Ernst Ludwig Kirchner und die Künstler der Gruppe Rot-Blau

Jan 18, 2025 at 16:42 101

Das Museo d’arte della Svizzera italiana (MASI) in Lugano zeigt seit dem 17. November 2024 und noch bis am 23. März 2025 die Ausstellung Da Davos a Obino. Ernst Ludwig Kirchner e gli artisti del gruppo Rot-Blau. Von Davos nach Obino und die Künstler der Gruppe Rot-Blau. Der gleichnamige, zweisprachige Katalog: Edizioni Casagrande, Bellinzona, ISBN 979-12-5559-066-8.

Ernst Ludwig Kirchner hat wohl nie das Tessin besucht, dennoch gab er den Anstoss zu der in Castel San Pietro im Mendrisiotto gegründeten expressionistischen Gruppe Rot-Blau. Unter dem Eindruck der Kirchner-Ausstellungen von 1923 in der Kunsthalle Basel und 1924 im Kunstmuseum Winterthur gründeten Paul Camenisch, Albert Müller und Hermann Scherer in der Silvesternacht 1924/25 die erwähnte Künstlervereinigung. Laut Doris Fässler ging es der Gruppe Rot-Blau um eine verstärkte „Stilisierung bei gleichzeitiger Steigerung des Ausdrucks und der Freiheit der Farbe“.

Tobia Bezzola legt im Vorwort zur MASI-Ausstellung dar, dass zuerst Hermann Scherer, dann Albert Müller und schliesslich auch Paul Camenisch regelmässig im Haus von Ernst Ludwig Kirchners in der Nähe von Davos verkehrten, wo sie ihre künstlerische Erfahrung an der Seite des bedeutenden deutschen Expressionisten malend vertieften. Die übrige Zeit verbrachten sie teils im Mendrisiotto, dessen Landschaft die meisten ihrer Arbeiten inspirierte, teils in Basel, wo die Künstler  Ausstellungsmöglichkeiten, die Anerkennung der Kritik und den Zugang zum Kunstmarkt und zur Welt der Sammler suchten.

Ausstellung und Katalog präsentieren eine Auswahl von 10 der mittel- bis grossformatigen Gemälde, die Ernst Ludwig Kirchner in Basel und Winterthur gezeigt hatte. Die Selektion beruht auf den vom Künstler selbst aufgenommenen Fotografien jener Ausstellungen, auf denen diese Werke zu erkennen sind, die in den frühen Jahren seines Aufenthalts in Graubünden entstanden. Hinzu kommen einige Arbeiten aus den Jahren 1924-1926, in denen die Künstler der Gruppe Rot-Blau ihren Mentor mit einer bestimmten Regelmässigkeit in der Nähe von Davos besuchten.

Tobia Bezzola erklärt, dass die Ausstellung die Hinwendung der jungen Basler Künstler zum Expressionismus sowie Werke aus Kirchners gemeinsamer Schaffensperiode mit seinen Anhängern dokumentiere. Diese Präsentation werde ergänzt durch expressionistische geprägte Werke der MASI-Sammlung, wobei ein besonderes Augenmerk den Arbeiten der Vertreter der Gruppe Rot-Blau und anderer Basler Künstler gelte.

Cristina Sonderegger legt im Katalog dar, dass der vom Krieg traumatisierte und von Drogen- und Alkoholmissbrauch geschwächte Ernst Ludwig Kirchner zum ersten Mal im Mai 1917 nach Davos kam. In den Schweizer Alpen verbesserte sich seine körperliche und geistige Verfassung.

Die Autorin hebt hervor, dass Ernst Ludwig Kirchner in Davos zu schreiben begann. 1919 entwarf er einen ersten kurzer Text unter dem Titel Glaubensbekenntnis eines Malers. Im selben Jahr begann er zudem ein Tagebuch zu führen, an dem er mit Unterbrüchen bis 1928 festhielt. Vor allem jedoch erfand er die Figur des französischen Kunstkritikers Louis de Marsalle, der zwischen 1920 und 1933 verschiedene Aspekte seiner Kunst wohlwollend beleuchtete.

