Ernst Ludwig Kirchner in der Bundeskunsthalle Bonn

Feb 18, 2019 at 11:06 1089

Zusammen mit dem Art Centre Basel zeigt die Bundeskunsthalle in Bonn noch bis am 3. März 2019 die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner. Erträumte Reisen (Katalog: Amazon.de). Dabei sind 58 Gemälde (darunter 2 Triptychen), 72 Grafiken, 4 Skizzenbücher, 10 Skulpturen, 5 Wirkereien und 45 Fotografien von insgesamt 41 Leihgebern aus 7 Ländern zu bewundern. Ein Grossteil der Leihgaben stammt von der Ernst Ludwig Kirchner Stiftung Davos.

Im Zentrum von Ausstellung und Katalog steht die Rolle des Imaginären. Dabei geht es einerseits um den Einfluss des Imaginären auf sein Werk und andererseits um vom expressionistischen Künstler selbstgeschaffene, konstruierte Rückzugsorte.

Der in Deutschland geborene und in der Schweiz verstorbene Ernst Ludwig Kirchner vereint laut den Ausstellungsmachern zwei gegensätzliche Identitäten und Lebensumfelder: das Urbane, wie er es in Dresden und Berlin vorfand, und das Ländliche in den Schweizer Alpen, die er in seiner zweiten Lebenshälfte zu seiner Wahlheimat machte.

Ausstellung und Katalog versuchen eine Brücke zwischen diesen zwei Polen zu bauen. In drei Sektionen zeigen sie, wie sich der Expressionist nach der Zeit in der Künstlergruppe Die Brücke neu erfand und wie gesellschaftliche Bewegungen, insbesondere die Lebensreform und die starke Exotisierung seiner Zeit, ihn beeinflussten.

Ernst Ludwig Kirchner suchte die Auseinandersetzung mit afrikanischen und ozeanischen Objekten, was ihn zu neuen malerischen Interpretationen trieb. Dank der Kooperation mit dem Museum für Völkerkunde in Dresden können das Art Centre Basel und die Bundeskunsthalle in Bonn erstmals Kirchners Besuchserlebnis in Dresden nachzeichnen. Die Ausstellungsmacher glauben so aufzeigen zu können, dass Deutschlands koloniales Erbe lange Zeit von Künstlern wie den deutschen Expressionisten – analog zu den Zeitgenossen der französischen Avantgarde in ihrem Umfeld – unreflektiert wahrgenommen wurde.

Laut dem Intendanten der Bundeskunsthalle in Bonn, Rein Wolfs, las Ernst Ludwig Kirchner mit Begeisterung die Werke von Friedrich Nietzsche. Daher sei er für die Idee der absoluten Autonomie von äusseren Zwängen entflammt gewesen und habe sich der Lebenreformbewegung zugewandt.

In diesem Zusammenhang sieht Rein Wolfs Kirchners kleine Fluchten, seine Reisen an die Moritzburger Seen und nach Fehmarn sowie sein späteren Umzug nach Davos in die Schweizer Alpen. Nicht zuletzt jedoch seien es Kirchners Erträumten Reisen gewesen, die zum Fluchtpunkt seines Denkens und seiner künstlerischen wie auch lebensbezogenen Überzeugungen geworden seien.

Wolfs sieht Kirchners Werk von den Umbrüchen von gesellschaftsverändernder Kraft um die Jahrhundertwende beeinflusst, welche die Energie für radikales reformerisches Denken lieferten, das Künstler, Musiker, Literaten, Philosophen und Intellektuelle damals in Europa umtrieb. Hinzu kamen danach der Erste Weltkrieg, Faschismus und Nationalsozialismus.

Für Wolfs ist das vielgestaltige Werk Kirchners eigentlich nur verständlich, wenn man die enge Verflechtung von Lebensrealität, Weltanschauung und künstlerischer Überzeugung des Expressionisten in Betracht zieht. Er verweist darauf, dass der Künstler selbst akribisch die Kritik und Interpretation seines Werkes überwachte und sich fundiert mit parallelen Avantgardebewegungen seiner Zeit auseinandersetzte. Dies deute auf den Stellenwert hin, den Kirchner selbst der Kontextualisierung seines Œuvres beimass. Ausstellung und Katalog öffnen so laut Wolfs den Horizont für ein erweitertes Verständnis von Kirchners Werk.

Die Essays verschiedener Autoren im Buch befassen sich mit Kirchners Weltflucht und Fantasiewelten, mit seinen Atelier-Enklaven in Dresden und Berlin, mit Kirchners Begegnungen mit Afrika sowie mit dem Fremden, mit seinen erträumten skulpturalen Reisen, mit seinen Fotografien (Idealismus oder Wirklichkeit?), mit der Umformung seines eigenen Lebens in der Krisenzeit sowie den dabei entstandenen Bildern, mit der Wirkerei sowie dem Spätwerk des Künstlers.

Am 15. Juni 1938 nahm sich Ernst Ludwig Kirchner in Fraukirch-Wildboden bei Davos das Leben. Ein Jahr zuvor hatten die Nationalsozialisten sein Werk als „entartet“ eingestuft und über 600 seiner Werke aus Museen entfernt, verkauft oder zerstört.

Ernst Ludwig Kirchner. Erträumte Reisen. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Katalog: Gebundenes Buch, Prestel Verlag, November 2018, 24 x 30 cm, 368 Seiten mit 207 farbigen und 95 s/w Abbildungen. Die Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn dauert noch bis am 3. März 2019. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Um das Lesen zu erleichtern, wurden Zitate und Teilzitate aus dem Katalog in diesem Artikel nicht mit Gänsefüsschen ausgezeichnet.