Daniel Arasse: Anselm Kiefer

Jul 06, 2023 at 09:37 862

Heute, am 6. Juli 2023, erhält der Maler, Bildhauer und Bühnenbildner Anselm Kiefer den prestigereichen Deutschen Nationalpreis in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt in Berlin überreicht, und zwar „für sein eindrucksvolles Wirken als kultureller Mittler zwischen Deutschland und Frankreich“.

Die private Stiftung hinter dem Preis ehrt Personen und Organisationen, die sich für Demokratie, gesellschaftliche Teilhabe und den Zusammenhalt in Deutschland und Europa einsetzen. Die Laudationes für Anselm Kiefer halten Bundeskanzler Olaf Scholz und der Kunsthistoriker Florian Illies. Daher hier die Rezension einer Monographie, die sich mit dem 2023 geehrten Künstler auseinandersetzt.

Der französische Kunsthistoriker Daniel Arasse (Algier 1944-2003 Paris), zuerst Spezialist für die italienische Renaissance, hatte sich zwanzig Jahre lang mit Anselm Kiefer und seinem Werk beschäftigt, ehe er 2001 das lesenswerte, wissenschaftlich fundierte Buch Anselm Kiefer: Die große Monographie (Amazon.de) veröffentlichte. Nebenbei bemerkt hat Daniel Arasse Bücher, Studien und Artikel zu so unterschiedlichen Künstlern wie Leonardo da Vinci, Vermeer, Rothko und Cindy Sherman verfasst.

Daniel Arasse schreibt in „Labyrinth“, dem ersten Kapitel seiner Monographie, dass sich das Werk von Anselm Kiefer in einem Prozess aus Ablagerung, Kreuzung und Überarbeitung von Themen, Motiven und Konstellationen entwickelt, die in sehr unterschiedlichen Medien immer wieder auftauchen und sich in ihnen überlagern. Dazu gehören Fotografien, Gouachen, Aquarelle, Gemälde, Bücher, Gravuren, Performances, grossformatige Installationen und Atelierinszenierungen. Je mehr man sich mit seinem Werk vertraut mache, je besser man sich in ihm auskenne, desto mehr stelle sich das Gefühl ein, es mit einer Art von Labyrinth zu tun zu haben, das fortschreitend an Umfang und Vielschichtigkeit gewinne, dessen Einheit und Gesamtzusammenhang nur mit der Unsicherheit vergleichbar sei, welche der Betrachter durchlaufe, der es interpretieren wolle. Die Titel der Werke legten ausgefeilte Bedeutungen nahe, doch deren präzise Bedeutung, die Art und Weise, wie sich Titel und Werk verbänden, bleibe dennoch oft rätselhaft.

Für Daniel Arasse spielt Anselm Kiefer bewusst mit der Ikonographie, die er manipuliert. Der Künstler bezieht laut dem französischen Kunstkritiker nicht nur äusserst vielfältige Quellen ein, die von der deutschen Geschichte und Kultur bis zur jüdischen Kabbala, von der Alchimie bis zur mesopotamischen Mythologie, von Dionysius Areopagita bis zur Atomenergie reichen, sondern diese Quellen seien heute oft so wenig bekannt, dass Werktitel, die darauf anspielten, an sich schon ein Rätsel darstellten, und Anselm Kiefer mache von ihnen einen sehr persönlichen und geradezu paradoxen Gebrauch.

Im Unterschied zur herkömmlichen Funktionsweise der Ikonographie gebe es keine einzige Regel, mit der sich die Beziehung zwischen den Motiven und den Themen, auf die sie ansprechen sollen, erschliesse. Motive und Gegenstände könnten zeitgleich oder im Abstand von Jahren bei augenscheinlich weit voneinander entfernten Themen auftauchen. Laut Daniel Arasse verstärkt diese Praxis gleichzeitig den Eindruck einer globalen Einheit des Œuvres als auch seine labyrinthische Dimension.