1923 legte Ernst Ludwig Kirchner dem Sammler und Verfasser des ersten Bandes seines grafischen Werks, Gustav Schiefler, einen Aufsatz von Louis de Marsalle ans Herz: „Ich sende Ihnen übrigens den Aufsatz, da er Sie interessieren wird, er ist von meinem hiesigen Freunde de Marsalle, der nach meiner Meinung einfach ideal schreibt. Eine Bekanntschaft im Kriege und Krankheit geschlossen. So sachlich und voll intensivem Interesse sind bisher nur Sie an meine Arbeit gegangen. Ich hoffe, gerade mit Hilfe dieses Franzosen beweisen zu können, dass meine Arbeit wirklich unabhängig und rein von der zeitgenössischen Kunst entstand und sich entwickelt hat.“

Cristina Sonderegger zitiert zudem Ernst Ludwig Kirchner, der 1921 ebenfalls unter dem Pseudonym Louis de Marsalle die erste Ausstellung seiner „Schweizer Werke“ im Kunstsalon Ludwig Schames in Frankfurt kommentierte. Der beschrieb den Wandel, den seine Kunst nach der Übersiedlung in die Schweiz durchlaufen hatte, wobei er die neue Farbpalette und die starke perspektivische Veränderung hervorhob:

„Die Bilder der letzten deutschen Schaffensperiode Kirchners waren charakteristisch durch eine wie durch perlmutterige Nebel irisierende Farben. In den neuen Arbeiten der letzten 6 Jahre wird die Farbe rein und leuchtend. Die klare Luft der Berge löste diese Farbengebung aus. Man kann an den Bildern die ganz allmähliche Entwicklung verfolgen. Hand in Hand geht eine Steigerung der zeichnerischen Form und eine starke Veränderung der Proportionen. Die Änderung der Form und der Proportion sind nicht Willkür, sondern dienen dazu, den geistigen Ausdruck gross und eindringlich zu gestalten und die Farben in der für den betreffenden Ausdruck nötigen Mengen zu fassen. Auch die Farbe ist nicht die der Natur, sondern eine aus der Gestaltungsabsicht des Malers geboren. Sie schafft in Verbindung mit den anderen Farben des Bildes einen bestimmten Klang,der das Erlebnis des Malers ausdrückt. Für Form und Farbe ist die sichtbare Welt die Anregerin. Sie wird aber soweit umgestaltet, dass im Bilde eine vollkommene Neuform entsteht.“

Cristina Sonderegger zitiert aus dem Vorwort des Katalogs zur Ausstellung seines grafischen Werks in der Galerie Aktuaryus in Zürich von 1927, in dem Ernst Ludwig Kirchner erneut unter dem Namen Louis de Marsalle das letzte Jahrzehnt seiner Karriere zusammenfasste. Er stellte sich dabei, in der Nachfolge Hodlers, als Pionier einer neuen Form der alpinen Malerei dar und feierte sich als Mentor einer jungen Künstlergeneration:

„In diesem Jahre vollendeten sich zehn Jahre, dass der junge deutsche Maler Ernst Ludwig Kirchner todkrank von Berlin nach Graubünden kam und dort Gastfreundschaft und freundliche Pflege fand, um zu gesunden oder zu sterben. Er kam wieder hoch, blieb in den Bergen und schuf in der Einsamkeit ein zweites malerisches Werk, das das deutsche schon heute an Umfang und Bedeutung um ein Beträchtliches übertrifft. Schon die ersten hiesigen Holzschnitte, die Kirchner 1917 machte, zeigten deutlich, dass der Künstler in den Bergen und ihren Bewohnern einen seiner Begabung würdigenden Gegenstand gefunden hatte, und in den verflossenen zehn Jahren sind neben den Bildern an die 1000 graphische Blätter entstanden, die die Bergwelt in vollkommen neuer Weise immer monumentaler und tiefer formen. Die ersten Ausstellungen dieser Bilder Kirchners wurden ein Ereignis, denn Kirchner war seit Hodler der erste Maler, der die Berge in neuer Form gestaltete. Er passte sich dazu völlig seiner Umgebung an und wohnt noch heute in dem schlichten alten Berghaus, er lebt unter den Berglern wie einer von ihnen. Sein Freiheitsdrang, sein Gefühl der Gleichheit mit den anderen, seine grosse Liebe zur Natur und den Tieren machten ihm die sehr zurückgezogenen Bergbewohner zu Freunden. Sie litten ihn unter sich, er konnte nach ihnen malen und zeichnen. So wurde sein Werk. Wie von selbst und durch die Ausstellungen aufmerksam gemacht, schlossen sich Kirchner eine Anzahl junger Künstler aus der Schweiz und anderen Ländern an, um von ihm die neuen Techniken und Formen zu lernen, so dass mit der Zeit eine neue Auffassun gin der Gestaltung auf Kirchners Anregung fussend sich Bahn bricht“.

