Ernst Barlach. Die Retrospektive im Albertinum Dresden

Sep 02, 2020 at 23:36 948

Ernst Barlach (*1870 in Wedel, †1938 in Rostock) gehört zu den populärsten deutschen Künstlern. Er wurde unter anderem in Dresden ausgebildet, weshalb es Sinn macht, dass das dortige Albertinum ihm zu seinem 150. Geburtstag noch bis am 10. Januar 2021 eine grossartige Aussstellung und einen ebensolchen und in jeder Hinsicht gewichtigen Katalog (Amazon.de) widmet: Ernst Barlach. Eine Retrospektive. „… was wird bis Übermorgen gelten?“

Die sehenswerte Schau im Albertinum ist ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma Hamburg und der Ernst Barlach Stiftung Güstrow, die beide sehr viele Kunstwerke als Leihgaben nach Dresden sandten. Von ihnen stammen 24 von 30 in Dresden präsentierten Holzskulpturen sowie rund 100 Plastiken und Zeichnungen sowie 25 Skizzenbücher. Werke aus weiteren Museen sowie Privatsammlungen vervollständigen die Retrospektive.

Laut den Ausstellungsmacherinnen, der Kuratorin der Retrospektive, Astrid Nielsen, und der Direktorin des Albertinums, Hilde Wagner, befinden sich heute noch einige Werke von Ernst Barlach in Dresden. So besitzt das Kupferstichkabinett rund 120 Blätter, das Münzkabinett 2 Medaillen, das Kunstgewerbemuseum 5 Arbeiten sowie das Albertinum 4 Kunstwerke.

Bei der Presse-Präsentation am 7. August 2020 betonten die Verantwortlichen, der Fokus der Ausstellung liege auf den Unikaten, insbesondere den Holzskulpturen, Skizzenbüchern und Zeichnungen. Alle anderen Facetten des Schaffens von Ernst Barlach werden natürlich ebenfalls beleuchtet, denn Ernst Barlach war ein Multitalent, das daneben noch Bronzeskulpturen (nicht immer allerbeste Güsse), Keramiken, Grafiken, Lithografien und Holzschnitte schuf, zahlreiche Dramen und Prosawerke verfasste sowie als ausdrucksstarker Briefschreiber in Erinnerung blieb, wobei für ihn Kunst immer „eine Sache allertiefster Menschlichkeit“ war.

Der Katalog (Amazon.de) vereint viele substantielle Beiträge von Spezialisten zum Leben und Werk sowie zur Rezeption von Ernst Barlach und präsentiert natürlich alle ausgestellten Werke. Hier können wir natürlich nur einige wenige Informationen aus dem 496-seitigen Buch vorstellen. Barlachs Zeit in Dresden, seine Taschenbücher und Skizzenhefte, Barlach und die nationalsozialistische Kulturpolitik, das sind nur drei der vielen Katalogbeiträge.

Schwerpunkte und Höhepunkte der Dresdner Retrospektive

In Dresden werden rund 150 Werke präsentiert. Einen ersten Schwerpunkt bilden die noch vom Jugenstil geprägten Frühwerke, das laut den Ausstellungsmacherinnen bis heute wenig thematisiert worden sei. Dazu gehört die Studienzeit von Ernst Barlach in Dresden von 1891-94, die allerdings seinen späteren, unverwechselbaren Stil nicht entscheidend prägte. Sein Lehrer in Dresden war übrigens Robert Diez (1844-1922).

Ein weiterer Schwerpunkt der Retrospektive bildet die Verfemung seiner Werke während der Zeit des Nationalsozialismus als „entartete Kunst“. Der abschliessende Schwerpunkt der Ausstellung bildet die Rezeption seiner Werke und die hohe Anerkennung, die er nach 1945 in beiden deutschen Staaten erhielt, wobei man in der DDR versuchte, ihn zu Vereinnahmen und marxistisch zu deuten.

