Margit Reiter (*1963), Dozentin für Zeitgeschichte an der Universität Wien, hat im September 2019 mit ihrem Buch Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ (Amazon.de) ihre Sicht der Beziehung zwischen Nazis bzw. braunem Sumpf und den Freiheitlichen in Österreich vorgelegt.
Ihre Studie zu den personellen und ideologischen NS-Kontinuitäten in der 1956 gegründeten FPÖ fiel bedeutend kritischer aus als jene, welche die FPÖ selbst in Auftrag gegeben und deren 666-seitiger Bericht am 23. Dezember 2019 veröffentlicht wurde (online auf der FPÖ-Webseite einsehbar bzw. herunterladbar). Kein namhafter Historiker war bereit, die freiheitliche Aufarbeitung der Parteigeschichte öffentlich abzunicken.
Margit Reiter blieb für ihr Buch der Zugang zu den Parteiarchiven des Verbands der Unabhängigen (VdU), dem ab 1949 im Parlament präsenten Sammel- und Auffangbecken für ehemalis Nazis, sowie der daraus 1956 hervorgegangen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) verwehrt, doch stützt sie sich auf eine breite Basis von Quellen und schreibt, diese hätten ihr eine lückenlose Rekonstruktion der politischen Organisation der „Ehemaligen“ – so der Name für die vormaligen Nazis – in der FPÖ ermöglicht. Als wahrer Glücksfund habe sich der bis dahin noch unbearbeitete Nachlas von Anton Reinthaller erwiesen.
Viele Ehemalige verstanden sich als „Entrechtete“. So kam der kurz davor gegründete VdU bei den österreichischen Nationalratswahlen 1949 auf immerhin 16 von insgesamt 165 Abgeordneten; Margit Reiter erwähnt die Zahl 16 ohne die Gesamtzahl von 165 Parlamentariern bzw. den Wähleranteil von 11,67% zu erwähnen, weshalb der uniformierte Leser das Resultat nicht einschätzen kann.
Laut der Autorin gehörte in den folgenden Jahren der Kampf gegen die Entnazifierung zur Hauptagenda des VdU. Zu Beginn der 1950er Jahre habe sich bereits ein Paradigmenwechsel vollzogen. Der antifaschistische Geist der unmitttelbaren Nachkriegszeit sei bereits verflogen, die NS-Frage in den Hintergrund gerückt und die Entnazifizierung weitgehend abgeschlossen gewesen, weshalb der Verband der Unabhängigen eines seiner Kernthemen verloren habe. Deshalb sei es zu internen Krisen und Konflikten gekommen, die zu einer sukzessiven Erosion des VdU führten.
Die bis dahin noch nicht politische aktiven „Ehemaligen“ bzw. Belasteten waren entnazifiert und traten zunehmend selbstbewusst auf. Nationale Kreise unter der Führung von Anton Reinthaller opponierten gegen die als zu „liberal“ erachtete VdU-Führung und gingen letztlich als Sieger vom Platz. Durch den Staatsvertrag von 1955 und den Abzug der Alliierten fiel die Kontrolle von aussen weg. Einer vollständigen Rehabilitierung der ehemaligen Nationalsozialisten sei nichts mehr im Wege gestanden. In jener Zeit vollzog sich die Gründung der FPÖ.
Margit Reiter legt in der Folge in Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ dar, wie die FPÖ aus dem VdU entstand. Sie untersucht die Frage, wie sich die ehemaligen Nationalsozialisten reorganisierten, welche politischen Akteure daran beteiligt waren, wer im VdU bzw. in der FPÖ Platz hatte, wovon und von wem man sich in diesen Parteien abgrenzte, welche ideologischen Inhalte sie vertraten, welche personellen und ideologischen Kontinuitäten festgemacht werden können. Die Autorin untersucht das Verhältnis von VdU und FPÖ zum Nationalsozialismus und die damit einhergehenden Fragen von Abgrenzung und Zuordnung, von Inklusion und Exklusion.
