Henry Kissinger: Staatskunst

Jul 21, 2022 at 12:29 922

In seinem bei C. Bertelsmann erschienen neuen Buch Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert (Amazon.de), dessen Originalausgabe ebenfalls 2022 unter dem Titel Leadership. Six Studies in World Strategy (Amazon.com, Amazon.de) bei Penguin Press in New York erschienen ist, schreibt Henry Kissinger zurecht, strategische Staatslenker brauchen auch die Eigenschaften des Künstlers. Zudem meint er, kluge Entscheidungen erfordern eine Mischung aus politischen, ökonomischen, geografischen, technischen und psychologischen Erkenntnissen, alle geprägt von einem historischen Instinkt.

Für Henry Kissinger entsteht Geschichte aus der Kombination von Charakter und Umständen. Die sechs von ihm in Staatskunst porträtierten Politiker waren alle durch die Umstände ihrer dramatischen historischen Epoche geprägt. Der Autor unterstreicht, er habe das Glück gehabt, alle sechs auf dem Höhepunkt ihres Wirkens kennenzulernen und eng mit Richard Nixon zusammenzuarbeiten. Als Erben einer Welt, deren Sicherheiten sich durch den Krieg aufgelöst hatten, definierten sie nationale Aufgaben neu, eröffneten neue Perspektiven und gaben einer Welt im Übergang eine neue Struktur.

Bei Konrad Adenauer erkennt Henry Kissinger die Strategie der Demut, bei Charles de Gaulle jene des Willens, Richard Nixon habe eine Strategie des Gleichgewichts verfolgt, Anwar el-Sadat eine der Überwindung, Lee Kuan Yew eine der Spitzenleistung und Margaret Thatcher eine der Überzeugung.

Interessant ist Henry Kissingers Anmerkung zur utopischen Sicht der politischen Lage, die vor dem Ersten Weltkrieg 1910 mit dem Bestseller des englischen Journalisten Norman Angell Die große Täuschung ihren Höhepunkt erreicht habe. Darin habe dieser die Ansicht vertreten, dass die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz der europäischen Mächte einen Krieg zu kostspielig gemacht habe. Das kommt uns heute bekannt vor.

Henry Kissinger unterscheidet zwischen prophetischen und staatsmännischen Führungsgestalten. Zu den prophetischen zählt er den ägyptischen Pharaoh Echnaton, die Franzozen Jeanne d’Arc und Robespierre sowie Lenin und Gandhi. Churchill in seinen »Jahren in der Wildnis« und de Gaulle als Führer der »Freien Franzosen« gehörten in die prophetische Kategorie, ebenso Sadat auf dem Höhepunkt seines Lebens. In der Praxis gelang allen sechs in diesem Buch porträtierten Staatslenkern eine Synthese der beiden Richtungen, allerdings mit einer Neigung hin zum Staatsmännischen.

Das Risiko für den Propheten bestehe darin, dass in einer ekstatischen Stimmung womöglich die Menschlichkeit zugunsten einer gewaltigen Vision geopfert und das Individuum auf ein Objekt reduziert werde.

Im 20. Jahrhundert hätten viele Gelehrte, etwa der französische Historiker Fernand Braudel, darauf bestanden, Individuen und die Ereignisse, die sie prägen, als reine »oberflächliche Störungen« und »Schaumkämme« in einem größeren Meer mit gewaltigen und unerbittlichen Gezeiten zu sehen. Henry Kissinger merk an, ironischerweise habe es kein effizienteres Werkzeug für die unheilvolle Machtkonsolidierung von Individuen gegeben als die Theorien zu den unausweichlichen Gesetzen der Geschichte.

Der Autor unterstreicht, die Physik habe festgestellt, dass sich die Realität durch den Prozess der Beobachtung verändere. Auch die Geschichte lehre, dass Männer und Frauen ihre Umgebung durch ihre Deutung dieser Umgebung formten.

Henry Kissinger schreibt, sein Buch beschäftige sich mit Führungspersönlichkeiten, die in dem endlosen Kampf zwischen dem Gewollten und dem Unausweichlichen begriffen hätten, dass menschliches Handeln das, was unausweichlich scheine, unausweichlich mache. Sie seien bedeutsam gewesen, weil sie die Umstände überwanden, die sie geerbt hätten. Dadurch hätten sie ihre Gesellschaften an die Grenzen des Möglichen geführt. Alle hätten sich für ein neues Ziel in ihrer jeweiligen Gesellschaft eingesetzt und dieses mit lebendigen Traditionen zu verbinden gesucht.

