Er hat immer, immer stundenlang zugehört. Warum Remo H. Largos Tod so viele Menschen berührt

Nov 15, 2020 at 23:54 1627

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, in den Zeitungen, Rundfunksendungen, den Social-media-Kanälen – und mit ihr die Bestürzung und Trauer über den Tod von Remo H. Largo. Der berühmte Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher ist in der Nacht vom 11. auf den 12. November gestorben. Ein wirklicher Schock. Ein ganz persönlicher Schock, nicht nur für mich. Seither erscheinen Nachrufe, Würdigungen, Zusammenfassungen seines Lebens und Wirkens, seiner Werke und seines gesellschaftspolitischen Engagements. Doch woher kommt diese durch das Land hallende Betroffenheit, dieser emotionale Ruck, dieser kollektive Schmerz so vieler?

Ich habe Remo Largo vor 20 Jahren kennengelernt, als ich ihn um ein Vorwort für mein erstes Buch (Jeder Augenblick ein Staunen) bat. Meine dreijährige Tochter, die Protagonistin des Buches und meiner mütterlichen Aufmerksamkeit desavouierte mein sorgfältig geplantes Telefonat mit dem Professor durch ihr Geschrei, also übergab ich ihr kurzerhand das Telefon, damit sie – perplex verstummt – meine Bitte vorträgt. Der süß klingende Satz und wohl auch das Buch überzeugten den damals bereits erfolgreichen Bestsellerautor. Es folgten gemeinsame Vorträge über die Entwicklung der Babys, dann zwei gemeinsame Bücher (Glückliche Scheidungskinder und Jugendjahre) und – wie soll ich es nennen – eine 20 Jahre andauernde Lebensbegleitung. Hier ein Ratschlag, dort eine Hilfestellung und all das mitnichten nur bei der Kindererziehung. Und dabei erstreckte sich diese Hilfe auch noch auf mein gesamtes Umfeld. Meistens begann es mit meinem Anruf, „Remo, eine Freundin von mir ist verzweifelt, ihr Sohn nachtwandelt. Oder, ein Witwer mit kleinen Kindern braucht deinen Rat. Oder, diese Eltern wollen wissen, wie sie am besten mit ihrer kleinen behinderten Tochter umgehen sollen. Immer nahm er die Telefonnummern entgegen und führte Gespräche mit all den Menschen, die ich ihm ans Herz legte. Ich selbst machte mir vorerst kaum bewusst, dass ich nicht die Einzige war, die ihm besorgte Menschen mit ihren Fragen sandte. Bis ich einen Dokumentarfilm („Remo Largo: Ein Leben für unsere Kinder“) über ihn drehte. Das Telefon klingelte oft und unterbrach unsere Arbeit, bald filmten wir die Szenen mit, weil wir ja da waren, um Remos Leben in all seiner Vielfalt zu beobachten. Seine Frau Brigitt brachte es auf den Punkt: „Er hat immer jedes Telefon abgenommen. Es waren Leute, die Sorgen hatten mit ihrer Beziehung, den Kindern und er hat immer, immer stundenlang zugehört.“

Ich weiß zwar nicht, wie viele derartige Telefonate er geführt hat (viele Tausende werden es wohl gewesen sein), aber ich weiß zweierlei: Erstens wie liebe- und verständnisvoll, Nähe und Vertrauen stiftend diese Gespräche waren und zweitens, wie zielgenau seine Ratschläge wirkten. Das habe ich wiederholt am eigenen Leib erfahren. Eine kurze Schilderung der Situation und dann eine glasklare und umsetzbare Antwort. Psychologen und Therapeuten würden vor Neid erblassen. Antworten nämlich, die, so simpel sie oftmals daher kamen, nachhaltig wirkten, meist jahrelang und oft richtungsweisend, ja richtungsverändernd. Wie ihm das gelang? Indem er entspannt reagierte?, wie ich oft gefragt wurde? Die Eltern zu mehr Gelassenheit im Umgang mit ihren Kindern ermutigte? Beides greift zu kurz. Es war sein profundes Wissen über Kinder (und ebenso über uns Erwachsene, wie er in seinem Hauptwerk „Das passende Leben“ bewiesen hat) das seinem Rat Tiefe verlieh, und so war beispielsweise der Satz „Kinder zu lieben bedeutet, sie so sein zu lassen, wie sie sind“ nicht einfach Kuschelpädagogik, sondern er fußte in Largos langjährigen, sensibel geschulten Beobachtungen des kindlichen Verhaltens. In den von ihm seit den späten 1970er Jahren betreuten Longitudinalstudien am Zürcher Kinderspital, den längsten und umfassendsten Studien zur Entwicklung von Kindern in Europa und in seiner Arbeit an der von ihm gegründeten Poliklinik für entwicklungs- und verhaltensauffällige Kinder. Er konnte, das habe ich mehrmals erlebt, ein Kind, eine familiäre Situation in nur wenigen Augenblicken lesen. Aber da war noch etwas mindestens ebenso Wichtiges: sein weit über den Beruf hinausreichendes, unermüdlich einfühlsames Interesse an uns (Menschen)kindern. In meinem Dokumentarfilm hat er es so ausgedrückt: „Wenn mich das Thema der kindlichen Entwicklung, generell das Wesen des Menschen so beschäftigt, dann ist das überhaupt kein Vorsatz. Ich bin im Grunde getrieben, ich kann nicht anders. Das war schon als Kind so und ich nehme an, ich werde das so lange weitermachen bis ich nicht mehr kann.“

