Ernst Ludwig Kirchner: Stationen

Jun 13, 2023 at 15:10 809

Die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner: Stationen (Amazon.de) der Internationalen Tage Ingelheim im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus vom 30. April bis am 9. Juli 2023 ist entstanden in Kooperation mit dem Brücke-Museum in Berlin, dessen Gründung 1964 vom Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff angeregt wurde und das rund 400 Gemälde und Skulpturen sowie mehrere Tausend Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken der 1905 in Dresden gegründeten Künstlergruppe Brücke besitzt.

Die Künstlergruppe Brücke wurde von den vier Architekturstudenten Fritz Bleyl, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) gegründet. Inspiriert von den Schriften von Friedrich Nietzsche begaben sie sich gemeinsam auf die Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmittlen.

In Ingelheim sind über 90 zumeist farbige Zeichnungen, druckgrafische Arbeiten, Aquarelle und Gemälde des Brücke-Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner zu sehen, die Einblicke in seine wichtigsten Werkgruppen und Lebensetappen bieten.

Da das Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus über drei grosse und zwei kleinere Säle verfügt, bedeutete dies für die beiden Kuratoren, Ernst Ludwig Kirchners Werk in fünf »Stationen« zu gliedern – fünf ortsspezifische Motivkreise, die zugleich die Chronologie seiner künstlerischen Entwicklung nachzeichnen: Dresden als Impuls der Freiheit für die künstlerische Entwicklung des jungen Kirchner und Berlin als Inspiration für seine berühmten Strassenszenen, Fehmarn als Idylle einer Sehnsucht nach Einheit von Mensch und Natur, der Erste Weltkrieg als Phase von Krise und Sanatoriumsaufenthalten und schliesslich Davos als neue Lebenswelt in den Schweizer Alpen.

Diese Stationen haben sein Werk substanziell verändert. Es eröffnet sich ein vielschichtiger und differenzierter Einblick sein künstlerische Schaffen, wobei die oft schwierigen psychischen und physischen Lebenssituationen des Künstlers Berücksichtigung finden.

Die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner: Stationen (Amazon.de) beginnt mit dem Atelier in Dresden, das nicht nur Ernst Ludwig Kirchner, sondern auch seinen Brücke-Kollegen Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel und Max Pechstein als Ort der Freiheit dient. Hier können sie sich künstlerisch ungezwungen entwickeln.

Ulrich Luckhardt schreibt im Vorwort, dass Ernst Ludwig Kirchners Übersiedlung nach Berlin 1911 einen Wendepunkt darstellt. Das rege Treiben auf den Straßen mit den Kokotten und ihren Freiern ist für den Künstler ein neues, einschneidendes Erlebnis, das er in allen seinen künstlerischen Medien intensiv ausarbeitet.

Parallel dazu findet er auf der Ostseeinsel Fehmarn einen Platz, der Grossstadt zu entfliehen. Fernab des touristischen Teils der Insel, in der oft rauen Natur, sehen der Künstler und seine Modelle die Vorstellung der Einheit von Mensch und Natur verwirklicht.

Diese Idylle der Freiheit endet mit dem Ersten Weltkrieg und Ernst Ludwig Kirchners Einberufung in den Kriegsdienst. Er stürzt in der Folge in eine schwere psychische Krise, trinkt verstärkt Absinth, nimmt Schlafmittel und Morphium. Körperliche und psychische Leiden führen dazu, dass er vom Militär freigestellt und schliesslich für dientuntauglich erklärt wird. Es folgen mehrere Aufenthalte in Sanatorien in Deutschland und der Schweiz, die sein künstlerisches Schaffen jedoch nicht unterbrechen. Nun malt er vermehrt Selbstbildnisse, in denen er den Blick auf sich selbst richtet und so sein Innenleben dokumentiert.

Ruhe findet der schwer kranke Kirchner laut Ulrich Luckhardt erst 1917 mit dem ersten Aufenthalt im schweizerischen Davos. Was als Zeit der Rekonvaleszenz gedacht war, wird für ihn zu einer neuen Lebenswelt. Umgeben von der gewaltigen Bergwelt, im Einklang mit dieser Landschaft und ihren Bewohnern, vollzieht sich erneut eine Wandlung in seiner künstlerischer Vorstellung. In den Schweizer Alpen findet er bis zu seinem Freitod im Sommer 1938 einen Ort, an dem er sein dort zwanzig Jahre zuvor begonnenes künstlerisches Schaffen weiterentwickeln kann. Sein Stil beruhigt sich und eine neue Farbigkeit hält Einzug in seine Werke.

1937 beschlagnahmen die Nationalsozialisten über 600 seiner Arbeiten, wovon 32 in der Ausstellung Entartete Kunst zu sehen sind. Ernst Ludwig Kirchner greift erneut zu morphiumhaltigen Medikamenten. Seine Bilder verdüstern sich und werden zunehmend retrospektiv. Österreichs »Anschluss« an Deutschland im März 1938 schürt seine Angst vor einer Invasion der Schweiz durch die Nazis. Er zerstört einen Teil seiner Druckstöcke sowie geschnitzte Objekte. Am 15. Juni 1938 nimmt sich Ernst Ludwig Kirchner vor seinem Haus auf dem Wildboden bei Davos das Leben.

Im reich illustrierten Katalog finden sich neben den in Ingelheim ausgestellten Werken und einer kurzen Biografie des Künstlers sechs Essays. Dagmar Lott schreibt von „Zarathustra im Transit. Ernst Ludwig Kirchner als Prophet und Unzeitgemäßer“. Meike Hoffmann beschreibt die Ateliers des Künstlern in Dresden als »Orte der Freiheit« aus doppelter Perspektive. Karsten Müller widmet sich dem meiner Meinung nach künstlerischen Höhepunkt im Schaffen von Ernst Ludwig Kircher: den Straßenszenen. Aya Soika beschreibt die Zeit auf Fehmarn. Thomas Röske trägt seine Einsichten zu den Selbstdarstellungen Ernst Ludwig Kirchners in der Krise bei. Ulrich Luckhardt untersucht abschliessend die neue Lebenswelt des Künstlers in Davos, wobei er seinem Essay den Satz von Ernst Ludwig Kirchner voranstellt: »Man reinigt sich innerlich«.

Ulrich Luckhardt: Ernst Ludwig Kirchner: Stationen. Mit Beiträgen von Meike Hoffmann, D. Lott, Ulrich Luckhardt, Karsten Müller, Thomas Röske, Aya Soika. Hirmer Verlag, April 2023, 176 Seiten mit 100 Abbildungen in Farbe, 21 x 27 cm, gebunden. ISBN: 978-3-7774-4198-6. Das Buch/Den Ausstellungskatalog bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension des Ausstellungskatalogs / Ausstellungskritik sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 13. Juni 2023 um 15:10 deutscher Zeit.