Hermann Müller. Der tragische Kanzler

Feb 23, 2019 at 13:41 1622

Hermann Müller (1876-1931) ist nicht nur der tragische, der letzte demokratisch gewählte Reichskanzer der Weimarer Republik, sondern auch der vergessene Kanzler. Im Gegensatz zum ebenfalls sozialdemokratischen Friedrich Ebert haben sich die Historiker noch nicht gross um den durchaus bedeutenden Sekretär im SPD-Parteivorstand von 1906 bis 1919, den Parteiführer im Parlament von 1919 bis 1931, den Aussenminister von 1919-20 und den Reichskanzler von 1920 und von 1928 bis 1930 gekümmert. Mit seiner politischen Biografie Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik versucht Peter Reichel diese Lücke zu füllen (Amazon.de).

Die Sozialdemokraten sind zurecht stolz darauf, dass sie bis zuletzt gegen Hitler ankämpften und dem „Ermächtigungsgesetz“ – dem Gang in die Diktatur – im Parlament die Stimme verweigerten. Weniger bekannt ist, dass die Grosse Koalition von SPD und Zentrum 1930 zerbrach, weil die SPD-Fraktion ihrem Reichskanzler Hermann Müller die Unterstützung versagte.

Peter Reichel betont in seinem Buch, dass Hermann Müller in Mannheim am Rhein das Licht der Welt erblickte, nur ein knappes halbes Jahr nach dem bis heute bedeutendsten Bundeskanzler, der in Köln, ebenfalls am Rhein, auf die Welt kam: Konrad Adenauer.

Beide seien in ein europäisch-westliches Bewusstsein hineingewachsen: Adenauer durch das frühe Erlebnis der Rheinlandbewegung 1918/19; Müller bereits als Schüler durch den frankophonen Einfluss des früh verstorbenen Vaters und später durch seine Ausbildung in einem deutsch-französischen Unternehmen.

In den 1920er Jahren wäre es fast zu einer Koalition von Müller und Adenauer gekommen. Hermann Müller ist breits einflussreicher SPD-Fraktions- und Parteivorsitzender im Reichstag, als der ständige Kabinettswechsel der instabilen Weimarer Republik wieder einmal nach einem geeigneten Kanzlerkandidaten verlang und der junge Zentrumspolitiker und Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer wiederholt ins Gespräch kommt.

Beide könnten schon 1926 zusammenarbeiten. Der Müller-Vertraute Rudolf Hilferding bietet in jenem Mai in einem vertraulichen Gespräch Adenauer die Kanzlerschaft in einem von der SPD unterstützten Minderheitskabinett an. Doch das Zenturm ist gespalten: Von Guérard und Stegerwald unterstützen Adenauers Kandidatur, Stresemann und Scholz verhindern sie. Was hätte nicht alles verhindert werden können durch eine Koalition von Zentrum, SPD und Deutscher Volkspartei, einem dauerhaften Bündnis von Adenauer, Müller und Stresemann!

Doch Peter Reichel verweist auf den gesundheitlichen Verschleiss beim Führungspersonal, die terroristische Gewalt, die hohe Verluste fordert, sowie Parteien, die sich noch nicht vom demokratiefeindlichen Ballast des 19. Jahrhunderts befreit hätten. Das Weimarer Experiment einer demokratischen Selbstverwandlung Deutschlands sei in einer Selbstzerstörung der ersten deutschen Republik geendet.