Ich bin oft mit ihm spazieren gegangen, jede Situation, an der wir vorbei kamen, hat ihn interessiert. Kinder auf dem Spielplatz, eine Mutter, die ihr Fünfjähriges zu bändigen versuchte, die Wohnsiedlungen und welche Lebens- und Familienform sie vorgeben, der Wald und die Natur als uns seit Jahrtausenden vertrautes Lebensumfeld, ja sogar das Verhalten der Pferde auf einer Weide und die Eigenschaften des Schachtelhalms (dem Dinosaurier unter den Pflanzen) neben einem Bachlauf. Er fotografierte leidenschaftlich gern und sein Interesse für Literatur, insbesondere die russische Literatur, überstieg jedes übliche Maß. Zuletzt hatte er sich noch einmal den „Idiot“ von Dostojewski vorgenommen – als vielstündiges Hörbuch. Für sein Buch „Das passende Leben“ las er sich über viele Jahre durch alle möglichen wissenschaftlichen Disziplinen, von der Anthropologie bis zur Wirtschaftsgeschichte, von der Genetik bis zur Stadtplanung. Erst kurz vor seinem Tod entledigte er sich der vielen Papierstapel – Studien, Zeitungsartikel, Schriften aller Art – die sein Haus zum intellektuellen Patchwork machten, und damit wohl auch seinem nicht nachlassendem Anspruch allem gerecht werden zu müssen.

Alles löste etwas in ihm aus, fügte sich wie ein Puzzlestein in sein Denken, stellte eine Frage oder ergab eine Antwort für sein einzigartiges Gedankengebäude, das ich während so vieler Jahre kennen- und verstehen lernen durfte. Er nannte es das Fit-Prinzip, also das Zusammenspiel unserer Bedürfnisse (körperliche Grundbedürfnisse wie essen und schlafen, das Bedürfnis nach Geborgenheit, existentielle Sicherheit, das Gefühl, sozial anerkannt zu werden, das Bedürfnis nach Selbstentfaltung und danach, eine Leistung für die Gesellschaft zu erbringen) und Kompetenzen in der uns umgebenden Umwelt. Gelingt dieses Zusammenspiel, fühlt sich der Mensch wohl, kann ein Kind/ein Erwachsener seine Bedürfnisse hingegen nicht leben, entsteht ein Misfit. Das klingt abstrakt oder auch simpel. Und doch kommt dieses Konzept einem Paradigmenwechsel gleich. Für Erziehung und Schule, für Gesellschaft und Politik. Zuerst ist nicht die Erziehungsformel, die Lernmethode, eine bestimmte politische Theorie, eine Vorstellung von Gesellschaft, sondern die Wahrnehmung der individuellen Bedürfnisse des Einzelnen, die von Kind zu Kind, von Erwachsenen zu Erwachsenen verschieden sind. Deshalb wurde Largo nicht müde, die Individualität der Kinder zu erklären, deshalb beharrte er darauf, dass Kinder von selbst lernen, wenn sie ein anregendes und Geborgenheit stiftendes Umfeld vorfinden. Deshalb war sein Mantra, dass es jedem Kind und Menschen in dieser Gesellschaft möglich sein muss, seine Bedürfnisse zu leben. Und deshalb wurde er mehr und mehr zu einem Kritiker und Mahner, der darauf aufmerksam machen wollte, wie schlecht unsere Bedürfnisse mit den Lebensbedingungen der anonymen Massengesellschaft zusammenpassen.

