Monika Czernin, die Autorin von Anna Sacher und ihr Hotel und anderen Werken, hat ein neues Buch geschrieben. Diesmal zum österreichischen Kaiser Joseph II. und zum Europa der Aufklärung: Der Kaiser reist gern inkognito (gebundenes Buch + Kindle eBook). Darin beschreibt sie eine Welt im Umbruch.
Die beginnende Industrialisierung verlangt nach einer neuen Sozialstruktur. Die Aufklärung pocht auf religiöse Toleranz und ein neues Staatsverständnis. Die Armut der Unterschichten und deren Unmut über den Reichtum der Höfe führt immer öfter zu Revolten gegen die sozialen Missstände und die Leibeigenschaft. Dies sind Vorboten der Französischen Revolution, die bald die feudale Welt zum Einsturz bringen sollte.
Der Sohn von Kaiserin Maria Theresia, Joseph II., bereist Europa inkognito. Das soll ihm unverstellte Eindrücke und die grösstmögliche Volksnähe bescheren – und den Untertanen einen Politiker zum Anfassen schenken. Für die Pariser wird er auf seiner Frankreichreise 1777 dadurch zum bejubelten Gegenbild Ludwig XVI. Dass Abschottung und Verschwendungssucht ins Verderben führen, weiss Joseph, alias Graf Falkenstein, deshalb aus eigener Anschauung. Seiner Schwester Marie Antoinette liest er denn auch die Leviten: „Wenn Ihr die Revolution nicht verhütet, wird sie grausam sein“.
Die Regentschaft von Joseph II. ist laut Monika Czernin untrennbar mit seinem Einsatz zur Abschaffung der Leibeigenschaft verbunden. Auf seinen Reisen hört er Klagen über unmässigen Robot und andere Willkür. Die Bilder vom Bauernelend des 18. Jahrhunderts ziehen sich durch das Habsburgerreich wie ein roter Faden. In diesem Zusammenhang hebt die Autorin seine Reise 1771 nach Böhmen und Mähren hervor, denn dort sterben die Menschen wie Fliegen an der Hungersnot. Doch beim näheren Hinsehen sind es die Sozialstrukturen, die eine gerechte Verteilung des Getreides verhindern.
Auf dieser Reise kommt Joseph II. auch nach Hohenelbe, einer Herrschaft, die damals einem Ahnen unseren Autorin gehört: Czernin-Morzin. Dort sind die Strassen von Bettlern gesäumt. Der Kaiser sieht in Lumpen gekleidete „elende Menge Menschen, welche ganz erblasset, ermattet, und ausgezehrt, die Hände um Hülfe ausstrecken.“ Joseph lässt Geld verteilen, er gründet ein Sterbeasyl in Prag und beschafft Getreide. Doch bis zur Abschaffung der Leibeigenschaft wird es noch dauern. Die Bilder und Erfahrungen, die der Kaiser auf all seinen Reisen sammelt, bestätigen seine Überzeugung, dass es einen grundlegenden Wandel des Systems braucht: Freiheit für die Bauern und eine Grundsteuer für alle.
Seine bedeutendsten Reformen: Vereinheitlichung des Rechts, Toleranzpatent, Ende der Leibeigenschaft. Laut Monika Czernin liegt der revolutionäre Kern bei der allmählichen Umwandlung der Untertanen in Staatsbürger, in Individuen mit gleichen Rechten und Pflichten. „Auch ohne eine Revolution, wie sie die französische Gesellschaft gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Aufruhr versetzte, wandelte sich die habsburgische Gesellschaft dieser Zeit rechtlich fundamental“, schreibt daher der Historiker Pieter M. Judson in seinem vielbeachteten Werk Habsburg. Die Geschichte eines Imperiums.
Schon auf seiner ersten grossen Inspektionsreise 1768 ins Banat erlebt Joseph II. eine unfähige und korrupte Administration. Daher gehören zu seinen Reformen ebenso die Zentralisierung und Vereinheitlichung der Verwaltung sowie die Schaffung eines professionellen, effizienten Beamtenapparats. So wird die Dominanz des Adels über den öffentlichen Dienst gebrochen und der Grundstein für den Aufstieg des Bürgertums in einem modernen Staatswesen gelegt.
Die Schaffung des österreichischen Staats durch Maria Theresia und ihre Söhne – Leopold, der Joseph auf den Thron nachfolgte, gehörte zum Reform-Dreigestirn – ist laut Monika Czernin eine Revolution im Sinne der Aufklärung. So wird die Dominanz des Adels über den öffentlichen Dienst gebrochen und der Grundstein für den Aufstieg des Bürgertums in einem modernen Staatswesen gelegt.
