2015: Erdogan eifert Putin nach

Nov 03, 2015 at 14:58 171

Erdogan eifert Putin nach. Die AKP gewinnt die absolute Mehrheit im Parlament zurück

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan eifert Putin nach. Auch der russische Präsident ist einmal vom wichtigsten Amt im Staat auf ein eher symbolisches gewechselt, ohne dabei die Fäden aus der Hand zu geben. Beide sind relativ jung, und können daher noch lange an der Macht beiden. Und beide nehmen es mit der Einhaltung des Rechtsstaat nicht sehr ernst. Die Demokratie und die Gewaltentrennung funktionieren nur, solange ihre Macht nicht in Frage gestellt wird. Beide stellen sich Wahlen, die allerdings nicht als völlig fair und frei bezeichnet werden können. Hier sieht es in der Türkei noch etwas besser aus. Es bleibt zu hoffen, dass dies in vier Jahren noch der Fall sein wird.

Recep Tayyip Erdogan scheint weiter auf dem Weg zur „Sunni-Republik“ marschieren zu wollen, wobei es sich natürlich um Präsidialsystem handeln soll, auch wenn ihm zu der Umsetzung dieses Traums im Parlament noch die Zweidrittelmehrheit fehlt. Mit den Stimmen der AKP alleine wird dies nicht zu machen sein. Dennoch hat Premierminister Ahmet Davutoglu nach der Parlamentswahl bekräftigt, alle Türken sollten auf die Etablierung einer neuen Verfassung hinarbeiten.

Nachdem die Wahlen in einem Klima von Angst und Gewalt, Repression und Terroranschlägen, Zwangsmassnahmen gegen oppositionelle Fernsehsender und viel Propaganda stattfanden, präsentierten sich die Wahlsieger der AKP nach dem Sieg als Versöhner. Präsident Erdogan meinte bei einer Rede in einer Moschee treuherzig: „Lasst uns alle Brüder sein.“

Nachdem Erdogan im Juni 2015 die Mehrheit im Parlament verloren hatte, spielte er die nationalistische Karte und tat wohl alles, um vorgezogene Neuwahlen durchzubringen. Das war insofern nicht allzu schwierig, als dass sich ohnehin keine Oppositionspartei bedingungslos als Juniorpartner für die AKP zur Verfügung stellen wollte. Zudem sind sich die drei Oppositionsparteien, die zusammen ja im Juni die Mehrheit der Abgeordneten stellten und daher zusammen eine Regierung hätten bilden können, spinnefeind. Sie verpassten die Chance auf eine Koalition auf Zeit, um die Korruptionsvorwürfe gegen die AKP, einige vormalige Regierungsmitglieder und insbesondere die Familie von Präsident Erdogan neu und unabhängig untersuchen zu lassen.

Zurück zur nationalistischen Karte, die Erdogan nach den Juni-Wahlen spielte: Er rückte das linke und kurdenfreundliche oppositionelle Bündnis HDP wieder klar in die Nähe der terroristischen PKK. Er schaffte es so zwar nicht, die Partei unter die 10%-Hürde zu drücken und so am Wiedereinzug ins Parlament zu hindern, doch die HDP sank von 13,12% und 80 Sitzen im Juni auf 10,77% und nur noch 59 Sitze im November. Vor allem aber gelang es Erdogan und der AKP, die nationalistische MHP von 16,29% und 80 Mandaten im Juni auf nur noch 11,94% und 40 Sitze am 1. November zu drücken. Die MHP verlor genau die Hälfte ihrer Sitze, weil einige Nationalisten der AKP mehr nationalistischen Kredit als der MHP gaben und mit ihrer Stimme die härtere Gangart der Regierung gegenüber den Kurden belohnten. Die Strategie von Erdogan, Davutoglu und der AKP ging auf.

