Seit acht Jahren verfolgt Anna Clauss (*1981) für den Spiegel die Karriere von Markus Söder (*1967) von der CSU. Sie besucht nach eigener Aussage jede Woche mindestens die Hälfte seiner unzähligen Pressetermine. Im Februar 2021 hat sie rechtzeitig zum Kampf der Union um die Kanzlerkandidatur bei Hoffmann und Campe ihre kritischen Einblicke veröffentlicht: Söder. Die andere Biographie (Amazon.de).
Es handelt sich um keine eigentliche Biografie von der Geburt bis heute, sondern die Kapitel beleuchten einzelne Seiten des Protagonisten, Etappen und Entwicklungen in seinem politischen Leben unter Überschriften wie Feinde fürs Leben, Der Marathonmann oder Der Bienenfreund. Weise schreibt Anna Clauss am Ende ihres Vorwortes, dass es sich bei Söder. Die andere Biographie um ihre Version seiner Geschichte handelt.
Für die Journalistin beruht der Erfolg des Nürnbergers nicht auf fiesen Angriffen oder Schienbeintritten in Richtung seiner Gegner, sondern auf konsequentem Strippenziehen, Fleiss und brennendem Ehrgeiz. Für Anna Clauss ist Söder ein Einzelgänger und Klassenstreber, der sich besonders dann über die Eins im Zeugnis freut, wenn die anderen nur Dreien erhalten. Ihm nahe zu kommen ist laut der Biografin schwierig, denn kaum hat man ihn eingeholt, hat man sich an seine neueste Verwandlung samt neuer Ideen gewöhnt, ist er schon wieder einen Schritt weiter.
Zurückhaltung gehört nicht zu Söders Tugenden. Es gibt kaum Journalisten, die ihn mögen. Früher wimmelte es in der CSU von Söder-Widersachern. Heute nicht mehr. Innerhalb von weniger als zwei Jahren stieg er vom unbeliebtesten Ministerpräsidenten Deutschlands zur Kanzlerhoffnung auf, so unsere Autorin.
Anna Clauss hält unter anderem fest, dass Bayerns Ministerpräsident in seiner kurzen Zeit im Amt ein Artenschutzprogramm XXL auf den Weg gebracht und die Werte der AfD halbiert hat. Er hat einen radikalen Imagewandel durchlaufen – vom Asyl-Hardliner zum Bienenretter.
Dem Kampf gegen Covid-19 widmet sie viele Seiten. Wie sein Rivale Armin Laschet hat Markus Söder in der Pandemiebekämpfung versagt. Dies ist bei Anna Clauss so nicht zu lesen. Sie betont vielmehr (wahrheitsgemäss), dass die Coronakrise den Ministerpräsidenten auf Augenhöhe mit Angela Merkel katapultierte. Die Autorin erwähnt natürlich, dass der Ministerpräsident, als die Coronazahlen dort in die Höhe schossen, in der bayerischen Grenzregion Berchtesgaden einen regionalen Lockdown verhängte, den ersten in Deutschland. Sie kritisiert, dass er nicht mehr wie der souveräne Krisenmanager, sondern wie ein selbstgerechter Deichgraf wirkte, der allmählich das Gefühl für die Stimmung im Land verlor. Im November, als die Ministerpräsidenten beschlossen hatten, Deutschland runterzufahren, twitterte er dann plötzlich: „Wir sind eine Solidargemeinschaft und kein Egoland.“ Laut Anna Clauss hatte er gerade noch rechtzeitig bemerkt, dass er wie der übermütige Ikarus der Sonne gefährlich nahe gekommen war.
Die Autorin zitiert Söders ehemaligen Berater und Leiter seiner Kommunikationsabteilung im Finanz- und Heimatministerium, den langjährigen Hauptstadtjournalisten Michael Backhaus, mit den Worten: „Krisenzeiten sind Söder-Zeiten“. Innerparteiliche Kritiker hätten stets gehofft, wer werde sich bei der Bewältigung schwerer Krisen als politisches Leichtgewicht entpuppen. So, als Horst Seehofer ihn 2013 mit der Koordination der Fluthilfemassnahmen während der Jahrhundertflut beauftragte. Oder 2008 bei der Rettung der Bayerischen Landesbank infolge der Finanzkrise. Beide Aufgaben erledigte Söder mit Bravour.
Ein ungenanntes Mitglied des CSU-Parteivorstandes sagte Anna Claus, Söder fürchte sich nur vor Krankheit und Kontrollverlust. Schon vor Corona.
Zu seinem Politikstil hält die Biografin fest, dass man ihn lustig, plump, anbiedernd finden kann. Für Anna Clauss ist es allerdings vor allem sehr solides politisches Handwerk. Sie beschreibt zum Beispiel einen (damals noch) Landesminister Söder, der Netzwerke spinnt, dem Bürger vor Ort das Leben verschönert, einen Minister, der dorthin geht, wo es stinkt, und der Dinge anpackt, die der SPD-Bürgermeister vor Ort jahrelang brachliegen liess.
