Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach. Biografie

Mai 15, 2000 at 00:00 515

Diese Biografie beruht auf dem Buch von Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach. The Learned Musician [dt. Ausgabe bei S. Fischer erschienen: Amazon.de; engl. Ausgabe: Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr, Amazon.de].

Am 28. Juli 1750 verstarb Johann Sebastian Bach, nachdem er 26 Jahre lang für die Stadt Leipzig tätig gewesen war. Das Bachjahr ist noch jung und hat doch bereits mindestens zwei Höhepunkte geliefert: Mischa Maiskys Einspielung von Bachs sechs Suiten für Violoncello Solo (siehe unten rechts) sowie die bisher kompletteste Bach-Biographie – aus der Feder von Christoph Wolff -, von der in diesem Artikel die Rede sein wird. Daneben bleibt die 1983 erschienene Darstellung von Malcolm Boyd dank ihrer Werkanalyse interessant.

Christoph Wolff ist bescheiden und betont, dass die Bachforschung keine abgeschlossene Angelegenheit sei, sondern jederzeit neue Quellen auftauchen könnten, was auch während der Niederschrift seiner Arbeit der Fall war. Bezüglich Bachs Werk meint der Autor gar, dass nur 15 bis 20% seiner Musik überlebt habe. Allein aus seiner Weimarer Zeit seien mehr als 200 Kompositionen wohl für immer verloren gegangen, und von seinen Leipziger Kantanten seien rund 40% nie gefunden worden. Wolff konzentriert seine Darstellung allerdings auf das Leben Bachs, wobei er betont, das es einen eklatanten Mangel an Informationen von entscheidender Bedeutung aufweise. Es wäre möglich, ausgedehnte Kapitel dem zu widmen, was bezüglich Bachs Leben unbekannt oder fragwürdig sei. Trotzdem ist es Wolff gelungen, das Wesentliche von Bachs Lebensgeschichte und von seiner Persönlichkeit auf gut 620 Seiten darzustellen.

Der 1940 geborene Christoph Wolff ist seit 1976 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts. Er lehrte u.a. von 1963 bis 1969 an der Universität Erlangen und bekleidete auch eine Gastprofessur in Basel. Seit 1990 ist er Honorarprofessor der Universität Freiburg i.Br. Er gehört dem Herausgeberkollegium der Neuen Bach-Ausgabe an und ist Mitherausgeber des Bach-Jahrbuches, um nur auf einige Stationen und Tätigkeiten aus seinem reichen wissenschaftlichen Leben zu verweisen. Zu seinen Veröffentlichungen bezüglich Bach gehören: Bach: Essays on His Life and Music (Cambridge 1991, 3/1996), Die Bach Familie (Stuttgart 1994) sowie, als Herausgeber, Die Welt der Bach Kantaten in drei Bänden (Stuttgart 1996-99).

Wolff verzichtet auf die detaillierte Besprechung einzelner Werke von Bach (hierfür sei, wie bereits erwähnt, auf das Werk von Malcolm Boyd verwiesen). Zusammen mit der Entwicklung von Bachs Stil und Technik soll die Werkanalyse Gegenstand einer eigenen Studie werden, die Wolff als Ergänzung zum vorliegenden biographischen Porträt später vorzulegen beabsichtigt.

Bach stammte aus einer weitverzweigten Musikerfamilie, die seit mehreren Generationen, und auch über Johann Sebastian Bach hinaus, mit der Musik verbunden war und blieb. Gestützt auf die wenigen verfügbaren Quellen kommt Wolff zum Schluss, das Bachs Frühwerk bereits vor 1705 auf eine junge Meisterschaft des Komponisten und Musikers schliessen lässt. Das bedeutet eine Akzentverschiebung und Neubewertung von Bachs Frühwerk, ohne dass sich Wolff dabei auf neue Forschungsergebnisse oder Entdeckungen abstützt.

Der Untertitel der amerikanischen Ausgabe von Wolffs Biographie lautet The Learned Musician, [Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr, Amazon.de], der gelehrte Musiker. Damit ist gleich gesagt, worin Bach sich von seinen Verwandten unterschied und worin sein Selbstverständnis bestand, das gleichzeitig einer objektiven Charakterisierung gleichkommt: Die wissenschaftliche Atmosphäre des Forschens und Lehrens, verbunden mit Entdecker- und Erfindergeist, macht Bachs musikalische Philosophie aus. Er sah sich nicht als Musikant, sondern als Musikgelehrten, der Werke musikalischer Wissenschaft erstellte.

