Bruno Kreisky

Jul 13, 2020 at 23:39 1447

Vor 50 Jahren – am 1. März 1970 – gewann die SPÖ bei der Nationalratswahl die relative Mehrheit. Bruno Kreisky (1911-1990) bildete daraufhin eine Minderheitsregierung. Daraus wurden 13 Jahre an der Macht.

Pflichtlektüre zum Thema Kreisky bleibt die Biografie von Wolfgang Petritsch: Bruno Kreisky: Die Biografie (Residenz Verlag, 2010; 6. Auflage 2011, 424 Seiten; gebundene Ausgabe bzw. Kindle eBook). Wolfgang Petritsch war in der zweiten Hälfte von Kreiskys Amtszeit, von 1977-1973, der Sekretär des Kanzlers. Er kehrt viel Kritisches nicht unter den Tisch, doch bei einigen Punkten wünschte man sich, dass Historiker da noch richtig nachbohren.

Neu auf dem Markt ist das Buch des langjährigen Journalisten für Medien wie Wochenpresse, profil, Kurier und zur Zeit OÖ Nachrichten Christoph Kotanko: Kult-Kanzler Kreisky. Mensch und Mythos (ueberreuther Verlag, 2020, 192 Seiten; gebundenes Buch bzw. Kindle eBook). Es enthält neben einem Vorwort des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer (SPÖ) und Texten von Christoph Kotanko Gespräche des Autors mit Zeitzeugen, darunter mit der persönlichen Sekretärin von Bruno Kreisky Margit Schmidt, dem langjährigen Kabinettschef von Kanzler Kreisky Alfred Reiter, Kreiskys langjährigem Vizekanzler und Finanzminster, der wegen Steuerhinterziehung sowie im AKH-Skandal rechtskräftig verurteilte Hannes Androsch, dem Mitarbeiter im Kanzleramt Ernst Braun und dem Chefredakteur der Tageszeitung Kurier und langjährigen Chefkommentator des ORF Hugo Portisch.

Zu Lebzeiten galt Bruno Kreisky zusammen mit dem Schweden Olaf Palme und dem Deutschen Willy Brandt als einer der „drei Musketiere“ der Sozialdemokratie. Allerdings wird er nicht nur völlig überschätzt, sondern die Schattenseiten seiner Kanzlerschaft belasten Österreich bis heute schwer.

Kreisky und die Nazis

Bruno Kreisky war Sozialdemokrat und Jude. Unter den Austrofaschisten in Österreich wanderte er für einige Zeit ins Gefängnis. Die Nazis zwangen ihn schliesslich ins Exil, das er in Schweden verbrachte. Das prägte ihn und machte ihn gleichzeitig in gewisser Weise schwer angreifbar. Er erlaubte sich in der Folge einiges, das man kaum einem anderen Politiker hätte durchgehen lassen.

Schon Wolfgang Petritsch erklärte Bruno Kreiskys unverständliche Milde gegenüber österreichischen Nazis mit der Tatsache, dass der Sozialdemokrat einst mit Nazis in einer Zelle sass. Christoph Kotonko hat ebenfalls aus erster Hand – das heisst vom Kanzler selbst – eine identische Erklärung: Die Nazis in seiner Zelle hätten sich als „eine Art Widerstandskämpfer“ gegen das austrofaschistische Dollfuss-Regime gehalten; daraus dürfe man ihnen heute „keinen Strick drehen“. Jeder habe das Recht auf politischen Irrtum.

Zurecht führt Christoph Kotonko dazu aus, Kreiskys Umgang mit der NS-Zeit bleibe ein Schatten auf seiner Politik, besonders durch die Affäre Wiesenthal. In der Tat. Kreisky stellte ohne Beweis den ungeheuerlichen Vorwurf in den Raum, der Jude, KZ-Überlebende und Nazi-Jäger Simon Wiesenthal sei ein Nazi-Kollaborateur oder Gestapo-Spitzel gewesen. Es war eben dieser Wiesenthal, damals Leiter des Wiener Dokumentationszentrums des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, der aufdeckte, dass FPÖ-Klubobmann Friedrich Peter in der Nazi-Zeit als SS-Obersturmführer in einer mit nichts als Massenmorden hinter der Front befassten Einheit Dienst tat; bis dahin bekannt war nur dessen SS-Mitgliedschaft gewesen, jedoch nicht seine Zugehörigkeit zu einer Mordbrigade. Die direkte Involvierung in Morde konnte Simon Wiesenthal Friedrich Peter zwar nicht nachweisen, doch dass dieser nicht einmal davon gewusst haben will, sehen Historiker als unglaubwürdig an. Peter sagte, er habe „nie an Erschiessungen und Repressalien teilgenommen“, er habe „nur seine Pflicht getan“.

