Das Zeitalter des Biedermeier umfasst in etwa die Jahre vom Wiener Kongress 1814/15 bis zur bürgerlichen Revolution von 1848. Das Leopold Museum in Wien zeigt seit dem 10. April und noch bis zum 27. Juli 2025 die Ausstellung Biedermeier. Eine Epoche im Aufbruch. Der Kurator, Johann Kräftner, präsentiert ein umfassendes Bild der Ära mittels Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Möbeln, Glasarbeiten, Porzellan, Kleidern und vielem mehr. Gezeigt werden rund 190 Werke von über 70 Künstlerinnen und Künstlern.
Der Katalog dazu, herausgegeben von Johann Kräftner, Hans-Peter Wipplinger: Biedermeier. Eine Epoche im Aufbruch/Biedermeier. The Rise of an Era. Hardcover, Buchhandlung Walther König, Köln, Leopold Museum, Wien, 2025, 328 Seiten mit 260 Abbildungen, 23,5 x 28 cm, ISBN: 978-3-7533-0815-9. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und den zweisprachigen (dt. + engl.) Ausstellungskatalog bestellen bei Amazon.de.
Blick in die Ausstellung Biedermeier. Eine Epoche im Aubruch/Biedermeier. The Rise of an Era. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.
Spätestens seit Hans Ottomeyer und seinen Büchern wie Biedermeiers Glück und Ende… die gestörte Idylle 1815-1848 aus dem Jahr 1987 (Amazon.de) und der Ausstellung Biedermeier: The Invention of Simplicity im Milwaukee Art Museum vom 16. September 2006 bis zum 1. Januar 2007, die danach auch in Wien, Berlin und Paris zu sehen war, wissen wir, dass das Biedermeier eben nicht einfach „bieder“ war, eine Idylle à la Carl Spitzweg – dessen Werke übrigens keinesfalls billiger Kitsch waren –, sondern unter anderem eine Keimperiode des modernen Möbels (siehe den Essay im Katalog des Leopold Museum von Lili-Vienne Debus).
Der Direktor des Leopold Museums in Wien, Hans-Peter Wipplinger, weist in seinem Katalogvorwort zu Biedermeier. Eine Epoche im Aufbruch darauf hin, dass Europa nach dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 von massiven politischen und sozialen Umbrüchen geprägt wurde, welche einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel mit sich brachten.
Viele der durch die Französische Revolution eingeleiteten gesellschaftlichen Veränderungen wurden rückgängig und mittels restriktiver Massnahmen wie der Beschränkung der Meinungsfreiheit, der Zensur der Presse, strenger Überwachungsmassnahmen und nicht zuletzt der Unterbindung liberaldemokratischer Tendenzen zunichte gemacht.
Hans-Peter Wipplinger verweist darauf, dass sich die Mehrheit vom politischen Geschehen und den revolutionären Idealen abwandte und in eine Haltung des verbitterten Schweigens, ins Private und Familiäre flüchtete. Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Harmonie im privaten Alltag waren die Folge der Restauration und fanden Eingang in die Bildinhalte des Biedermeier.
Er unterstreicht, dass mit Biedermeier nicht nur ein Stil gemeint ist, der sich in der bildenden Kunst, in Literatur, Theater, Architektur, Musik und Mode niederschlug. Es bildeten sich vielmehr zuerst ein gewisses Lebensgefühl und ein Lebensstil heraus, durch die sich all die angeführten Künste in der dementsprechenden Form entwickelten.
Das Biedermeier war nicht nur eine Epoche der politischen Restauration, sondern zugleich grosser Innovationen und ästhetischer Umbrüche. Diese gingen laut Hans-Peter Wipplinger nicht nur von der Haupt- und Residenzstadt Wien aus, sondern zudem von den prachtvollen Städten in den Kronländern – Budapest, Prag, Laibach, Triest, Venedig und Mailand.
Blick in die Ausstellung Biedermeier. Eine Epoche im Aubruch/Biedermeier. The Rise of an Era. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.
Der internationale Austausch war prägend für die Künste der Monarchie. Daher stehen in der Ausstellung im Leopold Museum nicht nur die Wiener Meister wie Ferdinand Georg Waldmüller (1793–1865), Friedrich von Amerling (1803–1887) oder Johann Baptist Reiter (1813–1890) im Fokus, sondern zudem Künstler wie Miklós Barabás (1810–1898) und József Borsos (1821–1883) aus Budapest, Antonín Machek (1775–1844) und František Tkadlík (1786–1840) aus Prag oder Francesco Hayez (1791–1882) und Giuseppe Tominz (1790–1866) aus den damals von Österreich beherrschten Gebieten Norditaliens.
Fernando Mazzocca befasst sich in seinem Katalogbeitrag mit den künstlerischen Beziehungen zwischen Wien und Mailand in der Zeit der Restauration. Er hält fest, dass bei dem von Wien aus kuratierten Beitrag der Habsburgermonarchie zur Weltausstellung in Paris 1855 nicht Gemälde der grossen Wiener Meister die zentrale Rolle spielten, sondern Werke von Mailänder Künstlern, die vom Kaiserhaus beauftragt und dann Teil der Wiener Sammlungen geworden waren. Erst in der jungen Ersten Republik fielen viele von ihnen der Damnatio memoriae anheim. Ihre Werke in österreichischen Sammlungen wurden in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg meist an italienische Museen verkauft.
Laut Museumsdirektor Hans-Peter Wipplinger lebten in der Zeit des Biedermeier zwar weite Teile der Bevölkerung in Armut, doch durch den wirtschaftlichen Aufschwung bildete sich ein Bürgertum heraus, das sich selbstbewusst in seiner Rolle darstellen liess und so Einblicke in die Werte und Identitätsbestrebungen der vornehmlich urbanen Gesellschaft ermöglichte.
Neben den Themen des Alltags und der Darstellung des familiären Umfeldes interessierten sich die Künstler des Biedermeier zudem für die ländliche Idylle, die Naturerkundungen der Stadtbevölkerung im Wienerwald, beschauliche Alpenlandschaften voller Anmut und Stille, Monumentalität und Erhabenheit. In den Landschaftsszenerien lebte die Idylle der Romantik zwar weiter, allerdings ohne die melancholischen Nuancierungen jener Zeit.
Hans-Peter Wipplinger merkt an, dass der Blick – entgegen der üblichen Reduzierung der biedermeierlichen Perspektive auf das Kleine und Naheliegende – zudem auf ferne Länder, Städte und Kulturen fiel. So zeigt das Leopold Museum Aquarelle von Brasilien und Athen von Thomas Enders (1793–1875) und grossformatige Veduten von Konstantinopel, Kairo und New York von Hubert Sattler (1817–1904).
Ausstellung und Katalog belechten zudem die Einflüsse des Biedermeier auf die Moderne – die freien und die angewandten Künste, auf Architektur und Literatur, aber auch auf gesellschaftliche Strukturen. Ästhetische Prinzipien wie Einfachheit, Funktionalität und klare Formensprache in Architektur und Interieur beeinflussten das Schaffen von Adolf Loos (1870–1933) und Josef Hoffmann (1870–1956). Die Wiener Werkstätte hatte Wurzeln im Biedermeier.
Blick in die Ausstellung Biedermeier. Eine Epoche im Aubruch/Biedermeier. The Rise of an Era. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.
Hans-Peter Wipplinger schreibt, dass die durch den Eskapismus in das traute Heim hervorgerufenen individuellen Erfahrungen einen Bedeutungszuwachs im Kontext der Ausbildung von Subjektivität mit sich gebracht habe – eine Art Humus für den Individualismus, der in der Moderne ins soziopolitische Zentrum rücken sollte.
Waldmüller malte betroffen machende Genredarstellungen von Alltagstragödien. Er zeigte Armut und Elend. Soziale Gerechtigkeit und Verantwortung fanden später ihren Ausdruck in gesellschaftlichen Reformbewegungen.
Der Museumsdirektor sieht im Rückzug des Biedermeiers eine Parallele zur Gegenwart, die ebenfalls durch einen nostalgischen Rückzug ins Private geprägt sei. Heute gehe es allerdings um Ängste vor der Globalisierung, vor Kriegen und Migrationsbewegungen, vor dem Verlust der Privatsphäre in einer digitalisierten, zunehmend von Robotik und Algorithmen einer künstlichen Intelligenz gesteuerten und überwachten Welt.
Blick in die Ausstellung Biedermeier. Eine Epoche im Aubruch/Biedermeier. The Rise of an Era. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.
Der Kurator der Wiener Ausstellung, Johann Kräftner, beschreibt in seinem Essay das Biedermeier als eine Epoche zwischen Tradition und Erneuerung. Er erklärt zudem den Ursprung des Begriffes.
Zwischen 1855 und 1857 schufen Adolf Kussmaul und Ludwig Eichrodt für das satirische Wochenmagazin Fliegende Blätter (erschienen ab 1845) die fiktionale Figur des „Weiland Gottlieb Biedermaier“, eines angeblich kurz davor in einem schwäbischen Dorf verstorbenen Dichters, in dessen Namen sie parodistische Gedichte schrieben. Dieser „Herr Biedermaier“ wurde so zum Namensgeber für die Epoche zwischen 1815 und 1848.