Bach pflegte zudem aussergewöhnlich enge Verbindungen zur Leipziger Universität und hatte Kontakte zu Professoren in den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten. Die Frau eines Philosophieprofessors war die Patin eines seiner Söhne, ein Professor für Alte Kirchengeschichte taufte drei seiner Kinder, ein Logik- und Physikprofessor steuerte das Libretto zu einer Kantante bei und ein Rechtsprofessor kommissionierte bei ihm eine Kantate. Bach selbst behandelte in seiner Musik die Beziehung zwischen Logik und Glauben, Wissenschaft und Gott. Gleichzeitig war er ein Kind des 17. Jahrhunderts, das zwar über den musikalischen Handwerker hinausging, aber doch noch kein autonomer Komponist war, wie es erst das 19. Jahrhundert hervorbrachte. Bach war von Arbeitgebern, Fürsten und Repräsentanten von Städten abhängig, was immer wieder zu Konflikten führte und sogar zu einer Gefängnisstrafe führte.

Wolff stimmt mit dem Musiker und Musikkritiker des 18. Jahrhunderts, Daniel Schubart, überein, der meinte, was Newton für die Philosophie war, das war Bach für die Musik, die er zur Wissenschaft erhob und systematisch erforschte. Die Instrumente waren sein Labor. Obwohl Bach nie über Weimar, Leipzig und die anderen regionalen Wirkungsstätten hinauskam, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Händel und Telemann, zeugen seine Werke weit mehr von der Begegnung mit der musikalischen Welt seiner Zeit, da sie auf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Musik beruhen. Wenn Bach eine Revolution ausgelöst habe, dann beruhe sie auf seiner Kompositionslehre, in der er die bisher getrennt behandelten Prinzipien von Generalbass, Harmonik und Kontrapunkt zusammenführte, meint Wolff, der als wichtigste „Lehrstücke“ für dieses Verfahren das Wohltemperierte Klavier sowie „die Sammlung von mehr als 370 vierstimmigen Chorälen [anführt], die die Perspektiven der harmonischen Tonalität aufdeckten.“

Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach. The Learned Musician. Die deutsche Ausgabe bei S. Fischer erschienen: Amazon.de. Die englischsprachige Originalausgabe, W.W. Norton & Co, Hardcover, 2000. Hier die engl. Ausgabe von 2001: Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr, Amazon.de.

Artikel von Cosmopolis.ch Nr. 15, 15. Mai/14. Juni 2000.

Am 21.8.2004 hierherverschoben aus Cosmo11, 2000:

Mischa Maisky: Johann Sebastian Bach, Sechs Suiten für Violoncello Solo. Deutsche Grammophon 2894633142. Die Aufnahmen zum Bachjahr 2000 bestellen bei Amazon.de. Zum Vergleich: Seine Aufnahmen aus dem Jahr 1994 bestellen bei Amazon.de.

Der Cellist Mischa Maisky gehört zu den grossen seines Fachs. Seine Neueinspielung der sechs Solosuiten von Johann Sebastian Bach, begleitet von einer Tournee, begann 1999 rechtzeitig als Vorgeschmack auf das nun anstehende Bach-Gedenkjahr. Der Höhepunkt wird der 28. Juli 2000, der 250. Todestag des Komponisten, bilden (Cosmopolis wird auf neue Literatur und CDs zu Bach eingehen). Für die Popularität der sechs Solosuiten im 20. Jahrundert ist vor allem der Katalane Pablo Casals verantwortlich, der 1890 in einem Musikantiquariat in Barcelona ein Exemplar der Grützmacher-Ausgabe aufgespürt hatte. Bachs Präludien lassen den Interpreten grosse gestalterische Freiheit, die Casals im Sinne seines Romantizismus zu nutzen wusste. Mischa Maiskys erhielt 1959 von seinem älteren Bruder Valery, ein Bachforscher und -interpret, ein Exemplar der 1957 erschienenen Musgyz-Ausgabe von Alexander Stogorsky geschenkt. Mischa Maiskys Lehrer Mstislaw Rostropowitsch und Gregor Piatigorsky (Stogorskys Bruder) führten ihn später in die Geheimnisse von Bachs Cello-Suiten ein. Schliesslich stiess er auf Casals legendäre Einspielung aus den 30er Jahren, die er zuerst für „verrückt“ hielt, doch heute sei ihm klargeworden, dass ihn Casal nachhaltig beeinflusst habe. Zu seiner Neueinspielung meint Maisky, er habe vor einigen Jahren in Zürich in einem HiFi-Fachgeschäft ein Paar Boxen ausprobiert. Dabei habe der Verkäufer eine CD eingelegt, auf der u.a. das Bourrée aus der Cellosuite in C-dur zu hören war. Zuerst dachte er, man wolle sich mit dieser „Persiflage“ über ihn lustig machen, doch dann habe er mit Schrecken feststellen müssen, dass es seine Aufnahme aus dem Jahr 1985 war! Deshalb sei er glücklich über den Vorschlag von Deutsche Grammophon gewesen, die Suiten für das Bachjahr 2000 neu einzuspielen. Dabei betont der Cellist, dass für ihn jedes Jahr ein Bachjahr sei. Das Resultat von Maiskys Einspielung in einer Abtei in Flandern ist jedermann zu empfehlen (diese Rezension stützt sich auf Tully Potter).