Giacometti. Die Spielfelder

Mrz 25, 2013 at 00:00 311

Noch bis am 19. Mai 2013 ist in der Hamburger Kunsthalle die Ausstellung Giacometti. Die Spielfelder zu sehen. Von den surrealistischen Modellen bis zur Chase Manhattan Plaza zu sehen. Ausgestellt sind über 200 Werke, darunter 40 Skulpturen, 30 Ölgemälde, Zeichnungen und Fotografien aus allen Werkphasen von Alberto Giacometti, womit seine ganze Spannweite und Aktualität dokumentiert werden soll.

Erstmals ist in Deutschland das surrealistische Frühwerk des Schweizers zu sehen. Bereits in den 1930er Jahren richtet Alberto Giacometti die Skulptur horizontal aus. Mit tischbrettgrossen „Spielfeldern“ habe er laut den Ausstellungsmachern das Konzept der „Skulptur als Platz“ entwickelt. Die Ausstellung spannt einen weiten Bogen bis zu den spektakulären und überlebensgrossen Figuren, die der Künstler zur Gestaltung des Vorplatzes der Chase Manhattan Bank in New York 1960 entwarf. Die drei fast drei Meter hohen Figuren Schreitender Mann II von 1959-60, Grosse Stehende II von 1960 und Grosser Kopf von 1960 bilden den Höhepunkt der Schau. Allerdings wurde keines der frühen wie späteren Schaumodelle und der späteren Platzentwürfe je endgültig als Werke im öffentlichen Raum umgesetzt. Dennoch habe Alberto Giacometti mit seinen Arbeiten die Umgebung zum Teil seines Werkes gemacht, weshalb er die „Environment Art“ der 1960er Jahre vorausgenommen habe.

Die Skulptur als Spielfeld zwischen Kunst, Leben und Tod, der Betrachter als Spielfigur sehen die Ausstellungsmacher nicht nur in Giacomettis surrealistischen „Spielbrett-Skulpturen“, sondern auch im Atelier des Künstlers angelegt. Fotos verschiedener Fotografen belegen die These des Ateliers als Bühne. Siehe hierzu: Fotografien von Ernst Scheidegger.

Bereits in den 1930er Jahren bezieht Alberto Giacometti den Betrachter mit von ihm auszulösenden Bewegungen in seine Kunst ein, so mit der Schwebenden Kugel. Er entwirft Käfig-Skulpturen sowie surrealistische Räume mit seinem Platzmodell, mit radikal neuen, weil horizontal ausgerichteten Werken. In den Spielbrett-Skulpturen verdränge der Künstler den Raum nicht mehr, sondern biete ih dar. Werk und Sockel fielen ineinander. Realraum und Realzeit würden Teil der Skulptur. Alberto Giacometti selbst sprach bezüglich seiner Skulpturen von „Bewegungen in gegenseitiger Beziehung zueinander“ auf der verbindenden Grundplatte – wie auf einem Spielfeld oder Schachbrett. Dabei behandelt der Künstler ernste Themen wie Eros, Leben und Tod. Seine Zeichnungen zu diesen Werken verdeutlichten das Experimentieren mit teils veränderbaren Distanzen zwischen den Elementen sowie mit dem Wechsel von Aufsicht und Ansicht.

Alberto Giacometti ersann neue Perspektiven und neue Grössenverhältnisse, so in der bedeutsamen Skizze Progetti per cose grandi all’aperto, in welcher er winzige Menschen in die Skulpturen zeichnete. Er spreche so mentale, psychisch fluktuierende Beziehungen an und verweise gleichzeitig auf monumentale Platzgestaltungen im öffentlichen Raum. Wie oben erwähnt, wurde kein surrealistisches Projekt für den öffentlichen Raum je verwirklicht. Einzig vom Modell für einen Platz fertigte er einzelne Elemente in grossem Massstab aus Gips, wohl um so einen Auftraggeber zu finden. Diese bis zu zwei Meter hohen Werke sind verschollen. Sie zeugten von der Suche nach einer idealen Platzgestaltung zwischen Kunst und Leben. Über Jahre hinweg positionierte er sie immer wieder neu in seinem Atelier, wie Fotografien belegen.

Das Verhältnis von Distanz und Dimension rückte ins Zentrum seiner Kunst. 1941 versuchte er in Genf aus der Erinnerung „in Perspektive gesehene Figuren und Köpfe“ zu realisieren, wobei diese auf Stecknadelgrösse schrumpften. Sie schienen nur noch durch ihre grossen Sockel bzw. Doppelsockel sichtbar, in der Realität verankert.

1946 reflektierte Alberto Giacometti den programmatischen Text Der Traum, das Sphinx und der Tod von T. die eigene Person im Bezug zum Anderen, zu Raum und Zeit und entwarf eine „Raum-Zeit-Scheibe“, um die Vernetzung seiner Gedanken, Erlebnisse und Ängste zu materialisieren. Der Künstler schrieb hierzu: „Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass alle Ereignisse gleichzeitig um mich herum existierten. Die Zeit wurde horizontal und kreisförmig, war zugleich räumlich … Eine Scheibe von ungefähr zwei Metern Durchmesser… Mit einem seltsamen Vergnügen sah ich mich auf dieser Raum-Zeit-Scheibe umherspazieren…“

Laut den Ausstellungs- und Katalogmachern ermöglicht der horizontale, begehbare Platzentwurf die örtliche Vergegenwärtigung von Zeitlichkeit und vermischt persönliche Erinnerungsszenerie mit überpersönlichem Ereignisplatz. Die Vieldeutigkeit seiner surrealistischen Spielbrett-Skulpturen habe bereits auf diesen Prinzipien beruht. Die nie verwirklichte Raum-Zeit-Scheibe erinnere insbesondere an das Modell für einen Platz.