Anna Claus bemerkt bei Markus Söder neben Entertainerqualitäten und Pointensicherheit vor allem dessen Rücksichtslosigkeit. Seine Vision für Bayern? Ein zweites Silicon Valley aufbauen. Innovative Motoren und mehr Radverkehr: „Ich will beides“, verkündet der Ministerpräsident jubelnd.
Im Kapitel „Zuckerwasser und Peitsche“ lernt der Leser, dass Markus Söder über eine körperliche Konstitution verfügt, die nicht jedem Politiker in die Wege gelegt ist, weil er kaum Schlaf braucht, Termine am laufenden Band absolviert und parallel dazu pausenlos die Nachrichtenlage auf seinem Handy verfolgt. Er trinkt keinen Alkohol, sondern Cola. Von seinen Ministern verlangt er diesbezüglich bei öffentlichen Auftritten ein Mindestmass an Selbstkontrolle. Mit seinen Untergebenen geht er nicht ein Bier trinken, sondern treibt mit ihnen gerne Sport.
Markus Söder beschreibt sich selbst als schüchtern. Ganz so schüchtern im Umgang mit Frauen kann Söder vor Jahren nicht gewesen sein, als er ein Jahr vor seiner Trauung mit eine Ulrike B. ein Kind zeugte, so Anna Clauss. Er hatte sie in einem Nürnberger Sonnenstudio kennengelernt und sie sofort nach ihrer Telefonnummer befragte. Als sie schwanger wurde, habe Söder weder das Kind noch eine Heirat gewollt, so die Dame. „Ich glaube, ich war ihm wohl zu arm“, mutmasste die Dame in der Bunten. Den Bund fürs Leben ging er mit Karina Baumüller ein, die aus einer Nürnberger Unternehmerfamilie mit 2000 Mitarbeitern kommt. Doch Anna Clauss betont danach sofort, Geld habe Söder nie interessiert. Und er verachte Politiker, die ihre Kontakte versilbern, indem sie gut dotierte Posten in der Wirtschaft annehmen.
Gegen Ende ihres Werkes schreibt die Autorin, wie Angela Merkel tue sich Markus Söder schwer im direkten Dialog mit den Bürgern. Beide Politiker eine vor allem das Schicksal, von anderen stets unterschätzt zu werden. Ich: Das könnte man auch bezüglich Armin Laschet sagen. Doch der hat nicht wie Söder wirkliche Erfolge (Fluthilfe, Finanzkrise) vorzuweisen. Anna Clauss betont zudem, den Ministerpräsidenten Bayerns und die Kanzlerin verbinde die Bereitschaft, den Kurs zu ändern, sobald Kritik daran aufkomme. Allerdings verfüge Söder nur begrenzt über das Talent der Kanzlerin, Kompromisse zu finden, weil sein Hang, gemeinsam errungene Erfolge später als eigene Leistung zu verkaufen, die Verhandlungspartner nicht zur Kooperation motiviere. Doch spätestens seit den Protesten gegen den Kreuzerlass habe Söder erkannt, dass man mit konservativer Symbolpolitik im Zweifel mehr verliere als gewinne. Wie Merkel versuche er, Probleme ideologiefrei und praktisch zu lösen. Mit seinem Prinzip des praktizierenden Pragmatismus sei Markus Söder Angela Merkels wahrhaftigster Erbe. Er sei kein Springinsfeld, der im blinden Vertrauen auf gute Umfragewerte übermütig werde.
Dies sind nur einige Eindrücke aus einem Buch, das unterhaltsam und zugleich lesenswert ist, da Markus Söder im Moment noch Chancen hat, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden.
Hier noch eine lustige Anekdote, die der Kanzler in spe über die Jahre perfektioniert hat. Anna Clauss hört Söder in einem Kino in München zu, wie er seinen Zuhörern erzählt, wie er bei seinem CSU-Beitritt mit 16 Jahren in Sankt Leonhard, dem rotesten Stadtteil von ganz Nürnberg, zum ersten Mal an einer Ortsvereinssitzung im Hinterzimmer einer Wirtschaft teilnahm. Es wurde über Kindergartengebühren debattiert. Nach zehn Minuten war zwar keine Lösung dazu in Sicht, aber alle waren sich einig: Der Gaddafi ist schuld. Söder sagt, dass ihm in dem Moment klar geworden ist: »Entweder ich gehe da nie wieder hin. Oder ich übernehme die Partei.« Grosses Gelächter im Raum. Söder schliesst mit den Worten: »So ist es ja auch gekommen.« Heute fragt sich der Leser: Kommt jetzt der Sprung ins Kanzleramt?
Anna Clauss: Söder. Die andere Biographie, Hoffmann und Campe, 2021, 175 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Siehe auch unsere Rezension von Roman Deininger und Uwe Ritzer: Markus Söder. Politik und Provokation.
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Buchkritik / Rezension vom 16. April 2021 um 10:48 deutscher Zeit.