Alberto Giacometti. Surrealistische Entdeckungen

Jan 01, 2025 at 14:09 102

Anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Surrealismus“ zeigt das Max Ernst Museum Brühl des LVR (Landschaftsverband Rheinland) seit dem 1. September 2024 und nur noch bis am 15. Januar 2025 die Ausstellung Giacometti. Surrealistische Entdeckungen.

Ausstellung und Katalog beleuchten das surreale Schaffen im engeren Sinn von 1930 bis 1935 des Schweizer Künstlers Alberto Giacometti (1901-1966) und darüber hinaus. Sie gehen der Frage nach, wie sich das surrealistische Moment in seinen Arbeiten der Nachkriegszeit fortsetzt. Zudem wird die freundschaftliche und künstlerische Verbindung zu Max Ernst untersucht. Dabei werden über 70 Werke (Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafien) von Alberto Giacometti präsentiert und analysiert. Sein Interesse an der Erforschung des Unbewussten, die Themen Sexualität und Gewalt sowie die Ambivalenz der Zeichen prägten sein Schaffe

Der gleichnamige, dreisprachige (dt., frz., engl.), gebundene Katalog, herausgegeben von Madeleine Frey und Friederike Voßkamp: Giacometti. Surrealistische Entdeckungen | Unveiled Surrealism | Le surréalisme dévoilé. Eine Veröffentlichung des Max Ernst Museum Brühl des LVR, Deutscher Kunstverlag, Oktober 2024, 22 × 28 cm, 208 Seiten mit 140 Farbabbildungen. ISBN: 978-3-422-80258-2. Cookies akzeptieren (wir erhalten eine Kommission bei identischem Preis) und bestellen bei Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr.

Laura Bravermann, Kuratorin der Fondation Giacometti in Paris, legt im Katalog dar, dass Alberto Giacomettis Beziehung zum Surrealismus nicht nur von 1930 bis 1935 dauerte, von der Aufnahme in die von André Breton geleitete Gruppe bis zu seinem Auschluss, sondern dass seine Verbindung zum Surrealismus vielschichtig, fragmentarisch und von Schwankungen geprägt sei. Sie reiche nicht nur in beiden Richtungen über diese zeitliche Begrenzung hinaus, sondern gehe zudem über die dogmatische Loyalität gegenüber dem führenden Kopf, André Breton, hinaus.

Laura Bravermann schreibt, dass sich Alberto Giacometti als Jugendlicher für die deutsche Literatur der Romantik begeisterte, eine Strömung, die bei den Surrealisten hohe Wertschätzung genoss. Anfang der 1920er-Jahre habe er Erfahrungen mit gleichsam halluzinatorischen Sinneswahrnehmungen gehabt und 1925 beschlossen, nachdem er an der Pariser Académie de la Grande Chaumière Studien nach der Natur gemacht hatte, „zu versuchen, die Wirklichkeit mit Hilfe der Vorstellungskraft zu erfassen“. Die dem Werk vorausgehende Idee habe so eine zentrale Bedeutung für den Schaffensprozess erlangt. Dieser sei vom Vokabular der Pariser Avantgarden geprägt gewesen und habe vom Einfluss des Kubismus und einem wachsenden Interesse für das Archaische und die afrikanischen, ozeanischen, präkolumbischen und kykladischen Künste gezeugt. So fand er zu einer Vereinfachung der Formen und zu einer Mehrdeutigkeit der Zeichen.

Laura Bravermann unterstreicht, dass suggestive, aber unbestimmten Elemente seiner Arbeiten bereits dem Prinzip der freien Assoziation ensprach, wie es surrealistische Künstler wie André Masson, Joan Miró und Max Ernst praktizierten.

Alberto Giavcometti teilte das Interesse am spielerischen Umgang mit Perspektiven mit der Gruppe Novecento, mit der er zusammen ausstellte, und insbesondere mit Giorgio de Chirico, dem Spiritus Rector der Surrealistengruppe.

Die Autorin legt dar, dass Alberto Giacomettis Werke mit der Ambivalenz von Formen, sexuellen Konnotationen und Deformationen spielten. Sie standen bereits in Einklang mit den surrealistischen Erkundungen ästhetischer Möglichkeiten jener Zeit. Vielleicht daher habe er um 1927/1928 beschlossenm diese Arbeiten der neu gegründeten Galerie Surréaliste anzubieten. Während seine Werke beim Künstler Yves Tanguy und dem Dichter Jacques Prévert auf Wohlwollen stiessen seien sie von André Breton zunächst abgelehnt worden. Seine flachen Figuren weckten allerdings das Interesse von André Masson und schliesslich das der Galerie Jeanne Bucher, wo im Mai und Juni 1929 zwei von ihnen ausgestellt wurden. Sie erregten rasch die Aufmerksamkeit zweier bedeutender Mäzene der Surrealisten, Marie-Laure und Charlesde Noailles, sowie die des Dichters Michel Leiris.

Der Erfolg seiner Werke verschaffte Alberto Giacometti Zugang zum Kreis der „abtrünnigen“ Surrealisten um Georges Bataille, den Begründer der neuen Zeitschrift Documents. Diese Mitbegründer der surrealistischen Bewegung hatten inzwischen bereits alle Verbindungen zu André Breton abgebrochen. Laura Bravermann hebt hervor, dass sich der Schweizer den Surrealisten über eine Gruppe anschloss, die sich bereits vom Surrealismus Breton’scher Prägung abgewandt hatte. Die neuen Freundschaften inspirierten Alberti Giacometti zu linearen Skulpturen, in denen Anspielungen auf Sexualität und Gewalt eine bedeutende Rolle spielen.