Mit anderen Worten: Ernst Ludwig Kirchner war ein begnadeter Promoter seiner Kunst, wobei er vor dubiosen Marketing-Tricks nicht zurückscheute. Louis de Marsalle taucht übrigens erstmals in einem Brief vom 21. Januar 1920 an den deutschen Kunsthistoriker und Kritiker Ernst Gosebruch auf. Der Künstler wusste sehr wohl, wenn er beeinflussen musste. Da niemand Louis de Marsalle kannte und Zweifel an seiner Existenz aufkamen, liess Ernst Ludwig Kirchner den fiktiven Kritiker zuerst nach Afrika reisen und 1933 sterben.

Cristina Sonderegger beschreibt Ernst Ludwig Kirchners Ausstellung 1923 in der Basler Kunsthalle als grossen Erfolg, vor allem bei der jungen Generation. Hermann
Scherer, Albert Müller, Paul Camenisch und Werner Neuhaus wandten sich in der Folge einer expressionistischen Sprache zu. Max Sulzbachner und Otto Steiger schlossen sich ihnen später an. Georg Schmidt, der künftige Direktor des Kunstmuseums Basel, zu jener Zeit Bibliothekar des Basler Kunstvereins und junger Kunstkritiker begeisterte sich bei dieser Gelegenheit für das Werk Kirchners.

Die 1924 vom Kunstverein im Kunstmuseum Winterthur organisierte Kirchner-Einzelausstellung sei zwar von Basler Freunden unterstützt worden, doch das Klima sei deutlich anders gewesen, so Cristina Sonderegger. Mit Ausnahme des Freundes, Unternehmers, Sammlers und Mäzens Georg Reinhart, der seit 1917 Werke von Kirchner besass, stiess der deutsche Künstler weder bei den lokalen Kunstliebhabern noch bei den Sammlern auf Anerkennung, und selbst die Organisatoren distanzierten sich entschieden von der Ausstellung.

Cristina Sonderegger zitiert aus einem Brief von Ernst Ludwig Kirchner vom 4. Juli 1924 an Albert Müller, der Kirchners Enttäuschung und Bitterkeit zeigt:

„Wir haben nun in Winterthur die Ausstellung mit aller Liebe gehängt undich glaube, dass diese Ausstellung wohl die beste ist, die ich bisher in der Schweiz machen konnte, sie ist auch die reichhaltigste in Bezug auf die Zahl der Bilder 45 Stück aus allen Perioden. Man hat unsmachen lassen, was wir wollten, aber der Kampf gegen die Sache ist dafür auch ungeheuer. Mit allen Mitteln sucht man die Ausstellung tot zu machen. Schon der Vorhang ist immer geschlossen, kein Plakat nichts zeigt dem Besucher an, dass die Ausstellung offen ist. Keiner der Winterthurer liess sich sehen als wir dort waren. Alles war leer und ausgestorben. So niederdrückend das alles sein könnte, tröstete Scherer und mich doch das Bewusstsein, dass wir unser Bestes gaben und dass wir viel viel von der Ausstellung lernten. […]  es gibt keine sichere Wertung und kein schöneres Lob, als das Interesse der jungen Künstler, denn diese allein haben den sicheren Instinkt für das Gute im Neuen.“

Richard Bühler, der Präsident des Kunstvereins und Organisator der Ausstellung, fühlt sich genötigt, im Neuen Winterthurer Tagblatt vom 8. Juli 1924 das Wort zu ergreifen, doch nicht etwa, um Kirchners Werk zu verteidigen, sondern um sich von ihm zu distanzieren. Hier der Verriss:

„Noch selten hat eine Ausstellung die Besucherso verärgert, wie die gegenwärtige. Auch uns hat sie abgestossen. Mag Kirchner auch schon zu den Auserwählten der modernen Kunstgeschichtsschreibung gehören, mögen seine Kollegen mit den Lorbeeren akademischer Lehrwürde gekrönt sein und sie und ihm die ‘führenden’ Kunstzeitschriften und der Kunsthandel in duftenden Wolken sinnbetörenden Weihrauches und Schreihauches hüllen. Wir wissen, dass wir vorwärtsweisenwollende und ‘anerkannte’ Wertungstafeln übersehen, aber die Ehrlichkeit will, dass wir bekennen: diese Schildereien widern uns an. Wohl ist das Auge erst befangen durch erstaunliche Farben, die da bald in Harmonie, bald in unleidlicher Dissonanz wirken, laut undaufdringlich. Nicht Malerei im Sinne malerischen Reizes oder vollendeter Technik ist das, sie ist abstrakt oder als Gefühls- undStimmungsträger wirksam und ganz dem persönlichsten Empfindendes Urhebers untertan. Allein hat die Farbe kaum mehr als primitiven Flächenreiz, sie ist ohne das Sujet belanglos. Auch kompositionell haben die Kirchnerischen Gemälde wenig Verdienste. Die Aufteilungin Massen und Farben bleibt primitiv und roh, Raum und Figursind scheinbar kunstlos zusammengefügt, nicht ohne bewusste Absichten, aber doch so, dass man Sie des Lächelns nicht erwehrenkann, wenn man an ihm ein Paar simple Kompositionsmätzchen bedeutungsvoll konstatiert. Dieses Lächeln wird zum Lachen, wenn man an wirkliche meisterhafte Kompositionslösungen denkt. Expressive Kunst, die sich der malerischen und kompositionellen Qualitäten entschlägt, ist also nur noch gedanklichen odergefühlsmässigen Inhaltes wegen da. Diese majestätische Geringschätzung des artistischen, aber wesentlichen Momentes drängt eine solche Äusserung in den Bereich der Frage: wodurch ist das dennnoch Kunst? Die gemalte Ergründung psychischer Inhalte ist keineswegs a priori Kunst. Künste haben Ausdrucksgesetze, dasist ihr Wesen. Das künstlerische Ausstrahlen eines Bewusstseinsinhaltes (Expression), sei es einer Weltbewegenden oder einer kleinen Idee [,] bedarf dieser Gesetze und einer Ausdruckssprache. Aber beides, gemeinverständliche Darstellungssprache und Kunstgesetze, sind hier souverän verachtet und alles dem Götzen Subjektivität à tout prix geopfert.“

Cristina Sonderegger hebt hervor, dass die Abneigung gegen Kirchners Werk den Kunstverein Winterthur veranlasste, Georg Reinharts Schenkung des Gemäldes Davos im Winter. Davos im Schnee (Abb. 10 im Katalog) zurückzuweisen. Hingegen kam der Ankauf von Bauernmittag (Abb. 4) durch Gustav Pauli für die Kunsthalle Hamburg zustande.

Cristina Sonderegger betont, dass die umstrittene Rezeption von Kirchners Werk in Winterthur zweifellos dazu beigetragen habe, dass die jungen Basler Künstler erkannten, wie schwierig es sei, sich als einzelne Künstler in einem Umfeld zu behaupten, das noch nicht für neuartige Ausdrucksformen offen sei.

Scherer, Müller und Camenisch hätten in Kirchner zwar ihren gemeinsamen Mentor erkannt, doch was sie bewegt, in der Silvesternacht 1924 in Müllers Haus in Castel San Pietro (in der Region des Mendrisiotto, im südlichen Zipfel der Schweiz) die Gruppe Rot-Blau zu gründen, sei nicht in erster Linie die Behauptung ihrer gemeinsamen Suche nach einem künstlerischen Ausdruck gewesen, sondern vielmehr hätten sie sich als Gruppe die Möglichkeit erhofft, auf die Institutionen und die Kritik Druck auszuüben, um Zugang zu renommierten Ausstellungsorten zu erhalten. Tatsächlich sei es der Gruppe gelungen, sich dank dieses Zusammenschlusses – ein Vorgehen, das sich übrigens auchandere avantgardistische Initiativen in der Schweiz zunutze machten – Zugang zur Basler Kunsthalle und zum Kunsthaus Zürich zu verschaffen.

Ernst Ludwig Kirchner förderte persönlich die Verbreitung der Arbeiten der drei jungen Schweizer Künstler ausserhalb der Landesgrenzen, indem er sie, zusammen mit Philipp Bauknecht (einem deutschen Maler, der ebenfalls in Davos wohnte), einlud, auf der Internationalen Kunstausstellung in Dresden von 1926 an seiner Seite auszustellen. Ursprünglich sollte dort Kirchner einen Raum mit eigenen Werken gestalten, doch er beschloss, ihn zu teilen und sich mit den Werken seiner „Schüler“ zu umgeben, in der laut Cristina Sonderegger grosszügigen Absicht, seine Rolle als Führer und Förderer einer jungen Künstlergeneration zu bekräftigen. Er wandte sich zu diesem Zweck an den Kunstkritiker Will Grohmann – den Verfasser der im selben Jahr erschienenen ersten wichtigen Monografie seines Werks –, der eine Reihe von Artikeln über die in Dresden ausgestellte zeitgenössische Kunst veröffentlichte. So stand in Der Cicerone:

„Von den eigentlichen Nachbarstaaten Deutschlands hat die Schweiz das regste künstlerische Leben […]. In letzter Zeit ist eine immer sichtbarere Ost- und Westorientierung zutage getreten, die in Genf bzw. Basel ihren Mittelpunkt hat. […] Auf die Ostschweizer übt E. L. Kirchner einen starken Einfluss aus, besonders auf die Jüngeren: Otto Müller (“Kapelle”) [sic], H. Scherer, P. Camenisch und F. Pauli. Die Resultate des Kirchnerschen Schaffens sind in den Werken dieser Maler nicht übernommen sondern sinngemässangewendet und entwickelt.“

Ernst Ludwig Kirchner seinerseits würdigte seine Freunde mit einem Artikel in der Zeitschrift Das Kunstblatt, in dem er sich mit der jungen Basler Künstlerszene auseinandersetzte

Cristina Sonderegger unterstreicht, dass der Tod von Albert Müller, wenige Monate später gefolgt vom Tod Hermann Scherers, der Möglichkeit, diese „Schule“ weiterzuentwickeln, ein jähes Ende bereitete. Wenige Tage nach Müllers Tod schrieb Kirchner in sein Tagebuch:

„Müller, mein einziger, mein guter Freund ist gestorben. Am Typhus. Ach schrecklich, nun ist die arme Frau allein mit den Kindern, und ich verlor den einzigen Freund, den ich jemals hatte. Müller, mein guter Albert, ich wäre gern an Deiner Statt gegangen. Erna ist nach Obino gefahren. Hoffentlich kommt sie gesund wieder. Es ging nicht anders,einer von uns musste hin.“

Ein paar Tage später notierte Ernst Ludwig Kirchner in seinem Tagebuch:

„Nun ist das Drama im Haus meines Freundes zu Ende. Albert Müller ist tot und seine Frau und Kinder im Krankenhaus an Typhus erkrankt. Auch Scherer, mein anderer Freund und Schüler, liegt im Sterben an Gonokokken im Blut. So ist das, was ich hier anfing, die neue Schule, schon im Vergehen. Nur Camenisch…, ist gesund. Das ist wirklich tragisch“

Nach Hermann Scherers Tod löste sich die erste Gruppe Rot-Blau auf. Kirchner distanzierte sich entschieden von der zweiten Gruppe Rot-Blau, die 1928 von Paul Camenisch, Max Sulzbachner, Charles Hindenlang, Otto Staiger, Hans Stocker und dessen Bruder Coghuf gegründet wurde.

Bevor er die Basler Episode beendete, beteiligte sich Kirchner noch an der Organisation der Gedächtnisausstellungen in der Kunsthalle Basel, die 1927 Albert Müller und 1928 Hermann Scherer gewidmet waren. Im Andenken an seinen zu früh verstorbenen Freund schuf Kirchner einen Holzschnitt mit Müllers Bildnis, der das Ausstellungsplakat zierte. Zudem schrieb er für beide Ausstellungen jeweils das Katalog-Vorwort.

Nach dieser ebenso reichen wie schmerzlichen Erfahrung verzichtete Kirchner laut Cristina Sonderegger darauf, eine neue Malschule zu gründen, auch wenn ihn weiterhin zahlreiche Künstler besuchten.

Dies sind nur Angaben aus dem Essay von Cristina Sonderegger. Der Katalog enthält zudem historische Fotos und neue Abbildungen zu den Kirchner-Ausstellungen 1923 in Basel und 1924 in Winterthur, Abbildungen von Werken der Gruppe Rot-Blau, Informationen zu Kirchners ausgestellten Werken sowie biographische Notizen zum deutschen Expressionisten.

Da Davos a Obino. Ernst Ludwig Kirchner e gli artisti del gruppo Rot-Blau. Von Davos nach Obino und die Künstler der Gruppe Rot-Blau. Der gleichnamige, zweisprachige Katalog erschien bei Edizioni Casagrande, Bellinzona. ISBN 979-12-5559-066-8.

Das Cover des Katalogs ziert das Werk “Vor Sonnenaufgang/Prima dell’alba” von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1925/1926, Öl auf Leinwand, das aus der Sammlung Glarner Kunstverein stammt.

Werbung: Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei gleichbleibendem Preis. Spielzeug bei Amazon Deutschland. Laptops bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Ausstellungskritik / Katalogkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension von Ausstellung und Katalog im MASI, Lugano, vom 18. Januar 2025 um 16:42 Schweizer Zeit.