Die Werke von Ernst Barlach fanden Eingang in die Literatur. So kommt seiner Skulptur Lesender Klosterschüler von 1930 im Roman von Alfred Andersch aus dem Jahr 1957, Sansibar oder der letzte Grund, eine zentrale Rolle zu (Details im Katalog (Amazon.de). Nebenbei bemerkt: In der Schweiz haben wir den Andersch-Roman im Gymnasium ebenfalls gelesen.

Die in der Präsentation vertretene Holzskulptur Frierendes Mädchen von 1917 aus dem Ernst Barlach Haus in Hamburg hat eine besondere historische Verbindung zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD). Sie wurde 1920 für die Skulpturensammlung im Albertinum erworben und gehörte 1937 zu den durch die Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ beschlagnahmten Werken. Nach über 80 Jahren fand sie als Leihgabe für die aktuelle Retrospektive nun erstmals ihren Weg zurück nach Dresden.

Einige Angaben zur Biografie von Ernst Barlach

Zurück zu den Anfängen von Ernst Barlach: Der Künstler empfand sich zu Beginn nicht als solcher. An der Gewerbeschule in Hamburg lernte er ab 1888 gewerbliches Zeichnen, denn er wäre damals gerne Zeichenlehrer geworden. Er erkannte jedoch rasch, dass es ihn viel mehr zum Modellieren drängte. Bewegungsstudien und Skizzen aus dem Hamburger Frühwerk dokumentieren in der Dresdner Retrospektvie, dass er in der Hansestadt durchaus zeichnerisches Können entwickelte.

In Hamburg wechselte Ernst Barlach in die Bildhauerklasse von Theodor Richard Thiele, bei dem er Klassen in Anatomie-, Akt- und Gewandstudien sowie Zeichnen und Modellieren nach Vorbildern der Antike, der Renaissance und der Romantik belegte.

1891 wechselte Ernst Barlach an die Königliche Akademie der bildenden Künste zu Dresden. Zuerst besuchte er die Vorlesungen des Archäologen Georg Treu über griechische Kunst. Daneben fertigte er in der Dresdener Bildergalerie und in der Skulpturensammlung des Al­­ber­­ti­nums Studien zu dort ausgestellten Werken. 1892 wurde er Meisterschüler bei Robert Diez (1844-1922), der den Spätklassizismus ablehnte und seine Schüler zu Naturstudien aufforderte. 1893 illustrierte Ernt Barlach Figürliches Zeichnen, ein Lehrbuch für Architekten. Seine Abschlussarbeit an der Königlichen Akademie der bildenden Künste zu Dresden ist die 1894 entstandene Plastik Krautpflückerin.

Vom Kunstunterricht in Sachsen war Ernst Barlach enttäuscht. Das Zeichnen nach antiken Vorlagen langweilte ihn. Die Auseinandersetzung mit der Polychromie der Antike beeinflusste seinen späteren Werdegang ebenfalls nicht. Er besuchte lieber das Theater.

1895 zog er mit deutschen Bildhauer Carl Garbers nach Paris, wo er sich als Teil der Bohème vergnügte und mit dem Impressionismus und Symbolismus in Kontakt kam. Diese Kunstrichtungen hinterliessen allerdings ebenfalls keine Spuren in seinem späteren Hauptwerk. Er schrieb und zeichnete viel in Paris. Aus jener Zeit sind keine Skulpturen erhalten. In der Dresdner Retrospektive ist unter anderem ein Selbstportrait Barlachs aus jenen Jahren zu sehen. Ernst Barlach bemerkte zu seinen Aufenthalten in der französischen Hauptstadt 1895/96 und 1897: „Meine Pariser Jahre sind merkwürdig unfruchtbar“.

