György Dalos: Das System Orban

Aug 16, 2022 at 18:39 900

Der freie Autor und Historiker György Dalos legt mit dem Buch Das System Orban. Die autoritäre Verwandlung Ungarns (Amazon.de) keine Biografie, sondern seine Analyse der Transformation Ungarns zu einer „diskursfreien Demokratie“ durch Viktor Orban (*1963) vor.

Die Kapitel drehen sich um Themen wie die Zweidrittelmehrheit von Orbans Partei Fidesz im Parlament, die liberale Systemkritik, den Kulturkampf, das Zeitungssterben, das Recycling der Geschichte, jüdisches Leben, die Bewunderer von Viktor Orban und seinem System, die Kádár-Nostalgie und vieles mehr.

In seiner Einleitung erzählt György Dalos einen der bekanntesten Witze aus der Zeit des Kommunismus: «Mit welchem System ist der Sozialismus am schlechtesten vereinbar? – Mit dem Nervensystem.»

Mit dem Triumph von Viktor Orbans Fidesz-Partei bei der Parlamentswahl 2010 verkündete das Parlament mit den Stimmen der Regierungsparteien, trotz des Protestes der Opposition, ein feierliches Manifest, in dem es heisst:

„Die Nationalversammlung erklärt, dass im Ergebnis der April-Wahlen ein neuer Gesellschaftsvertrag entstanden ist, mit dem sich die Ungarn für ein neues System, des Systems der nationalen Zusammenarbeit entscheiden. Die ungarische Nation verpflichtet mit dieser historischen Tat die zu begründende Nationalversammlung und die in Entstehung befindliche neue Regierung dazu, entschlossen, kompromisslos und unerschütterlich die Arbeit zu lenken, mit der Ungarn das System der nationalen Zusammenarbeit aufbauen will.“

Laut György Dalos wurde von da an der Begriff „System“ zu einem positiv konnotierten Bestandteil des Selbstverständnisses der Fidesz-Regierung und der Ära-Orban.

Zur frühen Fidesz-Partei von Viktor Orban merkt György Dalos an, dass es die einzige politische Formation ohne sichtbare innere Diskussionen, Fraktionsbildungen und personelle Wechsel war. Nach der skandalösen «Lügenrede» des sozialliberalen Regierungschefs Ferenc Gyurcsány, in der dieser gestand, die Wahlen 2006 durch falsche Erfolgsberichte gewonnen zu haben, stiegen die Siegeschancen der rechten Opposition explosionsartig. Vor den Wahlen 2010 sagte Parteichef Viktor Orban vor Anhängern:

„Wir versuchen ein Regierungssystem aufzubauen, das politische Fragen langfristig in ein großes zentrales Kraftfeld einordnet. … Es geht nicht einfach darum, dass die Linke als Regierung heruntergekommen ist, sondern dass dieser Niedergang auch die Kultur schaffende Gemeinschaft mit ihrer sozialliberalen Werteordnung diskreditiert hat.“

Für Gyorgy Dalos deutete dies auf den Wunsch nach der oben erwähnten „diskursfreien“ Machtausübung sowie auf einen kulturellen Elitenwechsel hin. Es ging Orban um einen Systemwechsel. Und er hat diesen tatsächlich hinbekommen. 2018 holte er mit seinem Fidesz und dem kleinen Partner Christlich-demokratische Volkspartei (KDNP) 66% der Mandate mit bloss 49,2% der Wählerstimmen. Mit der für Verfassungsänderungen nötigen Zweidrittelmehrheit konnte Orban so schalten und wollten wie er wollte. Als Ende November 2017 der Oberste Staatsanwalt seinen Jahresbericht vorlegte – laut György Dalos eine der bedeutendsten Rechenschaftslegungen für die parlamentarische Arbeit -, waren nur 10 Parlamentarier anwesend, während dem 189 durch Abwesenheit glänzten.

