Anselm Kiefer – Bilder / Paintings

Jun 11, 2023 at 11:05 594

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 19. Oktober 2008 in der Paulskirche in Frankfurt am Main sagte Anselm Kiefer: „Ich denke in Bildern.“ Das erinnert Heiner Bastian, den Kurator, Galeristen und Herausgeber unter anderem von Anselm Kiefers Künstlerbüchern in seinem Essay im zweisprachigen (dt./engl.) Werk Anselm Kiefer – Bilder / Paintings (Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr) an die Worte des irischen Dichters William Butler Yeats, der einst bekannte: „Ich habe keine Sprache, nur Bilder, Analogien, Symbole.“

Laut Heiner Bastian ist in Anselm Kiefers Bewusstsein zutiefst verkankert, dass jede Dichtung, jeder Mythos, spirituell längst geboren, profan oder archaisch zu jeder zu einem universalen Anspruch auffordert, die Magie eines Anfangs in die eigene Zeit zu übertragen. Diese Idee berühre alle alltäglichen und metaphysischen Dimensionen, die Physik und die Poesie, die Welt des christlichen und jüdischen Kultus, die philosophischen Sinnfragen, das Dogma und die Schuld, die unsichtbare Welt, das „Wunderbare“, wenn es die Welt des Phantasischen gewinnt und Walter Benjamins „profane Erleuchtung“ meint (Profane Erleuchtung und rettende Kritik bei Amazon.de).

Laut Heiner Bastian können wir den Dialog sinnlichen Erkennens als Gestaltung eines Zwiegesprächs mit der „Metaphysik des Schönen“ verstehen, mit der steten Unvollkommenheit, denn nach Anselm Kiefer sei jeder Anfang ein Dialog mit der Unzulänglichkeit, dem ewigen Misslingen, mit dem der Künstler vertraut sei.

Anselm Kiefer Bilderwelt beginne mit philosophischen und existenziellen Fragen. Mit dem Malen habe er sein eigenes Wesen in der jüngsten deutschen Geschichte (der Nazi-Ära) erkundet. Die grauenhaften Symptome der Inhumanität wolle er in sich selbst erkennen. Wie konnte ein ganzes Volk pathologisch werden? Für Anselm Kiefer hat es nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Neuanfang und keine Katharsis gegeben. Im stumpfen Schweigen der Nachkriegszeit beginnt daher sein Aufbruch durch seine Kunst. Angesichts der Eskalation, die wir seit über einem Jahr in Europa erleben, sind das Werk von Anselm Kiefer und das 2018 von Heiner Bastian herausgegebene Buch brandaktuell.

Bis weit in die 1990er Jahre hinein war es Anselm Kiefers vorrangiges künstlerisches Anliegen, das „Nichtdarstellbare“ in Bilder bzw. Sinnbilder zu fassen, so Heiner Bastian. Dies führte ihn zurück an die Quellen der Menschheitsgeschichte: zu Gnosis und Kabbala, der christlichen und jüdischen Mystik, nordischen Mythen, kosmischen Entwürfen und alchimistischem Wissen bis hin zur philosophischen und poetischen Literatur aller Kulturen und Jahrhunderte.

Der Band erschien anlässlich einer Ausstellung neuer Arbeiten des Malers vom 17. Mai bis zum 28. Juli 2018 in der Galerie Bastian in Berlin. Anhand von 120 Gemälden aus den Jahren von 1970 bis 2017 versucht Heiner Bastian, uns den malerischen Kosmos von Anselm Kiefer zu erschliessen. Der 1945 in Donaueschingen geborene und seit 1993 in Frankreich lebende und arbeitende Mann gehört zu den herausragenden Künstlern der Gegenwart.

Bereits seine erste Einzelausstellung Besetzungen, die 1969 in Karlsruhe als eine Serie von Schwarz-Weiss-Fotografien seiner Karlsruher Abschlussarbeit gezeigt wurde, sorgte für Aufsehen und führte zu öffentlichen Auseinandersetzungen, denn die Fotos zeigten Anselm Kiefer an verschiedenen Orten in Europa den Hitlergruss zeigend. Dies geschah nicht nur in einst von Nazi-Deutschland besetzten Ländern (sowie in der Schweiz), sondern dabei trug der Künstler laut der Alumni-Initiative Kunstpädagogik Frankfurt am Mainz, wo Professor Albert Kiefer einst lehrte, zudem die Reithose, die Reitstiefel und den Militärmantel, die sein Vater als deutscher Offizier in der Nazizeit einst an der Front getragen hatte; dies soll zudem in Albert Kiefer: In Kriegs- und Friendenszeiten; Amazon.de stehen; Heiner Bastian hingegen schreibt dazu im hier besprochenen Werk, Anselm Kiefer habe bei den Besetzungen pseudomilitärische Kleider getragen.