1970 hatte die FPÖ Kreiskys Minderheitsregierung erst ermöglicht. Nach der Nationalsratswahl 1975 – davor wäre es ihm vielleicht als Wahlkampfhilfe für die ihm nahestehende ÖVP ausgelegt worden – hatte Wiesenthal seinen Bericht zur Vergangenheit von Friedrich Peter veröffentlicht. Kanzler Bruno Kreisky verteidigte nicht nur Friedrich Peter, sondern erhob die oben erwähnten, aus der Luft gegriffenen Vorwürfe gegen Simon Wiesenthal. Bruno Kreisky bediente damit antisemitische Ressentiments in der Bevölkerung ebenso wie die Meinung vieler Österreicher, die Vergangenheit müsse man endlich ruhen lassen. Der Kanzler sagte im Zusammenhang mit der Anschuldigungen an Peter: „Das ist eine Mafia, die hier am Werk ist. Für mich ist das viel mehr eine Affäre Wiesenthal als eine Affäre Peter.“ Wiesenthal wolle ihn (Kreisky) zur Strecke bringen, weil er seine Aufgabe „nicht im Dienste Israels“ leiste; der Jude Kreisky stand Israel kritisch gegenüber.

In den 1980er Jahren wiederholte Bruno Kreisky nochmals seine Attacken auf Wiesenthal, verlor vor Gericht wegen übler Nachrede und wurde zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Wiesenthal dazu: „Kreisky hat verloren und anstatt die Geldstrafe zu bezahlen, ist er gestorben.“ Christoph Kotanko verweist auf den Schriftsteller Franz Schuh, der meint, der Kanzler habe an Wiesenthal „dessen Konservatismus gehasst“. Wie auch immer, Kreiskys Attacken auf Wiesenthal entbehrten der Grundlage und waren weit unter der Gürtellinie. Der Kanzler brauchte die FPÖ, um Wahlen zu gewinnen. Da erklärte er schon 1973: „Es gibt heute keinen Antisemitismus mehr in Österreich.“ Einem anderen Kanzler hätten all diese Aussagen wohl das Genick gebrochen.

Kreisky und die Wirtschaft

Bruno Kreisky war ein Verfechter verstaatlichter Unternehmen, was Österreich bis heute belastet. Von Wirtschaft verstand er nicht viel. Er gab seinem Finanzminister Hannes Androsch viele Freiheiten. Dieser setzte sich für eine Hartwährungspolitik anstelle der vorhergehenden Abwertungspolitik ein und gegen Kanzler, ÖVP und Industriellenvereinigung durch, da er von ÖGB-Präsident Anton Benya, SPÖ-Vize-Parteichef Karl Waldbrunner und Nationalbanker Heinz Kienzl unterstützt wurde. Kotanko zitiert Androsch mit den Worten: „Es zeigte sich immer wieder, dass der wirtschaftspolitische Druck auf die Industrie, die Produktivität zu steigern und kosten zu senken, geradezu revolutionäre Verbesserungen nach sich zog – trotz aller furiosen Widerstände von Interessenvertretern.“

Finanzminister Androsch erfand den Austro-Keynesianismus, wobei der Begriff vom Wirtschaftsforscher Hans Seidel erfunden wurde. Androsch selbst spricht lieber von „policy mix„, einer „pragmatischen“ Wirtschaftspolitik bestehend aus neuen Schulden, einer expaniven Budgetpolitik zur Nachfrage- und damit Beschäftigungssicherung, insbesondere durch öffentliche Investitionen und steuerliche Förderung privater Investitionen. Hinzu kamen die erwähnte Hartwährungspolitik zur Preisstabilisierung und zum Zwang zu Produktivitiätssteigerungen sowie eine sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Einkommenspolitik zur Inflationsbekämpfung und Stabilisierung der Leistungsbilanz.

Für Buno Kreisky hatte Vollbeschäftigung oberste Priorität. Dazu sagte er ihm Wahlkampf 1979: „… dass mir ein paar Milliarden [Schilling] Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mir bereiten würden.“ Der Kanzler war geprägt von der Erinnerung an die Krise 1929/30 und das ungeheure Elend der Massenarbeitslosigkeit. Kreiskys Wirtschaftspolitik sei Sozialpolitik gewesen, so Kotanko.

Höhere Schulden bedeuteten höhere Steuern. Zudem setzte Kreisky auf die Verstaatlichte Industrie: VÖEST, VEW, Österreichische Mineralölverwaltung, Österreichische Stickstoffwerke, Aluminiumwerke Ranshofen, ÖBB, etc. Selbst die wichtigsten Grossbanken waren Staatseigentum. Sie alle verfügten über Beiteiligungen an Grossunternehmen des Industriesektors. Dadurch waren diese de facto verstaatlicht: Steyr-Daimler-Puch, Semperit, Perlmooser Zementwerke, Waagner-Biro AG, etc. Kanzler Kreisky und die Betriebsräte: Das war laut Kotanko ein Geben und Nehmen. Der Technokrat Androsch habe auf strukturelle Reformen gedrängt und später dazu gesagt: Hundert Milliarden Schilling Kosten habe die Verstaatlichte verursacht. 50,000 Arbeitsplätze seien trotzdem verloren gegangen.

Skandale ohne Ende

Mit der beginnenden Rezession um 1974 kühlte sich die Beziehung zwischen Kreisky und Androsch ab und endete später in einem totalen Zerwürfnis. Ende der 1970er Jahre verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Kanzlers. Die Zügel entglitten ihm immer mehr.

Nach dem historischen Höhepunkt 1979 mit der dritten absoluten Mehrheit für die SPÖ bei der Nationalratswahl wurden die ökonomischen Schatten immer länger. Hinzu kam ein Reihe von Skandalen. Sie erschütterten SPÖ und Regierung. Diesem Thema hätte Christoph Kotanko mehr Raum geben können. Doch er verschweigt sie nicht: Der „Club 45“; die Versenkung der „Lucona“ auf Anordnung von Udo Proksch mit sechsfachem Mord und sechsfachem Mordversuch sowie Versicherungsbetrug, wonach 16 Politiker, Juristen und Spitzenbeamte von Posten entfernt, angeklagt oder gar verurteilt wurden; der AKH-Skandal; der Fall Androsch; die „Noricum“-Affäre bei der VÖEST.

Die Ära-Kreisky war gleichzeitig von Reformen geprägt. Doch die Schatten überwiegen aus der Sicht des Schreibenden. In diesem Artikel sind nur einige Punkte aus einem lesenswerten Buch herausgegriffen, das einen kritischen Blick auf Bruno Kreisky erlaubt. Christoph Kotanko unterstreicht, dass es damals eine gesellschaftliche und politische Konjunktur gab, die nur noch die richtige Person brauchte. Die Sozialdemokratie habe zuerst ihren grossen Erneuerer nicht gewollt. Und er wäre nicht möglich gewesen ohne die Vorarbeiten des konservativen Reformers Josef Klaus, der als Kanzler von 1966 bis 1970 eine ÖVP-Alleinregierung anführte.

Nebenbei erwähnt: Bruno Kreisky stammte aus vermögendem Haus. Seine 1942 gehelichte Frau Eva Fürth, mit der er zwei Kinder hatte, ebenfalls. Dennoch war der „Sonnenkönig“ Kreisky nicht völlig abgehoben, sondern stand im Telefonbuch, und wurde daher öfters von „einfachen“ Österreichern angerufen.

Christoph Kotanko: Kult-Kanzler Kreisky. Mensch und Mythos. ueberreuther Verlag, 2020, 192 Seiten. Das gebundene Buch bestellen bei Amazon.de. Das Kindle eBook runterladen bei Amazon.de.

Weiterführende Literatur:
– Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918
– Margit Reiter: Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension vom 13. Juli 2020. Hinzugefügt um 23:39 österreichischer Zeit. Um einige Sätze ergänzt am 14.7.2020 um 00:16.