Alberto Giacometti meinte, er habe nach 1945 geschworen, dass er seine Statuten nicht immer kleiner werden lassen wolle. Aber da sei folgendes gesehen: „Die Höhe konnte ich beibehalten, aber sie wurden schmal, schmal… lang und fadendünn.“

Sein 18 Quadratmeter grosses Atelier empfand Alberto Giacometti je länger je grösser. Alles in seinem Atelier schien miteinander zu korrespondieren. Seine Werke zeugen laut den Ausstellungsmachern von einem immer neuen Blick auf sein Atelier, in dem Raumgrenzen und Rauminhalte zu verschwimmen begannen. Gegenstände, Werke und der Künstler bildeten eine Einheit, welche befreundete Fotografen für immer festhielten. Das Atelier wurde zur Experimentieranordnung. Auf dem Boden befand sich eine rote Markierung für den Modellstuhl. Alberto Giacometti positionierte sein Modelle in einem konstanten Abstand von 1,40 Meter und in einem Winkel von 45 Grad rechts hinter seiner Staffelei.

Der Künstler schuf keine eigentlichen Portraits im klassischen Sinn, sondern studierte seine Wahrnehmung des Gegenübers und deren Veränderung. Je länger er ein Modell ansah, je fremder wurde ihm das Gesicht. Wie schon in seiner surrealistischen Zeit blieb er unsicher, was die immer neuen Bezüge zueinander von Personen, Dingen und Räumen anging.

Ab 1958 schuf Alberto Giacometti die „Schwarzen Köpfe“. Sie sanken durch immer neue Übermalung in eine unauslotbare Raumtiefe ab. Die Inkonsistenz der Wahrnehmung blieb des Künstlers Thema.

Die einzige je realisierte Skulptur im Aussenbereich, die Grosse Figur von 1929, kann wie spätere Werke als Mythos des Lebens, als Baum interpretiert werden.

Die dünnen Figuren von 1947 bis 1950 verband Alberto Giacometti ab 1953 mit naturnaheren stehenden Akten seiner Frau Annette. Beide Ansätze verband er in den Frauen für Venedig für die Biennale von 1956. Die idolhaften Skulpturen sind verschiedene Zustände einer Figur, festgehalten in Abgüssen. Sie sind Zeichen von Giacomettis Suche nach Präsenz. Aus ihnen heraus entwickelte er später die Grande Dame für die Chase Manhattan Plaza.

1958 erhielt der Schweizer den Auftrag für die Gestaltung des Vorplatzes der Chase Manhattan Bank in New York. Endlich war die seit 30 Jahren gesuchte Gelegenheit gekommen, ein Werk für den öffentlichen Raum zu schaffen. In seinem Atelier schuf er immer neue Formen in Gips und Ton. Auf Drängen des Auftraggebers entstanden 1960 einige Werke in Bronze. Doch dann sagte die Chase Manhattan das Projekt ab, unter anderem, weil die Figuren nicht als die erwartete Gruppenkomposition erschienen, was einem Missverständnis von Giacomettis Absicht entsprang. Der Künstler arbeitete weiter an seinen Skulpturen. Variierte ihre Positionierungen zueinander und präsentierte diese auf verschiedenen Ausstellungen. 1965 erst reiste er erstmals nach New York. Nachts ging er mit seiner Frau Annette, einem Freund und dem Architekten auf die Chase Manhattan Plaza. Er platzierte die drei an verschiedenen Standorten, um die Dreiergruppe zu simulieren. Zuletzt hatte er die Idee, eine 7,80 Meter hohe stehende Frau neben dem Wolkenkratzer zu platzieren. Doch der Tod ereilte ihn, bevor er die neue Idee angehen konnte.

Laut den Ausstellungsmachern finden die drei grossen Themen, die Alberto Giacometti in der Skulptur der Nachkriegszeit fast ausschliesslich beschäftigten, ihren Höhepunkt in der Chase-Manhattan-Gruppe. Die Dreierkonstellation sei schon in seinem Frühwerk angelegt gewesen. Der Schreitende können als Inbegriff des strebenden Lebens interpretiert werden, der Grosse Kopf als Symbol des schauenden Bewusstseins und die Grosse Stehende als Kultbild. Es seien drei Skulpturen zwischen Würde und Hinfälligkeit.

Giacometti. Die Spielfelder. Von den surrealistischen Modellen bis zur Chase Manhattan Plaza. Der Katalog der Hamburger Kunsthalle mit 175 Seiten und Texten von Friedrich Teja Bach, Casimiro de Crescenzo, Annabelle Görgen, Ulf Küster und Imke Wartenberg ist die Grundlage für diesen Artikel.

Giacometti. Die Spielfelder. Die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle noch bis am 19. Mai 2013. Buchrezension vom 25. März 2013. Rezension hinzugefügt zu unseren Seiten im neuen Design am 18.11.2020.