So leicht seine Bücher zu lesen sind, schließlich war sein Anliegen, möglichst vielen durch sie zu helfen, und auch wenn man versteht, was seine in großer sprachlicher Verfeinerungsarbeit entstandenen Sätze aussagen (an der manchmal ich, immer aber seine langjährige Lektorin Margret Trebbe-Plath mitgeschliffen hat), in Wirklichkeit fordern sie zu einem großen Umdenken auf. Ich habe teilweise Jahre gebraucht, um ihren Gehalt in aller Tiefe zu verstehen. Bis zu seinem letzten Buch „Zusammenleben“, das im diesjährigen Frühjahr erschien, gab es immer wieder Aha-Momente, glitzernde Erkenntnisse, die ich so meinem kostbaren Remo-Largo-Kosmos hinzufügen konnte.

Doch noch einmal zurück zur Eingangsfrage: Warum hat sein Tod so viele Menschen nicht nur erschüttert, sondern auch tief berührt? Selbst ich habe viele Emails bekommen, und doch widerspiegeln sie nur einen winzigen Bruchteil derer, die trauern und die sich in ihrer Trauer mit anderen Remo-Largo-Freunden vernetzen. Seine Familie hat eine Kaskade von Adjektiven gefunden, die Remos Persönlichkeit beschreiben. Sie alle passen nur all zu gut, von humorvoll bis würdevoll. Interessiert, einfühlsam, zum Dialog auffordernd. Das war er aber nicht nur für alle, die ihn persönlich kannten oder eben mindestens ein mal mit ihm telefonieren durften, sondern für sein ganzes Publikum, ob bei seinen zahlreichen Vorträgen oder in Gesprächen in Rundfunk und Fernsehen, in seinem TedTalk (ein Format, das er wegen seiner auf den Effekt zielenden Regeln nicht so gern mochte) bis hin zu den vielen Kongressen und Schulpanels, an denen er teilnahm. Er hat es verstanden, jeden Einzelnen persönlich anzusprechen und – das ist weit mehr noch – jeden im Publikum durch seine tiefe Menschlichkeit zu berühren.

Sein Fit-Konzept, so umfassend es auch war, war weit davon entfernt, ideologisch zu sein oder besserwisserisch oder auch nur hermetisch geschlossen. Es war und ist atmendes Denken, er hat es seinen Nachfolgern am Kinderspital explizit zur Weiterentwicklung hinterlassen. Auch er selbst hat immer weiter daran gearbeitet, vor allem in Richtung einer profunden Gesellschaftskritik, die er in seinem letzten Buch „Zusammenleben“ auf den Punkt gebracht hat. Darin stellt er den vielen Krisen unserer Zeit und einer durch den Leistungstakt der Wirtschaft und die Vereinzelung in Single- und Kleinfamilienhaushalten überforderten Gesellschaft neue Formen des Zusammenlebens gegenüber, bei denen einem das Herz aufgeht. Geborgenheit, dies war vielleicht seine letzte Botschaft (eine hoffnungsfrohe Botschaft) kann es auch im 21. Jahrhundert geben.

Anfang Oktober hatte ich ihn ein letztes Mal besucht, und wir haben wie immer bis zwei Uhr früh über Gott und die Welt geredet, insbesondere über Gott und darüber, ob Religion (nur) eine Vorstellung ist, die wir Menschen brauchen, weil wir ohne eine Antwort auf die letzten Fragen nicht leben können oder ob es selbst für uns durch die Säkularisierung aus der Gewissheit der göttlichen Realität herausgefallenen Menschen des 21. Jahrhunderts doch etwas Größeres, etwas hinter den Dingen gibt. Die Frage blieb schwebend, ja gewissermaßen flehend im Raum hängen. EINE Gewissheit indes gibt es schon jetzt, dass seine Gedanken, sein gesellschaftspolitisches Wirken, sein Fit-Konzept bleiben werden – uns zur Entzifferung, zum Rat und zum Auftrag, unsere Welt für die Kinder und alle Lebewesen besser zu gestalten. Und manche von uns wird vielleicht sogar seine Stimme weiter durch diese oftmals verwirrende, schmerzliche, immer wieder schöne Welt weitertragen – zumindest wünsche ich mir das.

Zum Tod von Remo H. Largo, Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher. Ein Nachruf von Monika Czernin vom 15. November 2020. Hinzugefügt um 21:54 Schweizer Zeit. Das Foto von Remo H. Largo stammt aus dem Jahr 2014. Foto Copyright: Aldo Gugolz (www.revolumenfilm.com).

Hinzugefügt von Louis Gerber, die zwei gemeinsamen Bücher von Remo H. Largo und Monika Czernin: