Max Ernst und die Geburt des Surrealismus

Apr 26, 2020 at 13:35 1527

Werner Spies, von 1975 bis 2002 Professor für Kunstgeschichte an der Kunstakademie Düsseldorf und von 1997 bis 2000 Direktor des Centre Georges Pompidou in Paris, hat sich wiederholt mit Max Ernst auseinandergesetzt. Sein neuestes Buch zu diesem Thema ist Max Ernst und die Geburt des Surrealismus (Amazon.de).

Zwischen 1918 und 1923 schuf Max Ernst „vorsurrealistische“ Collage-Werke, welche die Schwelle zur surrealistischen Bildwelt markieren. Sie unterscheiden sich klar von den damals dominierenden kubistischen, futuristischen, expressionistischen und neoklassizistischen Arbeiten anderer Künstler. Er arbeitet mit Anspielungen auf Naturwissenschaft, Kunstgeschichte und Literatur. Es geht Max Ernst nicht um stilistische Fragen, sondern um Inhalte, die eine systematische Verwirrung und die Absage an Kausalität hervorbringen

Mit diesen Collagen von 1918 bis 1923 setzt sich Werner Spies in Max Ernst und die Geburt des Surrealismus detailliert auseinander. Das Buch behandelt den Kontext der Arbeiten von Max Ernst, die Beziehung zu anderen Künstlern und Geistesgrössen und ihren Werken, so zu Samuel Beckett, Franz Kafka, E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud, Luis Buñuel, Marcel Duchamp, André Breton, Hans Arp, Georgio De Chirico, etc. Werner Spiel behandelt Themen wie die Totalcollage, Epiphanie, Dilettantismus als Strategie, den Fluchtpunkt des Unerklärlichen, apokalyptische Visionen und Claude Lévi-Strauss, etc.

In den Collagen von 1918 bis 1923 geht es um Zerstückelung, Schneiden, Auslöschen, Übermalen. Also um alles andere als eine Rückkehr zur Malerei der Vorkriegszeit. Dieser Umbruchung, diese Neuorientierung ermöglicht schliesslich die Geburt des Surrealimus.

Die Bilder von Max Ernst suchen die Nähe zum Grotesken und Outrierten, belegt durch Anspielungen auf die Lektüre von E.T.A. Hoffmann, de Sade und Baudelaire. Gleichzeitig betont Werner Spies, dass diese Werke von Max Ernst nicht als malerisches Äquivalent zu den Szenen Kafkas oder Becketts zu verstehen sind. Seine Gratwanderung zwischen Eros und Thanatos ist sein Kommentar zur eigenen Zeit. Das Unerwartete in diesen Werken lebt vom Schock, der beim Aufeinandertreffen einander fremder Realitäten zustande kommt.

Werner Spies stellt die unterschiedlichen Verfahren vor, zu denen Max Ernst greift. Mit diesen, so die These des Autors, gelange Max Ernst zu einer grundsätzlichen Störung der Malerei, die man derjenigen von Marcel Duchamp zur Seite stellen könne. Dem Readymade Duchamps antwortet Max Ernst mit der Erfindung der Collage, mit der «Totalcollage». Hinter der Übung, bestehende Illustrationen zu kombinieren und auf diese Weise ungesehene Bilder hervorzubringen, steckt die konzeptuelle Entscheidung, auf alles Handgemachte zu verzichten und das Werk aus der Transplantation kunstfremder Elemente aufzubauen. Der Hinweis auf die Parallelaktion, die ihn mit Duchamp verbindet, gestattet laut Werner Spies einen neuen Zugang zu Max Ernst. Die Zurückweisung von Interpretation und Ausdeutung seiner Bilder bringt den Künstler in die Nähe von Kafka und Beckett.

Werner Spies zitiert André Breton, der aus der Rückschau festgestellt hat, dass es ohne diese Collagen von Max Ernst von 1918 bis 1923 überhaupt keine  surrealistische Malerei gegeben hätte.

Werner Spies: Max Ernst und die Geburt des Surrealismus. C. H. Beck, 2019, 225 Seiten mit 47 Farbabbildungen. Das Buch bestellen bei Amazon.de. Es bildet die Quelle für diese Rezension. Zitate und Teilzitate sind zur besseren Lesbarkeit nicht mit Gänsefüsschen ausgezeichnet.

Rezension hinzugefügt am 26. April 2020 um 13:35 Schweizer Zeit. Aufdatiert um 14:55.