Wir überspringen hier einige biografische Etappen. Um 1900 herum war Ernst Barlach noch immer ein Suchender, der Jugendstil-Keramiken und Grabmäler schuf. Laut den Ausstellungsmacherinnen (und dem Katalog (Amazon.de) war 1906 das entscheidende Jahr für den Künstler. Zusammen mit seinem Bruder Nikolas reiste er nach Russland zu Bruder Hans, der als Heizungsbauingenieur in Charkow (in der heutigen Ukraine) arbeitete. Die Brüder halten sich im Sommerhaus von Hans in Pokatilowka bei Charkow auf und unternehmen einige Reisen durch die Ukraine, wo Ernst Barlach entscheidende Eindrücke und Impulse für sein Werk erhält. Dazu gehören Be­geg­nungen mit russischen Bauern und Bettlern. Werke wie Blinder Bettler (Porzellan, Kunstgewerbemuseum Dreden, ca. 1906 und Russische Bettlerin mit Schale (Steinzeug/Keramik, 1906, normalerweise in der Skulpturensammlung des Albertinums ausgestellt), zeugen in der Dresdner Retrospektive von dieser Wendezeit in seinem Schaffen, in der er zu seinem unverwechselbaren Stil findet.

1908 entstehen erste Holzskulpturen, die fortan Höhepunkte seines Schaffens bilden werden. Holz war kein Material, das der Akademie als würdig empfungen wurde. Daher schuf Ernst Barlach seine Holzskulpturen als Autodidakt!

Das private Leben von Ernst Barlach beeinflusste sein künstlerisches Werk: Aus der kurzen Beziehung mit der Näherin Rosa Schwab, die ihm Modell gestanden war, stammt sein Sohn 1906 geborener Sohn Nikolaus. 1908 gewinnt er den Prozess gegen Rosa Schwab um das Sorgerecht für seinen Sohn. Diese Ereignisse verarbeitete er in seinem ersten Drama, Der tote Tag. Gleichzeitig ging es auch sonst künstlerisch aufwärts: Ernst Barlach veröffentlicht Karikaturen im Simplicissimus, er wird Mitglied der Ber­liner Se­ces­sion, über die Blinder Bettler und Russische Bettlerin mit Schale ausgestellt werden. In jener Zeit kann er erstmals Kunstwerke verkaufen.

1908 unterschreibt Ernst Barlach einen Vertrag mit dem Kunsthändler Ernst Cassirer, der seinen Lebensunterhalt sichert. Die Fürsprache von Cassirer und Max Liebermann ermöglicht ihm einen Studienaufenthalt in der Villa Romana in Florenz. Doch Ernst Barlach empfindet die Stadt als beengend, als Nest, von dem er keine Impulse für sein Schaffen empfängt.

Ernst Barlach und der Nationalsozialismus

Machen wir einen weiteren Sprung nach vorn: 1914 sah Ernst Barlach wie so viele seiner Zeit Krieg noch als Rettung, um 1915/16 kritischer zu werden und als Pazifist zu enden. Nach einem weiteren Zeitsprung landen wir in der Nazizeit. Noch in der Woche bevor Hitler 1933 den Sprung an die Macht schaffte, sprach sich Ernst Barlach klar gegen die Nazis aus. Nicht zum ersten Mal. Einzelne Exponenten des neuen Regimes sprachen sich zwar für den Künstler aus, doch die ablehnende Haltung war dominierend. Noch 1934 konnte er dennoch an der Biennale in Venedig ausstellen. Eine Schau in der Kunsthalle Bern fand ebenfalls statt. Noch 1935 waren vier seiner Plastiken prominent in der Ausstellung „Berliner Kunst“ in der Neuen Pinakothek in München platziert.