Für den Schreibenden ist Konrad Adenauer bei weitem der bis heute bedeutendste Bundeskanzler. Henry Kissinger teilt dieses Urteil, denn Adenauer gehört zu den sechs in seinem neuesten Werk porträtieren Vertretern des Staatskunst. Kissinger beschreibt Deutschlands Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs als völlige militärische Niederlage, die zusammen mit dem totalen Verlust an moralischer Integrität und internationaler Legitimität unaufhaltsam zur fortschreitenden Auflösung der deutschen Zivilgesellschaft geführt habe. Diesen Vorgang beobachtete der 1923 in Fürth geborene und 1938 in die USA ausgewanderte Kissinger als Teil der 84. Infanteriedivision der US-Armee. Der Autor hat Weltgeschichte miterlebt und bedeutende Staatenlenker kennengelernt. Er ist kein Historiker, der die Ereignisse und Personen nur aus Archiven, Büchern und anderen Dokumenten kennt.

Natürlich kann Henry Kissinger nicht die ganze Geschichte aufrollen und konzentriert sich auf einige Ereignisse, Schlaglichter, Entscheidungen, die seine Beurteilung der sechs porträtierten Staatsmänner untermauern. Michael Howard überschrieb 1994 in Foreign Affairs seine Rezension von Kissingers Diplomacy mit den Worten: „The World According to Henry“. Und genau darum geht es auch in Staatskunst.

Warum der Autor wie Helmut Schmidt den Ägypter Anwar el-Sadat als herausragenden Staatsmann sieht, ist ab Seite 281 zu lesen. Die Nachwelt habe die Leistungen von fünf der in Staatskunst vorgestellten Persönlichkeiten anerkannt und in die Geschichtsschreibung ihrer Länder aufgenommen. Dies gelte jedoch nicht für Anwar el-Sadat, Präsident Ägyptens von 1970 bis 1981. Seine politischen Triumphe seien in erster Linie Konzeptionen geblieben, deren Umsetzung durchs seine Ermordung verhindert worden sei. Seine wenigen politischen Erben in der Region hätten lediglich die praktischen, nicht aber die visionären Aspekte seiner Bemühungen übernommen, und keiner von ihnen
habe jenen zielstrebigen Mut bewiesen, der Anwar el-Sadat auszeichnete. Seine höheren moralischen Ziele seien von so gut wie allen ignoriert worden, obwohl gerade sie die Grundlage für die israelisch-palästinensischen Oslo-Abkommen, den Frieden zwischen Israel und Jordanien und die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, dem Sudan und Marokko bildeten. Das eigentliche Ziel von Anwar el-Sadat sei nicht der Friedensvertrag mit Israel gewesen, sondern ein historischer Wandel der ägyptischen Lebensweise, die Wiederherstellung der Würde und Hoffnung des ägyptischen Volkes sowie de Schaffung einer neuen Ordnung im Nahen Osten als Beitrag zum Frieden in der gesamten Welt.

Zur Rückgabe des Sinai sagte Sadat auf einem Flug zu Kissinger, da er mitgeholfen habe, den ersten Schritt zu tun, sollte er zur Feier mit den Ägyptern kommen. Nach einer der für ihn so typischen langen Denkpausen habe er gemeint, er solle lieber nicht kommen. Für die Israelis werde es sehr schmerzhaft werden, dieses Gebiet aufzugeben. Kissinger solle einen Monat später kommen. Dann könnten sie zwei allein auf den Berg Sinai fahren, wo er eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche bauen wolle. Das wäre eine bessere Gedenkveranstaltung. Sadat wurde vor der Rückgabe des Sinai ermordet.

Tiefgreidende Veränderungen seien nicht möglich, ohne tief verwurzelte und verkrustete Interessen zu
verletzen und wichtige Wählergruppen zu vergrätzen. Alle sechs Porträtierten hätten Widerstand zu spüren bekommen, der oft aus ehrenhaften Motiven und manchmal von angesehenen Gegnern geleistet worden sei. Das sei der Preis, der zu zahlen sei, wenn man Geschichte schreiben wolle.

Henry Kissinger sieht seit Ende des 20. Jahrhunderts eine Verschiebung von der gedruckten zur visuellen Kultur, die sich mit der Nutzung des Internets und der sozialen Netzwerke verfestige. Kissinger sieht dabei vier Verzerrungseffekte: Unmittelbarkeit, Intensität, Polarität und Konformität.

Zum Schluss zitiert der Autor den Stoiker Epiktet mit den Worten: Unsere Lebensumstände können wir nicht wählen, wohl aber, wie wir damit umgehen. Kissinger folgert daraus, dass die Aufgabe politischer Führung besteht darin, diese Wahl in die richtigen Bahnen zu lenken.

Selbst wer nicht immer den Taten und Urteilen der greisen und weisen ehemaligen rechten Hand von Nixon folgen kann – Stichworte wie Agent Orange und Napalm sucht man in diesem Werk vergeblich -, liest das substanzielle Buch dennoch mit Gewinn.

Henry Kissinger: Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert, Verlag C. Bertelsmann, Juli 2022, Hardcover, 608 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de. Englische Originalausgabe: Leadership. Six Studies in World Strategy, 2022, Penguin Press, New York. Order the English edition from Amazon.com, Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension von Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension vom 21. Juli 2022 um 12:29 deutscher Zeit.