Der neue ukrainische Präsident Selenskyj – nach der Wahl ist vor der Wahl

Apr 23, 2019 at 15:40 1204

Der neue ukrainische Präsident Selenskyj (Zelensky) hat zwar den Amtsinhaber Poroschenko im Verhältnis von 3:1 klar aus dem Feld geschlagen (englischer Artikel), doch nach der Wahl ist vor der Wahl. Ende 2019 stehen die Parlamentswahlen an, und die werden wesentlich mitenscheiden, was Selenskyj umsetzen kann. Noch verfügt in der Werchowna Rada die Koalition des abgewählten Petro Poroschenko über eine Mehrheit. Der Abgewählte gratulierte zwar dem 41jährigen Politikneuling Wolodymyr Selenskyj direkt nach der Wahl, um sogleich anzufügten: „Der neue Präsident wird eine starke Opposition haben, eine sehr starke.“

Eine von Selenskyjs dringlichsten Aufgaben wird darin bestehen, wie Macron einst in Frankreich, bei der Parlamentswahl eine Bestätigung für den Wechsel zu erhalten. Ohne Mehrheit wird sich die Ukraine kaum reformieren lassen.

Der Schreibende hat am 28. März 2019, dem Freitag vor der ersten Präsidentschaftswahlrunde, vor dem Opernhaus in Lemberg (Lviv) einen sehr müden Poroschenko zu seinen Wählern reden hören – nur in dieser Region konnte er Selenskyj in der Stichwahl schlagen. Rhetorisch war er stark, gegen Ende wurde er sogar emotional. Die Zuhörer klatschten nicht begeistert. Es war keine Jubelveranstaltung. Die potentiellen Wähler waren sehr ruhig, aufmerksam, nachdenklich, zum Teil bedrückt. Zuletzt sang dann das Publikum, angestimmt von einem Sänger, die Nationalhymne mit.

Dass die Ukraine anders als Russland eine lebendige Demokratie mit einer ebenso lebendigen Zivilgesellschaft, einer bunten – wenn auch zumeist von Oligarchen wie Poroschenko selbst kontrollierten – TV- und Zeitungslandschaft ist, sah man daran, dass etwa 200 Meteer von Poroschenko entfernt Menschen gegen den Präsidenten protestieren durften. Nebenbei bemerkt sprach dort, in etwa beim  Taras-Schewtschenko-Denkmal, zwei Tage zuvor eine gewisse Julia Timoschenko zu den Lembergern. Sie schaffte es an dritter Stelle liegend nicht in die Stichwahl.

Wolodymyr Selenskyj zeigte sich meines Wissens nach in der Stadt nicht. Das war wie grosse Wahlwerbung nicht nötig. Sein Foto sah man dennoch überall, so an Bushaltestellen, nämlich als Poster mit Werbung für die neu-anlaufende Staffel seiner populären Fernsehshow Diener des Volkes, in der er einen einfachen, ehrlichen Geschichtslehrer spielt, der zum Präsidenten aufsteigt.

Die Ukrainer haben sehr wohl verstanden, das sie nicht den Geschichtslehrer und Fernsehpräsidenten, sondern den Schauspieler und erfolgreichen Medienunternehmer Selenskyj gewählt haben, der mit dem dubiosen Oligarchen Ihor Kolomoyskyi verbunden ist. Dieser Milliardär hat nicht nur die PrivatBank gegründet, sondern besitzt die Mehrheit der 1+1 Media Group, deren TV-Sender 1+1 Selenskyjs Serie Diener des Volkes ausstrahlt. Ist Selenskyj nur ein Strohmann für Kolomoyskyi wie dies Poroschenko und seine Leute behaupten? Dafür gibt es keinen Beweis. Doch dass da eine engere Verbindung als nach aussen sichtbar besteht, kann nicht ausgeschlossen werden. Dass Selenskyj wie von Poroschenko behauptet ein Mann Putins sei, ist hingegen offensichtlicher Unsinn und verfing beim Wähler nicht.

Poroschenko hatte bei seinem Kampf gegen das unbeschriebene Blatt Selenskyj einige Probleme. Es ist nicht sehr glaubwürdig, dem Gegner Nähe zum Oligarchen Ihor Kolomoyskyi vorzuwerfen, wenn man selber ein Oligarch ist, der wie einst Berlusconi in Italien allerlei Interessenkonflikte mit sich herumschleppt. Poroschenko besitzt nicht nur das führende Schokoladenimperium der Ukraine, sondern auch ein Medienunternehmen und viele andere Firmen, von denen er sich nicht – wie bei seiner Wahl zum Präsidenten versprochen – getrennt hat.