Ernst Barlach war ein Mitunterzeichner des „Aufrufs der Kulturschaffenden“ im Nazi-Propaganda-Blatt Völkischer Beobachter vom 18. August 1934. Diesen offenen Brief unterzeichneten zudem Erich Heckel, Emil Nolde, Georg Kolbe, Ludwig Mies van der Rohe, Wilhelm Furtwängler, Richard Strauss und 30 weitere Persönlichkeiten des kulturellen Lebens. Damit sollte Stimmung für den Volksentscheid gemacht werden, der schliesslich die Zusammenlegung von Reichskanzler- und Reichspräsidentenamt in der Person Adolf Hitlers besiegelte. Barlach verband mit seiner telefonisch aus dem Propagandaministerium erbetenen Unterschrift die Hoffnung, sich vom Vorwurf des „Kulturbolschewismus“ zu befreien – „bis man ihn wieder aus der Kiste holt.“

Doch die Atempause, die sich Barlach durch sein Zugeständnis verschaffte, währte nur kurz. 1935 wurde seine Holzskulptur Das Wiedersehen (Kat. 178) aus der ständigen Ausstellung im Landesmuseum Schwerin entfernt. Damit setzte eine ganze Serie von Werkbeseitigungen aus dem öffentlichen Raum ein. Ernst Barlach verschwand von Theaterbühnen, aus Museen und Ausstellungen. Ein erster Schritt war übrigens bereits 1933 mit der Magazinierung des Magdeburger Ehrenmals gemacht worden. Im Juni 1935 musste das Altonaer Stadttheater das Drama Die echten Sedemunds vom Spielplan der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde absetzen; im Februar 1936 wurden die drei Figuren der Lübecker Gemeinschaft der Heiligen von ihrem Aufstellungsort entfernt und Werke aus einer Ausstellung der Preußischen Akademie der Künste genommen. 1937 beseitigte das Regime den Kieler Geistkämpfer und den Güstrower Schwebenden. Weitere 670 Grafiken, Skulpturen und Plastiken des Künstlers wurden im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ in deutschen Museen konfisziert. In der gleichnamigen Ausstellung, die am 19. Juli 1937 in München eröffnet wurde und bis 1941 durch zahlreiche deutsche Städte tourte, waren eine Bronzefassung von Das Wiedersehen und ein Exemplar des 1935 im Münchner Piper Verlag erschienenen Buchs Ernst Barlach. Zeichnungen als Beispiele „entarteter Kunst“ ausgestellt. Die Nationalsozialisten entfernten Barlachs Werke aus dem öffentlichen Raum bzw. zerstörten sie. Seine Werke wurden von Deutschlands Bühnen verbannt.

Den Buchumschlag ziert übrigens ein Detail der Nussbaum-Holzskulptur Der Asket von Ernst Barlach aus dem Jahr 1925. Das Werk stammt aus dem Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg. Wie alle Gestalten Barlachs ist die Skulptur auf einen Ausdruck hin fokussiert: ein Mensch im Zustand der Balance zwischen Körper und Seele, zwischen äußerer und innerer Welt, ganz in sich versunken. Mimik, Körperhaltung und Habitus der Figur verweisen auf die religiösen Praktiken des Betens und Meditierens und spiegeln Barlachs Auseinandersetzung mit Christentum und Buddhismus. Der Asket war die erste Skulptur Barlachs, die der Hamburger Unternehmer und Kunstsammler Hermann F. Reemtsma 1934 erwarb, der für seine Sammlung nach dem Krieg das Ernst Barlach Haus in Hamburg einrichtete.

In Kürze: Dresden ist wieder einmal eine Reise wert!

Der Katalog zur Ausstellung: Herausgeber Staatliche Museen Dresden, Astrid Nielsen, Hilke Wagner: Ernst Barlach. Eine Retrospektive. „… was wird bis Übermorgen gelten?“ Albertinum, Dresden, Sandstein Verlag, August 2020, 496 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Die Ausstellung im Albertinum in Dresden Ernst Barlach. Eine Retrospektive. „… was wird bis Übermorgen gelten?“ dauert vom 8. August 2020 bis am 10. Januar 2021.

Zitate und Teilzitate in dieser Ausstellungskritik / Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension hinzugefügt am 2. September 2020 um 23:36 deutscher Zeit.