Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart

Jan 03, 2017 at 17:33 520

Die Ausstellung Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin Unter den Linden 2 dauert noch bis am 14. Mai 2017. Es sind über 500 Exponate aus Sammlungen und Archiven zu sehen, die nach Schwerpunkten und Schlaglichtern geordnet sind. Bis ins Museum habe ich es leider noch nicht geschafft. Immerhin reichte es zur Lektüre des dazugehörigen Buches.

Die Präsidentin ad interim der Stiftung Deutsches Historischen Museum, Ulrike Kretzschmar, betont in ihrem Vorwort, dass der deutsche Kolonialismus in deutschen Museen bisher kaum thematisiert wurde. Das DHM hat sich immerhin bereits 1998 mit der Ausstellung Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China sowie 2004-05 mit Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte dem Thema gewidmet.

Der Katalog zur Ausstellung Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart offeriert auf 334 Seiten ein breites Panorama. Sechzehn Essays widmen dem deutschen Kolonialismus im Kontext sowie postkolonialen Perspektiven. Der Ausstellungsteil des Buches widmet sich dem deutschen Kolonialismus im globalen Kontext, kolonialen Weltbildern und kolonialer Herrschaft, Aushandlungen im kolonialen Alltag, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen im kolonialen Verhältnis, kolonialen Sammlungen und dem kolonialen Blick, dem Kolonialismus ohne Kolonien von 1919 bis 1946, der Dekolonisierung und der geteilten Gegenwart sowie der Frage postkoloniale Gegenwart?

Deutschland kam erst spät zu Kolonien. Erst mit dem 1871 entstandenen Kaiserreich stellte sich in Deutschland die Frage nach dem Erwerb von Kolonien, die von verschiedenen Interessenkreisen positiv beantwortet wurde und ab 1884 zur Etablierung deutscher Kolonien in Afrika, im Pazifik und in China führte. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg beendete das Abenteuer bereits wieder. „Der Friedensvertrag von Versailles erkannte dem Deutschen Reich 1919 alle Kolonien ab und erklärte sie zu Mandatsgebieten des Völkerbundes“, hält Ulrike Kretzschmar fest.

Im Ausstellungskapitel Koloniale Weltbilder und koloniale Herrschaft finden sich leider nur wenige Angaben zum Genozid an den Herero und Nama, in den die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia von 1904 bis 1908 mündete. Im heutigen Tansania wurden ganze Landstriche entvölkert. Dabei kam es in Deutschland zu Kritik an der Kolonialpolitik, so im Parlament durch Oppositionspolitiker, wobei laut den Autoren die grundsätzliche Ungleichbehandlung der Kolonisierten allerdings nicht in Frage gestellt wurde.

Im Essay Von der Ohrfeige bis zum Völkermord von Marie Muschalek finden sich einige Angaben auf den Seiten 42 bis 49. Von einer tiefgreifenden Analyse des Themas kann keine Rede sein. Immerhin ist zu lesen, die Deutschen hätten damals behauptet, Gegnern gegenüber zu stehen, die die Regeln westlicher Kriegsführung nicht kennten und nicht beachteten, deren Art zu kämpfen unehrenhaft und unmenschlich sei. Dies diente der Legitimierung der eigenen Brutalität. Die deutsche „Schutztruppe“ tötete in ihren als „Rassenkampf“ verstandenen Vernichtungsfeldzügen nicht nur Kämpfer, sondern zudem einen Grossteil der Zivilbevölkerung. Marie Muschalek schreibt, dass in Deutsch-Südwestafrika zirka 75,000 bis 100,000 Menschen (50%-80% der zwei grössten Bevölkerungsgruppen) und in Deutsch-Ostafrika rund 300,000 Menschen getötet wurden. Die Autorin beschreibt zudem die strukturelle und alltägliche Gewalt sowie den tiefgreifenden Rassismus, der allen Kolonien der Europäer gemein war.

Jürgen Zimmerer geht in seinem Essay Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts auf den Seiten 138 bis 1945 auf den zwischen 1904 und 1908 verübten Genozid ein. Auslöser sei der Widerstand zuerst der Herero und dann der Nama gegen ihre fortschreitende Enteignung und Entrechtung seit 1884 gewesen, ihr Widerstand gegen Betrug und körperliche und schliesslich auch sexuelle Übergriffe deutscher Soldaten, Händler und Siedler im Zuge der kolonialen Besetzung des heutigen Namibia. Den Grossteil seines Artikels widmet der Autor allerdings der Aufarbeitung des Genozids von damals bis heute.

Die drei bisherigen Ausstellungen im DHM zum deutschen Kolonialismus sind zwar verdienstvoll, doch viel bleibt noch aufzuarbeiten. Das gilt nicht nur für die Deutschen, sondern auch für Franzosen, Engländer, Italiener, Belgier und andere.

Deutsches Historisches Museum: Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Gebundene Ausgabe, Theiss Verlag, 2016, 334 Seiten mit zirka 220 Abbildungen. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Rezension vom 3. Januar 2017 um 17:03. Ergänzt um 17:14. Buchkritik/Rezension hinzugefügt zu unseren neuen WordPress-Seiten am 12.7.2021.

Hinzugefügt am 6. Januar 2017 um 17:26: Vertreter der Herero und Nama haben am 5. Januar 2016 in New York eine Sammelklage mit der Forderung nach Entschädigungen für die während der deutschen Kolonialherrschaft vor rund hundert Jahren begangenen Verbrechen an ihren Völkern eingereicht. Die Bundesregierung selbst hatte im Juli 2016 den Massenmord an den Herero und Nama als Völkermord eingestuft, allerdings rechtliche Folgen dieser Einschätzung (naiv?) ausgeschlossen.

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