im ewigen Kreislauf der Welt symbolisiert der liegende Visnu die Widergeburt nach der Zerstörung. Visnu ruht sich zwischen zwei kosmischen Zeiten aus. Bei seinem Erwachen spriesst aus seinem Bauchnabel eine Lotusblute, aus deren Herzen Brahma erscheint, der den Schöpfungszyklus wieder in Gang bringt. Für den Minister stand die Bronzestatue stellvertretend für die Renaissance seines während dem Bürgerkrieg und der vietnamesischen Besetzung arg in Mitleidenschaft gezogenen Landes.

Im XII. Jahrhundert einte Suryavaram II. (1113-1145) das Reich der Khmer wieder. Unter ihm entstand das architektonische Meisterwerk der Kunst Angkors, der Visnu geweihte Tempel Angkor Wat, der weltgrösste Tempelkomplex. In Angkor Wat realisiert der Besucher, warum die Einheit von Architektur, Skulptur und gestalteter Umwelt nur bei einem Besuch Kambodschas erfasst werden kann.

Diese Bemerkung gilt ebenfalls für Angkor Thom, „die königliche Stadt, die gross ist.“ Sie wurde von Jayavaram VII (1181-1218?) als Hauptstadt gegründet. Sie ist die grösste derartige Anlage der Khmer. Selbst in Indien findet sich kein in die Umwelt so ausgreifendes Gesamtkunstwerk. Kilometerlange künstliche Seen umgeben die Stadt. Die Skulpturen in Angkor Thom zeichnen sich durch einen temperierten Realismus aus, der mit expressiven Gesichtszügen verbunden wird. Die zuvor gewohnte Glorifizierung der Götter weicht hier der Demut. Nach Angkor Thom entstanden in Angkor keine monumentalen Bauten mehr. Die Bevölkerung war durch die frenetische Bautätigkeit ausgeblutet worden.

Die Post-Angkor-Periode von 1431 bis heute stand ab dem XV. Jahrhundert unter dem Einfluss Thailands. Das Jahr 1431 korrespondiert allerdings nicht mit einem konkreten künstlerischen Wandel. Die Thai, die zuvor unter Khmer-Herrschaft standen, lösten als neue Herrscher den Mahayana Buddhismus und Hinduismus und deren aristokratische kulturellen Formen durch den aus Sri Lanka stammenden Thervada Buddhismus ab. Dieser setzte sich im XIII. und XIV. Jahrhundert durch. 1867 wurde Kambodscha ein französisches Protektorat. Die Post-Angkor-Periode wurde in der Pariser Ausstellung lediglich durch einige wenige Ausstellungsstücke belegt.

Nach Paris reisten die Kunstwerke nach Washington, Tokyo und Osaka, eine Premiere für diese Länder. Nouth Narang hoffte, so Gelder für die Instandstellung des kambodschanischen Nationalmuseums sammeln zu können, das sich damals in einem erbärmlichen Zustand befand. Die Ausstellung im Grand Palais in Paris leistete einen ersten Beitrag zur Wiedergeburt der Khmer-Kunst. Die meisten aus Phnom-Penh stammenden Objekte waren für die Ausstellung restauriert worden. Zudem wurden fünf kambodschanische Studenten ausgebildet, um später selbständig die Restauration der Kunstwerke in den anderen Museen und Tempeln Kambodschas ausführen zu können. Der Minister dachte damals zudem an die Gründung von Konservatorien zu diesem Zweck.

Heute wird Kambodscha von Kulturreisenden überschwemmt. Die Infrastruktur des armen Landes war zumindest 1997 diesem Ansturm noch nicht gewachsen. 1995 strömten 130,000 Touristen nach Angkor. Zur Jahreswende 1996/97 waren es bereits 220,000. Für das Jahr 2000 rechnete der Minister mit 400,000 Reisenden. Ein Blick ins Internet zeigt, dass 2004 erstmals die Grenze von einer Million überschritten wurde.

Um das Schicksal des thailändischen Chiang-Mai zu vermeiden, einer von den Khmer gegründeten Stadt, von der nur noch Reste übrig sind, erliess die kambodschanische Regierung Gesetze zum Schutz der Kunststätten und der König entsprechende Dekrete. Vann Molyvann, der Staatsminister für das kulturelle Erbe und die Raumplanung, nannte 1997 in einem Gespräch mit mir die schweizerische Raumplanung als Vorbild. Der mit einer Schweizerin verheiratete kambodschanisch-schweizerische Doppelbürger war jahrelang in der Schweiz als Architekt tätig. Ob sich die Regierung gegen Investoren aus Kambodscha und der ganzen Welt würde durchsetzen können, stand allerdings auf einem anderen Blatt.

Dieser Artikel beruht auf dem Ausstellungskatalog Angkor et dix siècles d’art khmer.Galeries nationales du Grand Palais, Paris, 31. Januar bis 26. Mai 1997; National Gallery of Art, Washington, 29. Juni bis 28. September 1997. Katalog 1997, 268 S. Französische Version des Katalogs (Relié): Amazon.fr (vergriffen). Die englische Version: Amazon.com (ebenfalls vergriffen). Die Schreibweise im nebenstehenden Artikel lehnt sich ans französische Original an.


Angkor. Katalog zur Ausstellung vom 15.12.2006 bis zum 9.4.2007 in der Bundeskunsthalle in Bonn. Prestel, 2006. Bestellen bei Amazon.de. Hinzugefügt am 6. Februar 2007: Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zeigt die erste umfassende Ausstellung zu Angkor und zur Kunst der Khmer auf deutschem Boden. Der Besucher wird in Ausstellung und Katalog in den historischen, sozialen und religiösen Kontext der Werke eingeführt. Rund 140 Steinplastiken, Bronzefiguren und Holzskulpturen sowie Silberarbeiten und Malereien aus dem Nationalmuseum in Phnom Penh werden präsentiert. Hinzu kommen Leihgaben aus dem Indischen Museum in Wien und dem Musée National des Arts Asiatiques Guimet in Paris. Der zeitliche Boden spannt sich vom 7. Jahrhundert bis in die Neuzeit. Die frühesten überlieferten und in der Ausstellung präsentierten Kunstwerke stammen aus den Prä-Angkor Reichen Funan und Zhenla im Süden und des heutigen Nordosten Kambodscha. Dabei handelt es sich um buddhistische und brahmanische (hinduistische) Steinskulpturen aus dem 7. und 8. Jahrhundert. Einige der herausragenden Objekte in Bonn waren übrigens bereits 1997 in Paris in der Ausstellung Angkor et dix siècles d’art khmer zu bewundern gewesen. Katalog bestellen bei Amazon.de. [Eingefügt am 19.9.2007: Die Ausstellung ist nun im Museum Rietberg in Zürich noch bis am 2.12.2007 zu sehen].

Siehe auch den französischen Artikel zu Delaporte.

Wächer in Gestalt von Garuda. Kambodscha, Angkor-Periode um 967, Sandstein. Nationalmuseum Kambodscha, Phnom Penh / Foto Copyright John Gollings.