Fernande & Françoise. Erinnerungen an Picasso

Feb 25, 2023 at 16:34 734

Das Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster zeigte vom 1. Oktober 2022 bis am 22. Januar 2023 die Ausstellung Fernande & Françoise. Erinnerungen an Picasso als Teil der Picasso Celebration 1973–2023: 50 Ausstellungen und Veranstaltungen zur Feier Picassos.

Der im Wienand Verlag erschienene Katalog (Amazon.de) enthält unter anderem die 74 in Münster augestellten Werke von Pablo Picasso (1881-1973), darunter vor allem Lithographien und Radierungen sowie 9 Werke von Françoise Gilot (*1921) und 5 Fotografien von Ulrich Mack (*1934). Hinzu kommen im Rest des Buches viele weitere Fotos und Abbildungen sowie drei Essays. Markus Müller befasst sich mit „gemalten und geschriebenen Tagebüchern: Das Bild Picassos aus Perspektive seiner schreibenden Musen“ sowie mit „Françoise Gilot oder Wachstum im Schatten grosser Bäume“. Ann-Katrin Hahn wiederum analysiert das Thema „Fernande Olivier: Das Modell und sein Maler.“

Markus Müller schreibt, dass Kunst und Sexualität für Pablo Picasso untrennbar verwoben waren, dass Manneskraft für den Spanier Schöpferkraft war. Liebesabenteuer elementar wichtige Impulsgeber für das Œuvre des Spaniers. Dabei verweisst er auf den langjährigen Vertrauten des Künstlers, den französischen Fotografen Brassaï, der diesen Sachverhalt einmal sehr treffend wie folgt beschrieben habe: »Immer begehrend, des Gewonnenen überdrüssig wie der grosse Verführer aus Sevilla, unterwirft er sich stets nur einer Frau, um sich dann durch seine Arbeiten von ihr zu befreien. Ein Liebesabenteuer ist für ihn kein Selbstzweck, sondern das unentbehrliche Stimulans seiner schöpferischen Kraft und darum zu ernst, um flüchtig und heimlich sein zu können …« (Brassaï, Gespräche mit Picasso, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 81.).

Für die prägende Bedeutung der einzelnen Musen für das Œuvre von Pablo Picasso verweist Markus Müller auf die Periodisierung der französischsprachigen Picasso-Forschung, die seine Schaffensphasen teilweise mit dem Hinblick auf seine Musen unterteilte: »Période Fernande«, »Période Olga« oder »Période Françoise«. Mehrere seiner langjährigen Freunde und Vertrauten hätten festgestellt, dass seine Kunst den »Kurven seiner Liebe« folgte.

Diese enge Verzahnung von Œuvre und Biografie charakterisierte Picassos Biograf John Richardson einst mit dem paraxoxen Begriff vom »geheimen Exhibitionismus«, der dem Werk des Spaniers existenzielle Tiefe und Authentizität verleihe. Picasso selbst habe seine bildnerische Codierung und Sublimierung von persönlich Erlebtem einmal im Bild des gemalten Tagebuchs zum Ausdruck gebracht: »Bilder, ob fertig oder nicht, sind Seiten meines Tagebuchs und als solche haben sie ihre Bedeutung. Die Zukunft wird die Seiten aussuchen, die sie für wichtig hält (Picasso. Über Kunst. Aus Gesprächen zwischen Picasso und seinen Freunden, ausgewählt von Daniel Keel, Zürich 1982, S. 8).«

Markus Müller notiert, dass während Pablo Picasso offensichtlich in und mit seiner Kunst Tagebuch führte, haben zwei seiner Geliebten und Musen dies schreibend getan: Fernande Olivier und Françoise Gilot.

Fernande Olivier (1881–1966) dokumentierte die Jahre von 1905 bis 1913 in ihrem 1933 in Buchform publizierten Werk Picasso und seine Freunde (französische Erstausgabe: Fernande Olivier, Picasso et ses amis, Paris 1933; die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1957 unter dem Titel: Fernande Olivier, Neun Jahre mit Picasso. Erinnerungen aus den Jahren 1905–1913, Zürich 1957; ursprünglich wünschte die Autorin diesen Titel, der ihr jedoch vom französischen Verleger verweigert wurde, so Markus Müller in einer Fussnote).