Laut Johann Kräftner erfolgte eine erste Rezeption des Biedermeier an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Mit der Abkehr vom Historismus fand eine Neubewertung der vorangegangenen Biedermeierepoche statt, deren verhaltener Klassizismus für Adolf Loos (1870–1933) und Josef Hoffmann (1870–1956) zu einem Rückgrat ihres Schaffens werden sollte. Mit dem Artikel Biedermeier als Erzieher, erschienen 1904/05 in der Zeitschrift Hohe Warte, fand der Wiener Kunst und Kulturkritiker Joseph August Lux (1871–1947) zu einer neuen Sicht auf die Epoche und ihren Gestaltungswillen, der das Schaffen von Kaiserhaus, Adel und Bürgertum auf gleiche Weise beeinflusst hatte.
Johann Kräftner erwähnt als weitere Etappen der Biedermeier-Rezeption das Werk von Rupert Feuchtmüller und Wilhelm Mrazek Biedermeier in Österreich (1963), welches der Epoche ein eigenständiges Profil attestiert habe. In London folgte 1979 die Ausstellung Vienna in the Age of Schubert: The Biedermeier Interior 1815–1848.
1981 zeigten Christian Witt-Dörring und Stefan Asenbaum in Wien die Ausstellung Moderne Vergangenheit 1800–1900, die erstmals einen Blick auf die stilistische Sprengkraft dieser Epoche sowie auf die Parallelen zum Wiener Kunsthandwerk um 1900 geworfen habe, so Johann Kräftner. Die damit gewonnene Sicht sei 1987 durch die Wiener Ausstellung Bürgersinn und Aufbegehren – Biedermeier und Vormärz in Wien 1815–1848 und die oben erwähnte Münchner Ausstellung Biedermeiers Glück und Ende …die gestörte Idylle 1815–1848 geschärft und ein letztes Mal 2006/2007 mit der in Milwaukee, Wien, Berlin und Paris gezeigten Schau Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit fortgesetzt worden.
Neben dem Vorwort von Hans-Peter Wipplinger bietet der Katalog neun Essays von Spezialisten zu den Themen Biedermeier: eine Epoche zwischen Tradition und Erneuerung; Waldmüller und Tominz im Vergleich von Wien und Triest; modernes Formgefühl des Biedermeier und das böhmische Kunstgewerbe; Mailand–Wien: Künstlerische Beziehungen in den Jahren der Restauration; „Sittsam“, „dezent“ und „angemessen“? Modetrends im Biedermeier; das Wiener Polytechnische Institut und sein Fabriksproduktenkabinett als Agenturen technischer Innovation; das ungarische Biedermeier: Neue Trends und nationale Kunst; „Was für eine Art Gesellschaft? Doch keine heimliche?“ Ein kleiner Rundblick zur Biedermeierliteratur; sowie zum Biedermeier als Keimperiode des modernen Möbels. Der Tafelteil des Katalogs hat fünf Kapitel, in die Kurztexte jeweils einführen: Wien und die Hauptstädte des Reiches der Habsburger; die Landschaften des Biedermeier; der Mensch des Biedermeier; das Leben in Geschichten und Bildern verpackt; Kunstgewerbe.
Die Ausstellung im Leopold Museum in Wien besticht durch den umfassenden Ansatz, Bilder, Aquarelle und Zeichnungen neben Möbeln, Glas, Porzellan und Kleidern zu zeigen und zu erklären, wodurch die Epoche des Biedermeier – eine Zeit des industriellen Fortschritts – für den Betrachter lebendig wird.
Der Katalog, herausgegeben von Johann Kräftner und Hans-Peter Wipplinger, mit Beiträgen von Lili-Vienne Debus, Sabine Grabner, Johann Kräftner, Stefan Kutzenberger, Michaela Lindinger, Fernando Mazzocca, Juliane Mikoletzky, Adrienn Prágai und Radim Vondráček sowie einem Vorwort von Hans-Peter Wipplinger: Biedermeier. Eine Epoche im Aubruch/Biedermeier. The Rise of an Era. Hardcover, Buchhandlung Walther König, Köln, Leopold Museum, Wien, 2025, 328 Seiten mit 260 Abbildungen, 23,5 x 28 cm. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und den zweisprachigen (dt. + engl.) Ausstellungskatalog bestellen bei Amazon.de.
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Rezension / Katalogkritik / Ausstellungskritik von Biedermeier. Eine Epoche im Aubruch / The Rise of an Era vom 20. Mai 2025 um 14:36 österreichischer Zeit. Detail hinzugefügt um 14:40.