Die Ausstellung Paris Magnétique 1905-1940 im Jüdischen Museum Berlin

Feb 06, 2023 at 17:53 636

In Zusammenarbeit mit dem Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in Paris (mahJ) zeigt das Jüdische Museum Berlin vom 25. Januar bis am 1. Mai 2023 die Ausstellung Paris Magnétique 1905-1940, die im Jahr 2021 weitgehend identisch unter dem Titel Chagall, Modigliani, Soutine… Paris pour école, 1905-1940 im mahJ zu sehen war. Der Katalog (Amazon.de) ist eine Übersetzung der französischen Originalausgabe.

Der Begriff Pariser Schule (École de Paris), der im Titel der französischen Ausstellung vorkommt, bezeichnet weder eine Kunstschule noch einen stilistischen Rahmen. In französischen Auktionshäusern werden Bilder von Malerinnen und Malern aus dem Ausland, die in den ersten vierzig Jahren des 20. Jahrhunderts in der französischen Hauptstadt tätig waren, als Ecole de Paris bezeichnet – ausgenommen die Werke der weltbekannten Künstler Marc Chagall, Amedeo Modigliani und Chaïm Soutine.

Laut dem Direktor des mahJ, Paul Salmona, war die Bezeichnung Ecole de Paris daher lange eher abwertend. Damit wurden Künstlerinnen und Künstler der Zwischenkriegszeit kategorisiert, die sich angeblich nicht der Avantgarde zuordnen liessen. Dies bedeutete eine Umkehrung der Intention des Begriffs, der 1925 vom Kunstkritiker André Warnod geprägt wurde zur Verteidigung jener ausländischer Künstler, die im Salon des Indépendants, der Vereinigung unabhängiger Künstler mit ihrem Präsidenten Paul Signac, an den Rand gedrängt wurden.

Die Ausländer waren laut Paul Salmona alle getrieben von ein und demselben Wunsch nach politischer, sozialer und kultureller Emanzipation. Sie waren fasziniert von Frankreich, das im Jahr 1791 als erstes Land in Europa Juden zu gleichberechtigten Bürgern erklärte. André Warnod verteidigte die kosmopolitische Kunst­szene, die sich gegen nationalistische und fremdenfeindliche Stimmen behaupten musste. Ihre Mitglieder kamen aus dem ehemaligen Russischen Reich – aus Polen, der Ukraine oder Belarus -, aber auch aus Deutschland und Italien, um in Paris ein neues, freies Umfeld für ihr Schaffen zu finden. Manche teilten Ideale, vor allem aber wollten sie laut Paul Salmona den schlechten Lebens­bedingungen, der Marginalisierung und Diskriminierung bis hin zu Pogromen in ihren Herkunfts­ländern entrinnen.

Diese Pariser Schule umfasst die Grossen wie die Unbedeutenden, die Berühmten wie die Unbekannten. In Wirklichkeit gehörten diese Künstler keiner »Schule« an, sondern waren durch eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Ideal – und manche von ihnen durch ein tragisches Schicksal – verbunden. Die Jüdinnen und Juden unter ihnen hatten laut Paul Salmona einen entscheidenden Anteil an der künstlerischen Blüte jener Jahre; aber sie waren 1940 auch die Ersten, die von den diskriminierenden Massnahmen des Vichy-Regimes betroffen waren und Opfer der Shoa wurden. Deshalb endeten viele Mitglieder der Pariser Schule im Untergrund, im Exil und im Tod. Viele wurden enteignet, ihre Werke wurden geraubt oder vernichtet.

Trotz der ungeheuren Dynamik der Années folles, der wilden Zwanzigerjahre, die Ernest Hemingway zu seinem Buch A Moveable Feast bzw. Paris – ein Fest fürs Leben (Amazon.de) inspirierten, waren ausländische Künstler in Paris keinesfalls immer willkommen. Paul Salmona führt im Katalog (Amazon.de) aus, dass die renommierte Zeitschrift Mercure de France 1925 unter der Leitung von Paul Léautaud die Frage der Existenz einer »jüdischen Kunst« diskutiert und dieser jegliche Legitimation  abgesprochen hatte – unter Rückgriff auf die übelsten antisemitischen Klischees, die damals nicht nur in der Öffentlichkeit und quer durch die gesamte Gesellschaft salonfähig waren, sondern seit der Dreyfus-Affäre (siehe dazu das Buch von George R. White; Amazon.de) sogar in der Nationalversammlung unverblümt zum Ausdruck gebracht wurden. Es gäbe keine Tradition grosser jüdischer Kunst, hinter allem stehe die „jüdische Profitgier“, so lautete das antisemitische Fazit im Mercure de France.