Ideenassoziationen führen von einem Werk zu mehreren Gedanken, und von einem Gedanken zu mehreren Werken. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass sich Anselm Kiefer manchmal nach Jahren ein als unvollendet betrachtetes Bild erneut vornimmt. Dadurch kann es thematisch verändert werden kann. Durch seine materielle Dicke legt das überarbeitete Werk Zeugnis von seiner Geschichte ab und lässt im neuen Thema die Erinnerung an das alte Aufscheinen. Der Künstler überarbeitet auch Fotografien, oder nimmt nach Jahren einen Titel erneut auf. So entstehen ähnliche Werke mit unterschiedlichen Titeln, oder unterschiedliche Werke mit identischen Titeln. Es entstehen immer wieder neue Assoziationen, Überschneidungen, Wahrnehmungen.

Daniel Arasse schreibt in Anselm Kiefer: Die große Monographie (Amazon.de), dass sich für Anselm Kiefer bereits mit seinen ersten Werken ab 1969/70 die Frage stellte, ob es nach dem Holocaust und der Vereinnahmung der nationalen kulturellen und künstlerischen Tradition durch das Dritte Reich überhaupt noch möglich sei, ein »deutscher Künstler« zu sein.

Bereits Anfang der 1980er Jahre, als Anselm Kiefer die Trauer über diese (verlorene) Tradition noch nicht abgeschlossen hatte, hat sich laut Daniel Arasse das Territorium des Labyrinths des Künstlers durch die Aufnahme anderer Themen und anderer Kulturen erweitert. Von da an sei der Verlust von Sinn, die Unmöglichkeit, Zugang zu ihm zu finden, sein Hauptthema geworden – mit einer Unterbrechung in den Jahren 1992 bis 1995. Anselm Kiefers Arbeiten zeigten nun einen existenziellen Faden, eine Sehnsucht nach vorwissenschaftlichen Zeiten und Kulturen, als der Mensch noch über eine kosmische Erfahrung verfügt habe, welche durch die Moderne unwiderruflich verloren gegangen sei. Laut Daniel Arasse zeigt der Gang durch das Labyrinth des Werkes, dass Anselm Kiefer darin gleichzeitig die Rolle des Daidalos, des Theseus und des Minotauros spielt.

Im zweiten Kapitel beschreibt Daniel Arasse die entscheidende Rolle der Biennale von Venedig von 1980 für den Aufstieg von Anselm Kiefer zu einem Künstler von internationalem Rang. Während dem in Deutschland die meisten Kritiker das „Deutschtum“ in seinen Werken heftig kritisierten, zollten ihm Galeristen, vor allem in den Vereinigten Staaten, uneingeschränkte Anerkennung. Die Galerie Marian Goodmann stellte seine Werke bereits 1981 aus.

Die Bücher nehmen einen zentralen Platz im Schaffen von Anselm Kiefer ein. Laut Daniel Arasse stellen sie einen Kreuzungspunkt für andere Schaffensbereiche. Zudem sind sie einen Schmelztiegel für zukünftige bzw. die Vollendung früherer Arbeiten dar. Ab 1968/69 bilden sie einen wichtigen Bestandteil seiner Tätigkeit; allein im Jahr 1969 stellte er sechzehn Bücher her. Der Autor bezeichnet die Bücher als das intime Labyrinth Kiefers inmitten das grossen Labyrinths, das sein Gesamtwerk konstitutiert.

Die photographischen Selbstportraits, die berühmten, kontroversen „Besetzungen“ von 1969 sowie die daraus entstandenen Aquarelle und Gemälde bezeichnete Anselm Kiefer selbst als Erkundungen verschiedener Rollen, wobei er sich als Material benutzt habe, so wie auch Farbe Material sei, also nicht als Selbstbildnisse. Doch dies seien sie dennoch sehr wohl gewesen, meint Daniel Arasse. Der Kunsthistoriker nimmt den Künstler trotzdem beim Wort. Theatralik sei der Kern von Anselm Kiefers künstlerischer Praxis. Die Funktionen dieser Inszenierungen seien klar differenziert: „Aktion“ bw. „Performance“, Archiv und Erinnerung an vergangenes Schaffen, Gebrauchsmaterial für neue Werke. Diese künstlerische Verarbeitung sei eines der Verfahren, mit denen die Überdeterminierung erzeugt werde, die sein Werk kennzeichneten. Es gehe Anselm Kiefer nicht um Gedächtnisarbeit (z.B. Erinnerungsarbeit zur Nazizeit), sondern um Arbeit am Gedächtnis. Er schafft sich selber ein Andenken an das, das er (*1944) – anders als Joseph Beuys (1921-1986), der die Nazizeit erlebt hat – gar keine Erinnerung hat.

