Alberto Giacometti & seine Familie

Aug 01, 2000 at 00:00 197

Die Ausstellungen Die Familie Giacometti. Das Tal, die Welt (Amazon.de) in der Städtischen Kunsthalle Mannheim und Alberto Giacometti: Stampa – Paris (Amazon.de) im Bündner Kunstmuseum Chur. Beide Ausstellungen bis 17. September 2000.

Das Bergell ist eine Schweizer Bergregion, zwischen den Pässen Maloja und Castasegna gelegen. Geographisch ist es nach Süden ausgerichtet, wegen dem reformierten Glauben jedoch nach Norden orientiert. Da das Tal nur den wenigsten ein Auskommen ermöglichte, zogen viele als Söldner und Zuckerbäcker in die Welt, woher manche wieder zurückkamen – daher der Untertitel der Ausstellung in Mannheim: Das Tal, die Welt. Es war das Geschlecht der Salis, die während Jahrhunderten als Offiziere in fremden Heeren ihre Dienste leisteten und diplomatische Beziehungen zum Ausland unterhielten, das das Tal im 16. Jahrhunderten zur Welt öffnete.

Die Giacomettis stammten ursprünglich aus einer bescheidenen mittelitalienischen Familie. Doch bereits der Vater von Giovanni Giacometti (1868-1933) heiratete in eine vermögende Bergeller Familie. Der Sohn tat es ihm gleich und ehelichte Annetta Stampa, die aus einer der reichsten Familien des Tals stammte. Das Dorf trägt nicht ohne Grund ihren Familiennamen. Neben den Stampa waren die Castelmur, die Prevost und die Salis die tonangebenden Familien im Bergell. Zu den schillerndsten Persönlichkeiten des Tales gehörte Rodolphe Salis (1851-1897) aus Vicosoprano, dessen Grossvater und Vater als Zuckerbäcker in Frankreich tätig waren. Rodolphe zog es nach Paris, wo er 1881 das Théâtre du Chat Noir eröffnete und damit zum Schöpfer des intellektuellen Kabaretts wurde.

Die Künstlerfamilie Giacometti, das sind der erwähnte Giovanni (1868-1933), Augusto (1877-1947), Alberto (1901-1966), Diego (1902-1985) und Bruno (1907). Giovannis Vater war zuerst als Zuckerbäcker tätig und wanderte nach Warschau aus. In Bergamo leitete er später ein Kaffeehaus und kehrte danach als vermögender Mann nach Stampa zurück, wo er ein mächtiges Patrizierhaus kaufte, das ihm gleichzeitig als Gasthof, Wirtshaus, Gemischtwarenhandlung und Bäckerei diente. Giovanni konnte deshalb bei seiner künstlerischen Laufbahn auf finanzielle Unterstützung aus dem Elternhaus rechnen. Als der berühmte Maler Giovanni Segantini nach Maloja zog, freute dies Giovanni Giacometti, denn so konnte er seinem Vorbild, dem Landschaftsmaler der Bergwelt, nahe sein. Segantini unterstützte und förderte ihn.

Die Häuser der Familien von Augusto und Giovanni standen nur wenige Meter nebeneinander, doch der Cousin zweiten Grades des Panoramamalers Giovanni, Augusto, stammte aus armem Elternhaus und musste sich deshalb sein Künstlerdasein erkämpfen. Zu Hause arbeitete er im Verborgenen, denn der Vater duldete diese unnütze, nur für Reiche bestimmte Tätigkeit nicht. Sein Onkel Zaccharia dagegen zeigte mehr Verständnis. Augusto litt zudem unter der Trennung seiner Eltern und wurde mit zwölf Jahren zu seiner Tante Marietta Torriani nach Zürich geschickt, das ihm, trotz einem nochmaligen Schulbesuch in Stampa, zur Heimat wurde. Als Künstler wechselte er zwischen abstrakten Studien und bildlichen Gemälden, Zeichnungen und Dekorationen hin und her. Augusto wurde zum Städter und grossen Koloristen. Auf seinem Grabstein steht denn auch: „Meister der Farbe“. Doch mit den andern Giacomettis hatte er nie den Kontakt gepflegt.