Die AKP kam bei der Parlamentswahl vom 1. November 2015 auf 49,37% der Stimmen und 317 Mandate im Parlament mit insgesamt 550 Sitzen. Im Juni hatte sie ja mit nur noch 40.87% und 258 Sitzen die absolute Mehrheit überraschend und deutlich verloren. Allerdings verfehlte sie erneut die 60%-Mehrheit in der Nationalversammlung, die für Verfassungsänderungen vorgeschrieben ist [korrigiert am 4.11.2015: Eine 60%-Mehrheit, nicht eine Zweidrittelmehrheit].

Mehr oder weniger stabil blieben die Wählerzahlen für die säkulare CHP, die zweitgrösste von vier Parteien im Parlament. Am 1. November kam die CHP auf 25,4% und 134 Sitze. Am 7. Juni hatte sie 25% und 132 Sitze gewonnen.

Im Wahlkampf kam es zu vielen unschönen Szenen. Neben dem Doppel-Anschlag von Ankara mit 102 Toten und über 400 Verletzten, der sich gegen eine oppositionelle Kundgebung für „Arbeit, Frieden und Demokratie“ richtete, kam es zu unzähligen weiteren kleineren Anschlägen und Übergriffen auf HDP-Partei und -Wahlquartiere. Mitglieder und Sympathisanten der HDP sowie anderer oppositioneller Gruppen wurden systematisch drangsaliert. Beim Doppel-Attentat von Ankara ist übrigens nicht klar, ob die Attentäter wirklich im Namen des IS handelten. Zudem stellt sich dort wie anderswo die Frage, ob Regierung, Polizei und Geheimdienste den Schutz der Besucher von oppositionellen Kundgebungen ernst nehmen.

Besonders peinlich war, wie Kanzlerin Merkel zwei Wochen vor der Parlamentswahl in die Türkei pilgerte und Präsident Erdogan die Hand schüttelte. Diese Wahlpropaganda für die AKP war völlig unpassend. Ein autoritärer Präsident, der Putin nacheifert, wurde so gestärkt. Die AKP verdankt der Kanzlerin wohl mindestens 1-2% an Wählerstimmen. Erdogan und seine Partei – als Präsident ist er pro forma zwar nicht mehr Mitglied, de facto aber sehr wohl – konnten sich so glaubwürdig als Stabilitätsanker präsentieren, wie es ihrer Wahlpropaganda entsprach. Angela Merkel hat ja auch den Diktator Al-Sisi wird der neue Mubarak aus Ägypten hofiert und keine Skrupel gezeigt, Waffen nach Saudi-Arabien und Katar zu liefern.

Natürlich muss Kanzlerin Merkel mit Präsident Erdogan und der türkischen Regierung reden, will sie die Flüchtlingswelle, die eine Folge der fehlenden Sicherheitspolitik der EU ist, unter Kontrolle bringen. Doch so etwas tut man nicht zwei Wochen vor den türkischen Wahlen. Ausser, man ist zynisch und will für „Stabilität“ in der Türkei sorgen.

Die Türkei hat mit dem Warten auf Neuwahlen wertvolle Zeit verloren. Der Wirtschaft geht es nicht gut. Eine handelnde Regierung ist gefragt. Viele Wirtschaftsvertreter – und nicht nur die – wollten Stabilität. Nun haben sie diese bekommen. Allerdings von einem Erdogan, der seinem Land schon lange schadet. Ob dies der Weisheit letzter Schluss ist, darf bezweifelt werden. Es bleibt zu hoffen, dass die nächsten Wahlen noch frei und fair sein werden. Die Presse- und Versammlungsfreiheit, die Gewaltentrennung, Staatsanwaltschaft und Polizei und viele andere Institutionen und demokratischen Prinzipien leiden in der Türkei schon lange unter dem Druck des fast schon allmächtigen Erdogan, dessen AKP und den vielen opportunistischen und korrupten Mitläufern.

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.

Artikel vom 3. November 2015 um 14:58 CET. Hinzugefügt zu unseren neuen WordPress-Seiten am 13. Mai 2023 um 12:15 deutscher Zeit.