In Picasso und seine Freunde spannt Fernande Olivier einen Bogen von der »Rosa Periode«, die im Zeichen der Gaukler- und Zirkuswelt steht, bis hin zur Entstehung und Entwicklung des Kubismus. Fernande beschreibt die frühen Pariser Schaffensjahre Picassos, der in dem heruntergekommenen Atelierhaus »Bateau Lavoir« im Pariser Quartier Montmartre wohnt. Sie schildert detailreich eine Periode ausgelassener Künstlerboheme und skizziert das bunte Panoptikum von bekennenden Individualisten jener Zeit, die den Montmartre bevölkern und zum Spanier in freundschaftlichem Verhältnis stehen.

Markus Müller unterstreicht, dass Françoise Gilot (*1921) hingegen in ihrem 1964 zunächst auf Englisch veröffentlichten Werk Leben mit Picasso (Françoise Gilot und Carlton Lake: Life with Picasso, New York, 1964; 1965 folgten die französische und die deutsche Ausgabe) das Jahrzehnt zwischen 1943 und 1954 beschreibt. Ihr Buch sei in gewisser Weise komplementär zu demjenigen von Fernande, da sie zwei sehr unterschiedliche Lebens- und Schaffensphasen Picassos schilderten: einerseits die Anfänge in Paris, die Zeit des Boheme-Lebens und der materiellen Entbehrungen, andererseits die Existenz als international renommierter Künstler und von Museumsdirektoren und Galeristen umworbener Star der Kunstwelt. Beide autobiografischen Erinnerungsbücher der Picasso-Musen eint laut Markus Müller der Umstand, dass sie jeweils etwa zehn Jahre an der Seite des Spaniers beschreiben.

In Frankreich begründete der Schriftsteller Charles-Augustin Sainte-Beuve im 19. Jahrhundert eine Schule der Kunstkritik, die den Künstler und sein Werk als untrennbare Einheit auffasst. Für Sainte-Beuve bilden biografische Fakten, Korrespondenzen, historische Informationen über die Lebensumstände berühmter Künstler kostbare Mosaiksteine für das tiefere Verständnis ihrer Meisterwerke. Markus Müller unterstreicht, dass der Zeitzeuge und Picasso-Spezialist John Richardson gedanklich ganz in dieser Deutungstradition steht, wenn er darauf hinweist, dass gerade vor dem Hintergrund der dezidiert biografisch geprägten Kunst Picassos Details über sein Privatleben von herausragender Bedeutung sind.

Bei Markus Müller ist zu lesen, dass Fernande Olivier in Wirklichkeit Amélie Lang hiess und am am 6. Juni 1881 als uneheliche Tochter einer gewissen Clara Lang zur Welt gekommen war. Der Name ihres Vaters ist nicht bekannt, aber es könnte ein Herr Bellevallé gewesen sein, ein Nachname, den Fernande 1907 kurzzeitig verwendete. Fernande Olivier floh vor einem gewalttätigen Ehemann. Sie zog mit dem Maler Laurent Debienne (eigentlich Gaston de Labaume) auf den Montmartre. Sie verdingte sich dort als Modell für Studenten der Ecole des Beaux-Arts und akademische Maler. So posierte sie als Modell für den katalanischen Maler Joaquim Sunyer, dessen Geliebte sie wurde, was dessen Landsmann und Freund Picasso nicht daran hinderte, sie stürmisch zu umwerben. 1905 zog sie zu ihm in die spartanischen Räumlichkeiten, die er im Atelierhaus »Bateau Lavoir« auf dem Montmartre bewohnt.

Im Katalog zur Ausstellung Fernande Olivier et Pablo Picasso, dans l’intimité du Bateau-Lavoir im Musée de Montmartre – Jardins Renoir vom 14. Oktober 2022 bis am 19. Februar 2023 war zu lesen, dass Fernande Olivier unter dem Pseudonym «Fernande Olivier» als professionelles Modell von 1900 bis 1905 für Künstler wie Giovanni Boldini, Ricard Canals, Fernand Cormon, Maxime Dethomas, Jean-Jacques Henner, Walter MacEwen, François Sicard, Joaquím Sunyer und andere arbeitete. Dort steht zudem, dass Fernande Olivier 1901 ins Bateau-Lavoir zog, und zwar ins neue Atelier von Laurent Debienne.