Bei einer Rede 2017 lobte Viktor Orban den Reichsverweser Miklós Horthy (zusammen mit anderen Politikern) als „Ausnahme-Staatsmann“. Doch zur Ära Horthy gehört die Teilnahme an Hitlers Krieg, die Deportation einer halben Million Juden, von den Deutschen mit Wissen und Beteiligung von Horthys Gendarmerie und Beamtenapparat durchgeführt, so György Dalos.

Der Autor erwähnt Lőrinc Mészáros nur einmal, und zwar im Kapitel „Das Zeitungssterben“ im Zusammenhang mit dem Verkauf der Firma Mediaworks des österreichischen Unternehmers Heinrich Pecina an eben diesen „reichsten Mann Ungarns, Grossunternehmer und persönlichen Freund Viktor Orbáns“; Pecina schloss direkt vor der Verkauf die einst grösste, heruntergewirtschaftete Tageszeitung Népszabadság (Volksfreiheit), die ein Teil von Mediaworks war. Zur Beziehung von Lőrinc Mészáros zu Viktor Orbán hätte man hier gerne mehr erfahren.

Im Zusammenhang mit dem anderen Flaggschiff der ungarischen Presse, der 1938 gegründetem Zeitung Magyar Nemzet (Ungarische Nation), damals ein liberal-konservatives Blatt, das sich eindeutig gegen Nazis positionierte, erwähnt György Dalos den Oligarchen Lajos Simicska. Dieser sei ein Sandkastenfreund von Orbán und Finanzchef des Fidesz gewesen. In der Ära Simicska mutierte die Zeitung immer mehr zu einem rechten Propagandablatt, zum Gegenpart von Népszabadság. 2015 allerdings ging die Freundschaft in die Brüche. Simicska gab der Zeitung daraufhin, quasi aus Rache an Orbán, ein fast liberales Gesicht. Magyar Nemzet erwies sich allerdings ebenfalls als unrentabel, weshalb der Oligarch 2018 die Publikation einstellte. Damit verschwand die letzte wichtige Oppositionszeitung des Landes von der Bildfläche, so György Dalos. Doch schon bald gelang es der wenig erfolgreichen Hauspostille von Fidesz, Magyar Idők (Ungarische Zeiten, vermutete Auflage 3000 Exemplare), die altehrwürdige Marke zu übernehmen. Nun gibt es unter der Bezeichnung Magyar Nemzet sowohl in der Print- als auch der Onlineversion nur noch zügellose Fidesz-Agitation, so unser Autor, der leider auch zur Beziehung von Lajos Simicska zu Viktor Orbán sonst nichts berichtet.

Im Kapitel zur Parteienlandschaft erfährt der Leser, dass der Fidesz einst der Liberalen Internationale angehörte und diese Mitgliedschaft mit dem Rivalen SZDSZ teilte. Zwei Dudelsackspieler passen nicht in ein Gasthaus, merkt Györgi Dalos mit einem ungarischen Sprichwort an. Angesichts der später zu gewinnenden konservativen Wähler verabschiedete sich Fidesh unsentimental von allen liberalen Jugendsünden. Selbst der Mentor des Fidesz, Otto Graf Lambsdorff, habe im Juli 2000 zu seinem Entsetzen erst aus der Presse erfahren, dass die von ihm protegierte politische Gemeinschaft über Nacht an die Tür der CDU bzw. der Europäischen Volksparteien geklopft hatte. Viktor Orbán erwachte am nächsten Morgen als europäischer Christdemokrat, und dies sollte noch nicht die letzte Station seiner politischen Evolution gewesen sein, so unser Autor, der anmerkt, dass sich der Fidesz in einem Punkt von allen anderen Parteien der Nachwendezeit unterscheidet: Er ist eine homogene Organisation mit Führerprinzip.