Der Essay weist nach, wie ein Motiv auftaucht, das in Giacomettis Werken eine zentrale Rolle spielen wird: ein von Stäben begrenzter käfigartiger Raum. Dies gelte auch für das Werk Boule suspendue (1930), das im Frühjahr 1930 in der Galerie Pierre ausgestellt wurde, einem Dreh- und Angelpunkt surrealistischer Kunst. In einem Käfig befindet sich eine an einem Faden aufgehängte eingekerbte Kugel, die über einer auf einem Sockel stehenden gekrümmten Form schwebt. Nicht zuletzt durch jene Einkerbung animiere die Skulptur dazu, die beiden Formen übereinander zu schieben, was allerdings nicht möglich sei, wodurch wiederum ein unerfülltes erotisches Verlangen evoziert werde. Die Boule suspendue bewog André Breton, die surrealistische Bewegung für andere plastische Formen zu öffnen und deshalb Alberto Giacometti einzuladen, seinem Kreis beizutreten.

Salvador Dalí nahm die Boule suspendue als Ausgangspunkt für sein Konzept der „Objekte mit symbolischer Funktion“. Diese Überlegung beruhte auf Sigmund Freuds Theorie vom Objekt als einem Ort der Projektion unbewusster Begierden. Laura Bravermann hebt hervor, dass diese bald zentrale Bedeutung für die Surrealisten gewann, die, wie Alberti Giacometti erläuterte, „ihre Zeit damit verbringen, Objekte zu konstruieren“. Der Schweizer galt fortan als surrealistischer Bildhauer par excellence, schrieb jedoch einige Monate zuvor in ein Heft: „Surrealismus? ZumTeil, nicht alles, von fern“. Diese zugleich bejahende und distanzierte Haltung charakterisiere die wechselhafte Beziehung, die Alberto Giacometti zur Gruppe der Surrealisten pflegen werde. In einem Brief an seine Eltern zeigt er sich verwundert über seinen Erfolg bei den Surrealisten: „Das ist das Beste, was ich erhoffen konnte“. Gleichzeitig fügte er hinzu, dass „sie natürlich keine Bildhauer sind!“.

Laura Bravermann unterstreicht: Während seine Künstlerkollegen Kompositionen aus Alltagsgegenständen erschufen, modellierte Alberto Giacometti weiterhin seine Skulpturen und konzipierte die Elemente, aus denen sich diese zusammensetzen, selbst.

1931 betonte Alberto Giacometti dennoch in der Zeitschrift Le Surréalisme au service de la révolution seine Zugehörigkeit zu dieser Bewegung, indem er darin sieben Zeichnungen seiner Skulpturen veröffentlichte, die er als„bewegliche und stumme Objekte“ bezeichnete. Diese enigmatischen Werke zeugten laut Laura Bravermann vom Einfluss der Gruppe, mit der er sich regelmässig traf. Angeregt durch die kollektive Energie der Surrealisten und ihrer Diskussionen über Psychoanalyse und poetische Freiheit habe Alberto Giacometti auf introspektive Methoden zurückgegriffen und seine Träume und Ängste in seinen Werken zum Ausdruck kommen lassen, deren mehrdeutige Formen wiederum die „unbewussten Gedanken“ des Betrachters anregten.

Dies sind nur einige Angaben aus dem Essay von Laura Bravermann, der die Evolution des Künstlers und seine Beziehung zu den Surrealisten bis zu seinem Tod 1966 nachzeichnet. Auch wenn sich Alberto Giacometti später nicht mehr als Surrealist bezeichnete und sich seit 1935 nicht mehr an den Aktivitäten der Gruppe beteiligt habe, so habe er doch die Errungenschaften der Bewegung niemals gänzlich aufgegeben: Sein Nachkriegswerk lasse in mehr oder weniger expliziter Form und in unterschiedlicher Intensität surrealistische Motive, Methoden und Themen erkennen. Ausstellung und Katalog belegen die Aussagen der verschiedenen Autoren mit Arbeiten des Künstlers, darunter manche Hauptwerke.

Nebenbei bemerkt: Brühl ist die Geburtsstadt von Max Ernst. Das Museum widmet sich überwiegend seinem Schaffen, der Zeit der Dadaisten und Surrealisten. Da macht es natürlich Sinn, hier die Beziehung von Max Ernst zum 10 Jahre jüngeren Alberto Giacometti zu untersuchen. 1922 zog es beide unabhängig voneinander nach Paris. Der späteren folgenden Künstlerbeziehung und Freundschaft, die Ende der 1920er Jahre begann und bis in die 1950er Jahre dauerte, wobei die Künstler ab 1933 in unmittelbarer Nachbarschaft im 14. Arrondissement wohnten und ihre Ateliers hatten, und Max Ernst 1935 mit Alberto Giacometti in dessen Heimat (ins Bergell/Val Bregalia) reiste, widmet sich Friederike Voßkamp, Sammlungsleiterin Max Ernst Museum Brühl des LVR.

Der dreisprachige (dt., frz., engl.), gebundene Katalog, herausgegeben von Madeleine Frey und Friederike Voßkamp: Giacometti. Surrealistische Entdeckungen | Unveiled Surrealism | Le surréalisme dévoilé. Eine Veröffentlichung des Max Ernst Museum Brühl des LVR, Deutscher Kunstverlag, Oktober 2024, 22 × 28 cm, 208 Seiten mit 140 Farbabbildungen. ISBN: 978-3-422-80258-2. Cookies akzeptieren (wir erhalten eine Kommission bei identischem Preis) und bestellen bei Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr.

Zitate und Teilzitate in dieser Ausstellungskritik / Katalogkritik / Rezension von Giacometti. Surrealistische Entdeckungen sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension vom 1. Januar 2025 um 14:09 Schweizer Zeit.