Ausstellung und Katalog heben das breite Spektrum der Strömungen der École de Paris hervor, führen die Vielfältigkeit der Quellen und die Reichhaltigkeit der Kunstproduktion in der magnetischen, kosmopolitischen Hauptstadt Frankreichs vor Augen: Paris Magnétique. Sie konzentrieren sich auf die jüdischen Mitglieder der Pariser Schule und ordnen dieser wieder die Stars Marc Chagall, Amedeo Modigliani und Chaïm Soutine zu.

Die Ausstellung wurde von Pascale Samuel, Kuratorin der Sammlung Moderne und zeitgenössische Kunst des mahJ – musée d’art et d’histoire du Judaïsme, und von Shelley Harten, Ausstellungskuratorin für moderne und zeitgenösische Kunst des Jüdischen Museums Berlin, konzipiert.

In der Berliner Ausstellung im Jüdischen Museum gibt es insgesamt über 120 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen von 43 teils weltbekannten, teils so gut wie unbekannten Künstlern und Künstlerinnen zu entdecken. Hier die gesamte, alphabetisch geordnete Liste: Lou Albert-Lasard, Vladimir Baranoff-Rossiné, Walter Bondy, Marianne Breslauer, Marc Chagall, Béla Czóbel, Sonia Delaunay, Isaac Dobrinsky, Henri Epstein, Adolphe Feder, Léopold Gottlieb, Samuel Granowsky, Alice Halicka, Henri Hayden, Philippe Hosiasson, Léon Indenbaum, Georges Kars, André Kertész, Michel Kikoïne, Moïse Kisling, Pinchus Krémègne, Ergy Landau, Rudolf Levy, Jacques Lipchitz, Morice Lipsi, Jacob Macznik, Mané-Katz, Louis Marcoussis, Marevna, Amedeo Modigliani, Simon Mondzain, Mela Muter, Chana Orloff, Jules Pascin, Alfred Reth, Issachar Ryback, Marcel Slodki, Chaïm Soutine, Marek Szwarc, Oser Warszawski, Léon Weissberg, Ossip Zadkine, Eugène Zak.

Im Katalog sind kurze Texte folgenden Themen gewidmet: Paris als Schule, Destination Paris, Avantgarde (Fauvismus, Kubismus, etc.), das Künstlerhaus La Ruche, der Künstlerkreis von Montparnasse, der Erste Weltkrieg, les Années folles – die wilden Zwanzigerjahre, Les Cosmopolites, die sich fortlaufend gegenseitig portraitierten (nebenbei: der amerikanische Sammler und Philanthrop Albert C. Barnes erwarb auf Betreiben des Kunsthändlers Paul Guillaume ab 1923 rund 50 Bilder Soutines sowie Werke weiterer Künstlerinnen und Künstler, die in Montparnasse arbeiteten, was den internationalen Erfolg der École de Paris unterstrich), der Streit um den Salon des Indépendants, die jüdische Renaissance, das Schicksalsjahr 1940. Ebenfalls zu erwähnen sind die Kurzbiografien der 43 in der Ausstellung mit Werken vertretenen Künstler.

Die Zeittafel gegen Ende des Katalogs beginnt übrigens im Jahr 1900 mit der Ankunft von Eugène Zak in Paris, dem Besuch von Pablo Picasso der Weltausstellung in der französischen Hauptstadt und der dortigen Gründung der Académie La Palette im Stadtviertel Montparnasse. Sie endet mit den Ereignissen im Jahr 1940 und der Aufzählung der Namen der zehn in der Ausstellung repräsentierten Künstler, die deportiert und in Konzentrationslagern umgebracht wurden.

Paris Magnétique 1905 – 1940. Der Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin ist am 23. Januar 2023 im Wienand Verlag erschienen. Softcover, deutsch, 280 Seiten mit 131 farbigen und 74 s/w Abbildungen, 21,6 cm x 16,2 cm. Den Katalog bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik / Ausstellungskritik sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Buchrezension vom 6. Februar 2023 um 17:53 Berliner Zeit. Zuletzt Details hinzugefügt um 21:28.