Zurück zum Essay von Markus Müller: Das »Bateau-Lavoir« war ursprünglich eine Klavierfabrik, danach eine Schlosserwerkstatt, ehe es der Eigentümer 1889 in ein Ateliergebäude umwandelte. Zur Zeit von Picassos Einzug trug es noch den Spitznamen »La maison du trappeur«, in Anspielung an einen kanadischen Trapper, der dort angeblich einmal gewohnt haben soll. Das Gebäude ähnelte den Waschbooten auf der Seine, weshalb es »Waschaus-Schiff« (Bateau-Lavoir) getauft wurde. In ihren Erinnerungen erwähnt Fernande Olivier neben Malern, Bildhauern und Literaten zudem Humoristen, Schauspieler, Wäscherinnen, Näherinnen und umherziehende Gemüsehändler, die dort wohnten.

Markus Müller notierte, dass zu Beginn dort neben französischen vor allem spanische Künstler lebten. Paco Durrio war einer der ersten, ihm folgten um 1901 Ricard Canals und Joaquim Sunyer, 1903 Picasso und 1906 Juan Gris. Zu Picassos Zeit lebten neben Malern wie Kees van Dongen, Auguste Herbin und (kurzzeitig) Amedeo Modigliani auch einige mit Picasso befreundete Schriftsteller im »Bateau-Lavoir«, darunter sein alter Gefährte Max Jacob und seine neuen Freunde André Salmon und Pierre Mac Orlan.

Picasso bewohnte zwei Räume im Erdgeschoss. Das vergleichsweise grosse Atelier bot dank einer Reihe von Fenstern gutes Licht, doch der Künstler zog es vor, nachts im Licht einer Petroleumlampe zu arbeiten. Das gesamte Gebäude machte einen verwahrlosten Eindruck. Es gab weder Gas noch Strom. Die einzige Toilette befand sich auf einem Treppenabsatz des Kellergeschosses; ein dunkles, schmutziges Loch, dessen Tür sich nicht verriegeln liess. Gleich daneben befand sich der einzige Wasserhahn für die rund 30 Ateliers.

Am 3. September 1905 zog Fernande Olivier bei Pablo Picasso ein, nachdem dieser ein Jahr lang um sie geworben hatte. Er stellte sicher, dass von nun an keinen anderen Künstlern mehr Modell stand. Als Picassos Geliebte war es ihre Aufgabe, Picasso ein Zuhause zu bereiten, ihm Gesellschaft zu leisten, ihre gemeinsamen Freunde zu unterhalten und unliebsame Besucher abzuwimmeln, wenn er bis tief in die Nacht arbeitete. Zu Beginn ihrer Beziehung mussten sie dabei mit sehr wenig Geld haushalten.

Fernande Olivier zeigte laut Markus Müller Interesse an der Malerei, aber Picasso weigerte sich, ihr Unterricht zu geben. Sein Biograf John Richardson berichtete, dass der Künstler Jahre später in seinem Besitz auf eine Mappe mit ihren Zeichnungen stiess und lobte, dass sie sich klugerweise von Marie Laurencin statt von ihm habe inspirieren lassen. Fernandes Thema seien hauptsächlich Selbstportraits mit grossen, vereinfachte Gesichter mit grossen, katzenhaften Augen gewewen. Bedauerlicherweise seien diese Arbeiten heute verloren.

Dies sind nur einige Ausschnitte aus einem Essay in diesem lesenswerten Katalog, herausgegeben von Markus Müller für das Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster: Fernande & Françoise. Erinnerungen an Picasso. Wienand Verlag, 2022, 160 Seiten mit Beiträgen von Ann-Katrin Hahn und Markus Müller. Das Buch/Den Katalog bestellen bei Amazon.de.

Zum Thema Picasso Celebration 1973–2023: 50 Ausstellungen und Veranstaltungen zur Feier Picassos siehe zudem den französischen Artikel Fernande Olivier et Pablo Picasso. Englische Artikel zu Picasso.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Fernande & Françoise. Erinnerungen an Picasso (Amazon.de) sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Artikel vom 25. Februar 2023 um 16:34 deutscher Zeit.