Dabei geht sie auf einige führende Personen wie die VdU-Gründer Herbert Kraus und Viktor Reimann ein, die als Vorkämpfer für die „Entrechteten“ hervortraten. Die zwei galten als NS-Gegner und als „liberal“, was sie laut Margit Reiter allerdings nur bedingt waren. Der zentrale politische Akteur im „Ehemaligen“-Milieu sei allerdings Anton Reinthaller gewesen, der Gründer und erste Obmann der FPÖ. Mit seiner mustergültigen NS-Karriere vom illegalen Nationalsozialisten zum NS-Minister und Landesbauernführer verkörpere er eine bisher in der Forschung wenig beachteten, „spezifisch österreichischen“ Tätertypus, den Margit Reiter nach eigener Aussage im vorliegenden Buch erstmals eingehend vorstelle. Auf ihn folgte 1958 der junge Friedrich Peter, ein ehemaliges Mitglied der SS, dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus und zu den „Ehemaligen“ ebenfalls problematisch gewesen sei.
Margit Reiter verweist auf die Verbindungen von VdU und FPÖ zu weiteren Akteuren aus dem nationalen Lager, darunter rechte Vereine, Veteranenverbände, deutschnationale Burschenschaften. Diese Kontakte, Netzwerke und personellen und ideologischen Verflechtungen bestünden im Grunde bis heute. Daher sei die Geschichte von VdU und FPÖ nicht isoliert zu betrachten. Sie müsse in das „Ehemaligen“Milieu eingebunden werden, das sie nach eigener Aussage im vorliegenden Buch erstmals näher vorstelle.
Laut Margit Reiter lässt sich das Bild vom „liberalen“ VdU im Gegensatz zur „nationalen“ FPÖ nicht aufrechterhalten. Sie widerspricht zudem der insbesondere von der FPÖ heute verbreiteten Sicht, alle österreichischen Parteien hätten gleichermassen ehemalige Nazis aufgenommen und die FPÖ sei somit kein Sonderfall gewesen. Dabei konzediert sie allerdings, dass die Grossparteien ebenfalls einen kritischen Blick auf ihre Nachkriegsgeschichte verdienten. Allerdings seien SPÖ und ÖVP grosse, historische gewachsene Parteien mit einem klaren politischen Profil und einer traditionellen Wählerstruktur, in denen nach 1945 auch Nazis Platz gefunden hätten.
Nebenbei angemerkt: Pflichtlektüre bei der Aufarbeitung der österreichischen Geschichte ist zudem Bruno Kreisky. Die Biografie (Hardcover und Taschenbuch), verfasst von Wolfgang Petritsch, dem langjährigen, engen Mitarbeiter des sozialdemokratischen Kanzlers. Was Kreisky so alles bezüglich der österreichischen 1930er Jahre, der Nazi-Zeit und der Aufarbeitung jener Jahre von sich gegeben hat, verdiente ebenfalls einer Aufarbeitung im Detail.
Neben der erstmaligen Aufarbeitung des Nachlasses von Anton Reinthaller stützt sich Margit Reiter auf weitere zeitgenössische Nachlässe von politischen Akteuren, auf zeitgenössische Zeitungen aus dem Umfeld von VdU und FPÖ, Mitteilungsblätter von nationalen Vereinen, autobiographische Selbstzeugnisse „Ehemaliger“, Erinnerungen von NS-Nachkommen, Redebeiträge von VdU- und FPÖ-Politikern im Parlament, Parteiprogramme und die Parteipresse.
In der aktuellen Diskussion um die skandalträchtige FPÖ und ihre vielen „Einzelfälle“, ihre Regierungs- und Reformfähigkeit sowie die FPÖ-Aufarbeitung der eigenen Geschichte bietet das Buch von Margit Reiter eine wichtige Einschätzung, ein Gegengewicht zur umstrittenen FPÖ-Studie von Ende 2019.
Margit Reiter: Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ. Wallstein Verlag, Göttingen, September 2019, 392 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Siehe auch unsere Rezensionen der Bücher Kurz & Kickl sowie Unter Beobachtung.
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt. Rezension vom 1. Februar 2020 um 13:34 österreichischer Zeit.