Im Kapitel „Trauer“ notiert Daniel Arasse, dass der Nationalsozialismus im eigentlichen Sinn bei weitem nicht der umfangreichste Teil des Œuvres von Anselm Kiefer ist. Es gehe Anselm Kiefer vielmehr um das Interesse an deutscher Geschichte und Kultur allgemein.

In einem anderem Kapitel widmet sich Daniel Arasse dem Thema „Blei“. Das Material habe Anselm Kiefer seit Mitte der 1980er Jahre regelmässig in Gemälden, Büchern und Skulpturen verwendet. Die Verwendung von Blei bringe vor allem die Distanzierung von klassischen Darstellungsweisen ans Licht – der narrativen, aber auch der allegorischen. Er benutze Blei nicht so sehr für das, was es repräsentiere, als vielmehr für die physische und psychische Wirkung, die dessen materielle Präsenz ausübe. Blei erlaube es Anselm Kiefer aufgrund seiner physischen Plastizität und seiner visuellen Eigenschaften, eine Idee oder ein Gefühl nicht darzustellen, sondern sie zu konkretisieren bzw. uns die Präsenz ihrer »Konkretion« zu vergegenwärtigen.

Am Ende seiner Mongraphie schreibt Daniel Arasse von drei Dimensionen des neueren künstlerischen Schaffens von Anselm Kiefer (2001 geschrieben): Das Verlangen nach einer Wiedervereinigung mit der lebendigen Einheit der Welt, Melancholie angesichts des Schauspiels von Ruinen, mit denen sich die Geschichte als »unausweichlicher Niedergang« präsentiere, und das Gefühl eines auf sich genommenen Exils, das aus dem Misslingen des Werks den Auftrag des Schaffenden mache. Aus allen drei Dimensionen scheine das Begehren nach einer »Wiederverzauberung« der Welt zu sprechen, wenn man aus dem Terminus »Verzauberung« gleichzeitig die aktive, lebendige Präsenz des Geheiligten in der Welt heraushöre und alles, was die Einforderung einer solchen Präsenz an Magie und Zauber enthalten könne, um die Zeit des Geheiligten und die Zeitlichkeit der menschlichen Geschichte auf einandertreffen zu lassen.

Der Kern von Anselm Kiefers Werk sei das unendliche Bestreben nach Sinn. Zum Stil, zu den vom Künstler behandelten Themen und deren Behandlungsweise, schreibt der Kunsthistoriker, ihm hafte etwas Elementares, etwas Rohes an. Dazu gehört die an anderer Stelle erwähnte Verwendung von scheinbar „würdelosen” Materialien wie Asche, Stroh, Sonnenblumen, Haarsträhnen, Sand, Holz, Erde und Blei.

Es ist nicht möglich, das Werk von Anselm Kiefer sowie die Gedanken von Daniel Arasse dazu kurz zu fassen. Dazu braucht es die Lektüre der gesamten Monographie sowie die direkte Betrachtung der Arbeiten des Künstlers, von denen übrigens viele im vielschichtigen Buch abgebildet sind.

Daniel Arasse: Anselm Kiefer: Die große Monographie. Die deutsche Version, broschierte Sonderausgabe, Schirmer Mosel, 2015, 344 Seiten mit 355 Abbildungen, bestellen bei Amazon.de. Wie die erste deutsche Ausgabe (Schirmer/Mosel) erschien die französische Originalversion im Jahr 2001, und zwar bei Edition du Regard. Bestellen bei Amazon.fr.

Weitere Artikel zu Anselm Kiefer: Die Holzschnitte (2016), Gemälde (2023), die Ausstellung im Pariser Grand Palais (frz.) Anselm Kiefer — Pour Paul Celan (2022).

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Rezension / Buchkritik vom 6. Juli 2023 um 09:37 deutscher Zeit.