Die in Bilder umgesetzten Fotos der Besetzungen zeigte Heiner Bastian erst 2008 in seiner Berliner Galerie, denn zuvor scheuten sich Galeristen, diese Werke auszustellen. Der Tagesspiegel bezeichnete 2008 Anselm Kiefers Performance als „Teufelsaustreibung mittels Affirmation“.

Ein Jahr nach der Aktion mit den Besetzungen malte Anselm Kiefer acht Heroische Sinnbilder genannte Gemälde, die sich laut Heiner Bastian mit den Werken von Hitlers Bildhauern wie Arno Breker und Josef Thorak auseinandersetzen. Dabei habe er auf eine entwaffnende naturalistische Malerei der ersten Stunde gesetzt. Daraus sei allerdings keine Heilung aus der Bedrohtheit, aus den Schrecken und der dämonisierten totalitär missbrauchten Schönheit entstanden, sondern nur die Gewissheit, dass in allen Versuchen über die Welt und die Welt der Ideen auch das dem Ästhetischen inhärente Unheilvolle existiere.

1980 erregte Kiefer auf der Biennale von Venedig internationale Aufmerksamkeit und löste mit seinen monumentalen, düsteren Bildern, die Titel wie Deutschlands Geisteshelden oder Parsifal trugen und unverhohlen auf die damals noch junge deutsche Vergangenheit anspielten, einen tiefgreifenden nationalen Schock aus.

In späteren Bildern von verheerten Lanschaften geht es Anselm Kiefer darum, das Verbrechen zeichenhaft in seiner ganzen universalen Wirklichkeit aufzuzeigen, damit überhaupt ein Erkennen dieser Realität entsteht, aus dem der Wille der Befreiung zu einem anderen Neuen finden kann, so Heiner Bastian.

Anselm Kiefer sagte einmal, die Ruinen seien das Erhabenste, weil sie der Anfang sind; alles hat seinen Anfang in sich, seine Negation und damit den Anfang.

Heiner Bastian notiert, dass „O métamorphose mystique“ (im Gedichtband Les Fleurs du Mal) des französischen Schriftstellers Charles Baudelaire die Konstante in Anselm Kiefers Malerei bleibe, da er jeder Eindeutigkeit und der Ästhetik misstraue und stattdessen die Fremdheit des Bildes einzulösen versuche. Bei kaum einem anderen Maler gehe es wie bei Anselm Kiefer um das Ungelöste, die Welt der Fragen, Widersprüche, die Unfertigkeit und darum, der blinden Wirklichkeit entgegenzutreten, so Heiner Bastian.

Die ganz und gar unvertraute metaphorische Wirkung seines Werkes finde ihre Wurzeln in der vom Künstler gesehen Parallelität des Zwiespalt der Imagination der Verheissung, die allen mythologischen Anfängen als morphographisches Echo innewohne und dem ihr vorgegebenen Motiv scheiternder Hoffnung.

Laut Heiner Bastian lesen sich Anselm Kiefers Bilder wie Mosaiken einer ur-mythologischen, national-heroischen Verheissung, durchwoben von den grauenhaften Symptomen der Inhumanität, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben. Heiner Bastian bezeichnet dies als erste Gegenwart Kiefers und begreift die monumentalen Gemälde einerseits als dialogische Werke gegen das Vergessen, andererseits als ein mystisch-poetisches In-Sich-Erleben der jüngsten bis hin zur ältesten menschlichen Vergangenheit.

In seinem einleitenden Essay verweist Heiner Bastian auf die wenigen früheren Werke, die das Unsagbare zeigen, so Picassos Guernica (1937) und Le charnier (Das Beinhaus, 1944-45), das letztere eine Reaktion des Künstlers auf die ersten öffentlichen Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern. Zudem erwähnt er Joseph Beuys und seine sinnbildliche Darstellung der verlorenen Humanität und des Schmerzes im Werk Auschwitz-Demonstration (1957/1964), laut Heiner Bastian eine der einsamsten Darstellungen, die uns ein Künstler je zumutete. Darüber hinaus verweist Heiner Bastian unter anderem auf das Gedicht Die Todesfuge von Paul Celan, die Schriften von Karl Jaspers und Theodor Adorno sowie den Roman Die Ästhetik des Widerstands (Amazon.de) von Peter Weiss.

Dies und natürlich wie immer noch viel mehr gibt es zu entdecken in Heiner Bastian (Hrsg.): Anselm Kiefer – Bilder / Paintings. Verlag Schirmer/Mosel, 2018, 248 Seiten mit 110 Abbildungen in Farbe. Das zweisprachige (dt./engl.) Buch bestellen bei Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr.

Siehe zu Anselm Kiefer zudem den deutschen Artikel zu seinen Holzschnitten sowie den französischen Artikel zu Anselm Kiefer – pour Paul Celan, der Ausstellung im Pariser Grand Palais 2022.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Heiner Bastians Anselm Kiefer – Bilder | Paintings sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 11. Juni 2023 um 11:05 deutscher Zeit.