Die Abschaffung wirtschaftlicher Barrieren im Binnenhandel der Monarchie, der Aufbau protoindustrieller Manufakturen, die Verbesserung der Landwirtschaft sowie die Kolonisation der Randgebiete der Monarchie führen zu einem enormen wirtschaftlichen Aufstieg, zu steigenden Wachstumsraten und – in manchen Gebieten – zu einer Verdoppelung der Beschäftigungszahlen.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Böhmen und Ungarn, die Befreiung der Bauern vom Frondienst und von der Bindung an die Scholle bilden die Grundlage für die Industrialisierung Österreichs im 19. Jahrhundert. Kein Herrscher vor ihm hat so viel für die Armen getan wie Joseph II.
Unter Maria Theresia und Joseph II. wird Österreich zu einem Musterland staatlicher Bildungspolitik. 1774 wird die allgemeine Unterrichtspflicht eingeführt. Wohl kaum eine Reform hat mehr zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderung beigetragen als die systematisch eingeleitete Anhebung des Bildungsniveaus breiter Bevölkerungsschichten, so Monika Czernin.
Die Autorin vergisst nicht zu erwähnen, dass Joseph II. mit seinen Reformen keinesfalls die herrschende Ordnung stürzen will. Er ist nicht nur ein Volks- und Reformkaiser, sondern gleichzeitig ein Kind seiner Zeit, ein Herrscher des 18. Jahrhunderts, in dem es vor allem auf eines ankommt: die Vergrösserung von Macht- und Einflusssphären. Zarin Katharina die Grosse ist seine wichtigste Bündnispartnerin. Vom Ende der Leibeigenschaft ist dort keine Rede.
Josephs gut gemeinten Reformen führen 1789 zum Volksaufstand in den Niederlanden und zu Aufruhr in Ungarn. Als er 1790 an Malaria und Tuberkulose stirbt, glaubt er sein Reformwerk verloren, was zu seinem vielzitierten Satz führt: Ich habe immer nur gewollt. Die Enthauptung seiner Schwester 1793 in Paris erlebt er nicht mehr.
Der Reformeifer erzeugt Gegenwind. Die Josephinische Landesaufnahme dient nicht nur militärischen Zwecken, sondern ist eine bedeutende Grundlage zur Bemessung der Grundsteuer, die vielleicht radikalste und am empfindlichsten in die Sozialstruktur der Monarchie eingreifende Maßnahme: Alle, ob Adelige oder Bauern, sollen derselben steuerlichen Bemessungsgrundlage unterzogen werden. Als im Februar 1789 die damit verbundene Steuer- und Agrarreform angekündigt wird, bestätigt das die schlimmsten Befürchtungen des Adels. Dieser fürchtete um seine Existenzgrundlage und protestiert mit aller Macht.
Josephs Nachfolger nimmt Gesetze und Verordnungen zurück, doch spätestens 1848 ist der moderne Staat, den Joseph II. vor Augen hatte, Wirklichkeit. Auch diese Geschichte erscheint nur allzu aktuell, so Monika Czernin. Sie verweist auf die soziale Scheere, die heute in vielen Ländern aufgeht. Wenn Ungleichheit und Unzufriedenheit zunehmen, radikalisieren sich die Ränder. Das ahnt bereits Joseph II.
Josephs britischer Biograf Derek Beales hat nachgezählt: 50 000 Kilometer legte der Monarch auf seinen Reisen durch Europa zurück. Friedrich der Grosse und der russische Zar Peter der Grosse seien ebenfalls Reisende gewesen. „Aber kein einziger Herrscher reiste nach einem solchen Programm, und keiner hat ihn seither nachgeahmt“, so Beales.
Dies und noch viel mehr ist dem Buch Der Kaiser reist inkognito. Joseph II. und das Europa der Aufklärung (Gebundenes Buch, Kindle eBook) zu entnehmen, in dem Monika Czernin neun der über vierzig Reisen des Kaisers beschreibt.
Monika Czernin: Der Kaiser reist inkognito. Joseph II. und das Europa der Aufklärung. Penguin Verlag, 12. März 2021, 384 Seiten. Bestellen als Gebundenes Buch und/oder als Kindle eBook.
Siehe zu Joseph II. ebenfalls die englische Biografie in zwei Bänden von Derek Beales:
Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Buchrezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Rezension / Buchkritik vom 9. März 2021 um 12:31 österreichischer Zeit.