Poroschenko hat die in ihn gesetzten Erwartungen allgemein nicht erfüllt. Zwar setzte er eine neue Antikorruptionsbehörde ein, doch wenn diese Leuten der Regierung und deren Freunden zu nahe kam, war es mehr als einmal plötzlich vorbei mit dem unabhängigen Kampf gegen die Korruption. Aus Protest dagegen kam es mehrfach zu prominenten Rücktritten aus der Antikorruptionsbehörde.

In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung schrieb Florian Hasssel im August 2018 davon, dass in der Ukraine beim Zoll allein dem Staat jährlich bis zu 4,8 Milliarden Dollar verloren gingen, und dies in einem Land, in dem die Masse mausarm ist. Die „einfachen“ Leute verdienen zumeist nicht mehr als 200 Euro pro Monat. Sie fahren Bus und Tram für 5 UAH (ca. 0.17 Euro), während dem die Reichen mit SUVs und Limousinen (öfters mit Chauffeur) durch die Landschaft kurven. Korruption und Steuerflucht sind endemisch. Nicht nur da hat Poroschenko versagt. Die Justiz wurde nicht reformiert, das Land kommt wirtschaftlich fast nicht vom Fleck, im Kampf gegen die Separatisten und Russland war und ist der Präsident machtlos.

Da sind wir bei den Freunden aus dem Westen, denen im „Kampf“ gegen die russische Aggression die dümmste und feigste Antwort einfiel: Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die natürlich die Ukraine, die mit Russland Handel treibt, weil sie dort noch halbwegs konkurrenzfähig ist und dies der direkte Nachbar ist, hart getroffen wurde.

Zurück zu Bus und Tram: In Lemberg und Odessa kostete die Fahrt noch vor 1-2 Jahren 3 UAH, nun sind es 5 UAH. Für die Oligarchen und westliche Touristen mag das nichts sein, doch für die Mehrheit mit kleinen Einkommen und Rentner ist eine Preiserhöhung um 66% durchaus relevant.

Hinzu kommen noch Probleme, von denen fast keiner redet: AIDS/HIV, Hepatitis und sogar Tuberkulose. In der Ukraine sollen rund 0,9% der sexuell aktiven Bevölkerung von AIDS/HIV betroffen sein (in Russland übrigens 1%). In Odessa soll die Zahl bei um die 15% liegen! Ein deutscher Historiker lieferte mir dafür eine plausible Erklärung. Die Hafenstadt Odessa sei in der Sowjetunion der einzige Ort gewesen, an dem die Prostitution legal gewesen sei. Se non è vero, è ben trovato. Wie in Russland dachte die Obrigkeit in der Ukraine bis vor kurzem, das Problem ginge sie nichts an, beträfe ohnehin nur Homosexuelle und Drogenabhängige. Doch heute betreffen die Neuansteckungen rund zur Hälfte Heterosexuelle. Das Problem breitet sich weiter aus. Einige Junge, die ich darauf ansprach, waren sich der Lage bewusst. Kein Sex ohne vorherigen AIDS-Test! Andere meinten, sie seien nicht krank, nicht verstehend, dass man jahrelang den Virus tragen und weiterverbreiten kann, ohne an Krankheiten zu leiden. AIDS-Medikamente kann sich in der mausarmen Ukraine der Normalbürger nicht leisten. Die Epidemie dürfte nicht nur menschliche Tragödien verursachen, sondern bald sogar wirtschaftlich relevant werden.

Und in dieser Situation soll nun der neue ukrainische Präsident Selenskyj für Ordnung sorgen? Die Protestwahl gegen Poroschenko ist verständlich. Drei Jahrzehnte der Inkompetenz, Korruption und Misswirtschaft sind genug. Ein Wandel ist nötig. Ob der neue Mann dafür geeignet ist, wird sich bald weisen. Zudem ist klar, dass die politische Elite weitgehend Probleme wiederspiegelt, welche die Gesellschaft insgesamt betreffen. Ein tiefgreifender Wandel fängt bei der Erziehung an.

Zum Verständnis der Ukraine zu lesen: Anne Applebaum Roter Hunger. Stalings Krieg gegen die Ukraine. Unsere Rezension lesen. Das Buch bei Amazon bestellen.

Unsere englische Geschichte von Lviv/Lemberg. Unser englischer Artikel Lviv sightseeing.