György Dalos erwähnt drei zwischen 2012 und 2019 entstandene apologetische Bücher zu Viktor Orbán, darunter jenes von mir besprochene von Igor Janke, polnischer Publizist, Unternehmensberater und Vorsitzender des Warschauer Thinktanks «Instytut Wolności»: Napastnik: opowieśc o Viktorze Orbánie (Der Stürmer: Erzählung über Viktor Orbán) im Jahr 2012. Das Buch erschien 2013 in ungarischer und 2014 in deutscher Übersetzung im Passauer Schenk Verlag unter dem Titel Viktor Orbán, ein Stürmer in der Politik. Eine laut György Dalos unbeachtet gebliebene englische Version erschien danach noch bei einem unbekannten ungarischen Verlag. Igor Janke zeigte sich über die nachträgliche Entwicklung Orbans nicht begeistert, insbesondere nicht über dessen Umgang mit Putin. Es kam zu keiner Neuauflage des Buches. Der Antikommunismus in Polen ist gleichzeitig antieuropäisch und antirussisch, der in Ungarn dagegen ist antieuropäisch, aber gleichzeitig macht man mit Moskau Geschäfte, merkt György Dalos an.

Am Ende seiner Buchkritik von Gábor Fodor: Die Orbán-Regel aus dem Jahr 2021 benutzt György Dalos zum ungarischen Politikwissenschaftler und «strategischen Direktor» der Fidesz-nahen Stiftung Jahrhundertende, der zum engeren Team des Regierungschefs gehört, Worte wie Hofberichterstatter und Personenkult und merkt kritisch-ironisch an, Fodor habe (bei all seinen Fussball-Metaphern) vergessen, dass auch im Fussball ein Eigentor möglich sei.

Im Kapitel „liberale Systemkritik“ geht György Dalos unter anderem auf den von Bálint Magyar herausgegebenen Sammelband Der ungarische Polyp. Der postkommunistische Mafiastaat ein. Darin schreibt Magyar selbst, man könne ein System kaum als Demokratie bezeichnen, in dem Grundinstitutionen wie Präsident der Republik, Verfassungsgericht, Rechnungshof, Budgetrat, Kartellamt, Währungsrat, Nationalbank und Nachrichtenagentur jeweils regierungsnah agierten. Magyar schreibt zudem, dass es sich in Ungarn keineswegs um eine «deformierte, amputierte oder defizitäre Demokratie» handle, «die trotzdem noch eine Demokratie wäre, wenn auch eine eingeschränkte», sondern um ein Phänomen, das «nicht in den traditionellen Definitionsrahmen von Diktatur und Demokratie hineinpasst». Begrifflich komme es weder der einen noch der anderen Herrschaftsform gleich.

Laut der liberalen Systemkritik sind Nationalismus und Christentum homogenisierende Faktoren unter Orban. Die Signalwörter des neuen Systems seien Arbeit, Ordnung, Zuhause, Ungartum und Familie. Viele Politiker sind Geschäftsleute. Die Grenzen zwischen Staatlichem und Privatem vermischen sich, was eine korrupte Situation produziere.

Im Kapitel „Sex, Lügen und Videos“ kommt unter anderem jener Fidesz-Abgeordnete vor, der sich über eine Regenrinne vor der Polizei retten wollte, die eine Homosexuellen-Orgie während des Covid-Lockdowns stürmte. Der Ehemann und Familienvater ging durch die Weltpresse – viel Schadenfreude – und musste sich aus der Politik verabschieden, denn ein Schwuler im innersten Machtbereich, das geht gar nicht unter Orban.

Im letzten Kapitel geht György Dalos auf die „Vorgeschichte“ von Viktor Orbán ein. Der Stipendiat der Soros-Stiftung und Vizepräsident der Liberalen Internationale wurde zum Konservativen, indem er unter anderem begann, seinem Antikommunismus eine nationale Färbung zu geben, so unser Autor.

Dies und noch viel mehr ist diesem neuen Buch von György Dalos zu entnehmen, das neben viel Information einige Schwächen und Lehrstellen aufweist.

György Dalos: Das System Orban. Die autoritäre Verwandlung Ungarns. Verlag C.H. Beck, März 2022, 224 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Siehe zudem die Rezensionen von Paul Lendvai: Orbáns Ungarn und Igor Janke: Viktor Orban.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension von György Dalos: Das System Orban. Die autoritäre Verwandlung Ungarns. hinzugefügt am 16. August 2022 um 18:39 deutscher Zeit. Nachträglich überall „y“ anstelle von „i“ am Ende von György eingefügt.