Alberto, der Sohn von Giovanni und Annetta Stampa, verbrachte dagegen eine glückliche Kindheit. Sein Vater feierte bei seiner Geburt bereits Erfolge als neoimpressionistischer Maler. 1913 schuf Alberto sein erstes Ölgemälde, 1914 seine ersten Skulpturen aus Plastilin, das sein Vater für ihn gekauft hatte. Bei einer Reise nach Venedig im Jahr 1921 stirbt ein holländischer Mitreisender, mit dem er sich angefreundet hatte, nach kurzem Unwohlsein vor seinen Augen. Der bestürzte 20jährige Alberto wird fortan auf Grund dieses Erlebnisses ein bescheidenes Leben führen. Er etabliert sich 1922 in Paris, wo er beim Rodin-Schüler Antoine Bourdelle Kurse bis 1927 besucht, unterbrochen durch Reisen ins Bergell. Pierre Matisse, der Sohn des berühmten Malers und spätere Kunsthändler wird sein Freund. Rasch versteift sich Alberto auf die Auseinandersetzung mit einem menschlichen Schädel, den er als Überbleibsel der Existenz studiert und an dem er die Lebenszeichen sucht, die dem Schädel einst durch Atem und Blick Energie und Spannung verliehen hatten.

1925 kommt Diego zu seinem Bruder nach Paris und wird für immer sein Assistent. Zwei Jahre später beziehen sie zusammen ihr endgültiges Atelier. Bei der engen Zusammenarbeit entstehen nicht nur die surrealistischen Kompositionen Albertos, sondern auch viele Möbelstücke, denen Diego als Designer und Raumgestalter in der Folge vermehrt seine Karriere widmen wird.

Alberto beginnt ab 1946 zu seinem Stil zu finden. Nachdem er in Paris in einer Menschenmenge eine neue visuelle Erfahrung von Raumtiefe macht, werden seine Skulpturen immer länger und reduzierter. Die Anerkennung folgt u.a. mit der 1948 von Pierre Matisse in New York organisierten Einzelausstellung. Gemäss Pietro Bellasi kommt bei Albertos reifer Kunst ein prä-formales Vorstellungsregister der Materie zum Ausdruck, das durch die Bergwelt, insbesondere den Granit, geprägt ist.

Der Architekt Bruno, der jüngste der Giacomettis, der sich nicht als Künstler sieht und nie das Rampenlicht gesucht hat, baute in den 1950er Jahren den Schweizer Pavillon für die Biennale von Venedig, der sich durch eine klare Liniengebung und helle Räume auszeichnet. Wie Diego, so richtete auch Bruno sein Leben ausserhalb des Bergells ein, was vor allem beruflich bedingt zu sein scheint. Bruno lebt in Zollikon, Kanton Zürich.

Die Ausstellung in der Städtischen Kunsthalle Mannheim kann die Karrieren der fünf Giacomettis nicht vollständig dokumentieren, dazu fehlen natürlich zu viele wichtige Werke. Doch die präsentierten Arbeiten, von denen aussergewöhnlich viele aus Privatbesitz stammen, erlauben doch einen Über- und Einblick. Das Hauptaugenmerk liegt mit über 50 ausgestellten Werken auf Alberto, dem beeindruckendsten Plastiker des 20. Jahrhunderts. Der Katalog bietet eine nützliche und kompetente Einführung in Leben und Werk der wichtigsten Künstlerfamilie der Schweiz.

Nach Von Photographen gesehen: Alberto Giacometti im Jahr 1986 und La Mama a Stampa. Annetta – gesehen von Giovanni und Alberto im Jahr 1991 widmet das Bündner Kunstmuseum Chur dem berühmtesten Künstlersohn des Kantons erneut eine Ausstellung. Diese konzentriert sich mit 11 Skulpturen, 20 Gemälde, 89 Aquarelle und Zeichnungen sowie 15 Druckgrafiken voll und ganz auf Alberto Giacometti und sein Schaffen, was letztmals 1978 der Fall war. Der Gegensatz zwischen dem ländlichen, beschaulichen Bergell und der Kunstmetropole Paris werden betont. Leben und Werk an beiden Orten, in der französischen Hauptstadt und in Stampa, werden untersucht. Die ausgestellten Werke dokumentieren den Werdegang des Jungen im Jahr 1915 bis zum reifen Künstler der sechziger Jahre. Ergänzt wird die Retrospektive durch 29 Fotografien, welche die Jahre von 1911 bis zum Begräbnis des Künstlers im Januar 1966 illustrieren.

Literatur:

Alberto Giacometti. Stampa – Paris. Bündner Kunstmuseum Chur, Scheidegger & Spiess, 2000, 256 S. Den Katalog zur Ausstellung bestellen bei Amazon.de.

Die Familie Giacometti: Das Tal, die Welt. Städtische Kunsthalle Mannheim, Edizioni Gabriele Mazzotta, Mailand, 2000, 285 S. Den Katalog zur Ausstellung bestellen bei Amazon.de.

James Lord: Alberto Giacometti. Scheidegger und Spiess. Neuausgabe 2004. Die Biografie bestellen bei Amazon.de.

Artikel vom 1. August 2000. Zu unseren Worpress-Seiten hinzugefügt am 12. Juli 2022.