Reichel verweist auf den Dauerbeschuss, unter dem Hermann Müller stand. Die Nazis hätten ihn als „Novemberverbrecher“ denunziert, die Kommunisten nannten ihn einen „Arbeiterverräter“. Hingegen hätten ihn nicht wenige konservative Kollegen respektiert. Hindenburg soll den SPD-Vorsitzenden im vertrauten Kreis gar seinen „besten Kanzler“ genannt haben. Der liberale Nürnberger Oberbürgermeister und Reichswehrminister Otto Geissler stellte Hermann Müller neben Friedrich Ebert und August Bebel, wobei er betonte, im Gegensatz zu den anderen zwei Sozialdemokraten sei Hermann Müller „ein staatsmännischer Kopf“ gewesen, und „in seiner Partei nächst Ebert mit weitem der fähigste. Er war nur innerhalb der Partei kein Diktator wie Bebel.“ Diesen hätten die Sozialdemokraten allerdings nötig gehabt, um erfolgreicher in die Rolle der staatstragenden Partei hineinzuwachsen. Müllers Stärken sind angesichts seiner gespaltenen Fraktion Schwächen, die man in der Politik kaum verzeiht.

Peter Reichel betont, Hermann Müller sei von der Parteibasis verehrt worden, auch wenn die Sozialdemokraten ihn selten aus der Nähe erlebt hätten. Die Vorwärts-Leser hätten um seine Redlichkeit, seine Kompetenz, seinen Einsatz für die Partei, seinen Kampf für die Weimarer Republik gewusst. Er schonte sich nie, war seit den Kriegs- und Hungerjahren gesundheitlich angeschlagen.

Ein Agitator wie Liebknecht oder ein Schauspielerpolitiker wie Scheidemann sei Hermann Müller nicht gewesen. Kompetenz, Sachlichkeit, Realitätssinn und Verantwortungsbewusstsein waren seine Stärken. Ihm fehlte jedes distanzierte, gar autoritäre Gebaren.

Politische Weggefährten verweigerten Hermann Müller in einem kritischen Augenblick ihre Loyalität. Sie waren der Kooperation mit der Deutschen Volkspartei überdrüssig und nahmen hin, dass die von ihrem Kanzler nach dem Tod Stresemanns mühsam zusammengehaltene Grosse Koalition Ende März 1930 zerbrach.

Laut Reichel tat sich Müller schwer in seiner Doppelrolle als Oppositionsführer und Koalitionsführer in einem „unfertigen parlamentarischen System“. Noch geprägt vom absolutistischen Kaiserreich taten sich die Parteien schwer in der Konsensfindung. Sie sahen sich vorrangig als Gegenspieler und nicht als Mehrheitsbeschaffer einer Regierung. Das sei die grosse Schwäche der Weimarer Demokratie gewesen und natürlich nicht Müller anzulasten, so Reichel, auch wenn er seine Partei nach dem von ihm mitverschuldeten Desaster der ersten Grossen Koalition im Herbst 1923 zu lange von der Regierung ferngehalten, die Parteiräson über die Republik gestellt und so zu ihrer Destabilisierung beigetragen habe. Doch schlussendlich sei es nicht die DVP, sondern Müllers SPD gewesen, die ihn als Kanzler gestürzt und so die Republik ihren Feinden ausgeliefert habe.

Peter Reichel beleuchtet Hermann Müllers Jahre als Sekretär im Parteivorstand von 1906 bis 1919 und betont, dass sich der Politiker in den blutigen Wochen des gegenrevolutionären Winters 1918/19 unbeirrbar für die Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung eingesetzt habe. Zudem legte Müller die Grundlagen für die Aussenpolitik der Weimarer Republik. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch habe er die bürgerlichen Parteien mit der Republik versöhnt. Als Kanzler der Grossen Koalition habe er sich für die äussere Aussöhnung Deutschlands engagiert und nicht wenig für den Brückenbau zwischen den verfeindeten politischen Lagern getan.

Hermann Müller widmete sein politisches Leben der Republik und verschliess sich dabei gesundheitlich. Peter Reichel holt mit seiner Biografie den teils vergessenen, teils verkannten Staatsmann und Mitbegründer der Weimarer Republik ins Geschichtsbewusstsein zurück.


Peter Reichel: Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik, dtv, 2018, 454 Seiten. Die politische Biografie bestellen bei Amazon.de.