Hilary Spurling: Der junge Matisse

Dez 15, 1999 at 00:00 89

Hilary Spurling hat bereits mit mehreren Biographien, insbesondere 1990 derjenigen zu Paul Scott (Amazon.com; wir erhalten eine Kommission), die Kritiker begeistert. Ihr Werk über die Jugend und die Karriere von Henri Matisse (1869-1954) bis zu seinem Durchbruch ist ebenfalls sprachlich hervorragend geschrieben.

Hilary Spurling: Der unbekannte Matisse. Eine Biographie, 1869-1908. DuMont, Köln, 541 Seiten. Die deutsche Ausgabe bestellen bei Amazon.de (wir erhalten eine Kommission; alle Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Buch kommen); die englische Originalausgabe von 1998 bei Amazon.de, Amazon.com.

In achtjähriger Recherche hat Hilary Spurling die bisher unbekannten frühen Jahre von Henri Matisse minutiös recherchiert, über die zuvor nur die immer gleichen – und manchmal falschen – Anekdoten zitiert wurden.

Henri Matisse wurde 1869 im französischen Teil Flanderns geboren. Seine Kindheit wurde von der Niederlage Frankreichs im Krieg mit Deutschland überschattet, auch wenn die Deutschen bereits 1871 aus Bohain abzogen. Schroff, nüchtern und unromantisch, aber voller Energie und Witz, war Henri ein echtes Kind der Picardie.

Im Zeichenunterricht seiner Schule ging es lediglich um das „streng mechanische Kopieren geometrischer Objekte, wobei selbst ein geringfügigen Abweichen von der bewährten Methode oder der Versuch, Farbe zu verwenden, bestraft wurde.“ Das weckte den Rebellen in ihm. Ist Matisse als Reaktion darauf zum grossen Koloristen geworden? Die Weber von Bohain und ihre dekorativen Stoffe haben ihn auf jeden Fall geprägt und später inspiriert.

Mit siebzehn Jahren begann er auf eigenen Wunsch in Paris ein einjähriges Jurastudium. Er kehrte als Anwaltsgehilfe aus der Hauptstadt zurück, doch als Gehilfe in einem Anwaltsbüro erwies er sich als zu ungeschickt und unbegabt. Das 1890 von Léon Bouvier geschaffene Bild Schweizer Chalet gab den Anstoss dafür, dass Matisse zu Malen begann. Nach dem heimlichen Besuch einer lokalen Akademie ging er erneut mit väterlicher Billigung nach Paris, diesmal, um die Ecole des Beaux-Arts zu besuchen. Zuerst musste er sich in anderen Schulen auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten. Matisse besuchte die Kurse von William Bouguereau. Da der seine technischen Fähigkeiten negativ beurteilte, wechselte er rasch zu Gabriel Ferrier. Doch bei der Zulassungsprüfung zur Ecole des Beaux-Arts gehörte Henri Matisse zu jenen zwei Drittel der Kandidaten, die durchfielen. Danach kam er schliesslich im Malatelier von Gustave Moreau unter, in dem er weiterstudieren konnte. Bald gewann er die Anerkennung und sogar den Respekt seines Lehrers.

Henri Matisse wurde von Goya und Chardin beeinflusst. Chardins Stilleben mit Rauch- und Trinkutensilien war das erste Gemälde, das Henri Matisse im Louvre kopierte. Sein Lehrer Moreau verabscheute die Salonkunst mit Trompe-l’oeil-Effekten des Konkurrenten Bouguereaus.

1894 wurde Matisse Vater einer unehelichen Tochter. Marguerite wurde im Atelier mit der Geliebten eines Freundes gezeugt. Da sich Matisse zu dem Kind bekannte, zerbrach die Freundschaft. 1896 schliesslich erzielte Henri seine ersten Erfolge, der Salon de la Société Nationale des Beaux-Arts akzeptierte fünf seiner Bilder für eine Ausstellung, sein Werk Die Lesende wurde vom Staat angekauft, und ein Kunstkritiker äusserte sich positiv über ihn.

Doch dies war gemäss Hilary Spurling die erste und fast auch die letzte öffentliche Anerkennung, die Matisse zu Lebzeiten in seiner Heimat erfuhr. In jenem Jahr war er bereits zu einem Vorzeigeschüler Moreaus avanciert. Erneut wurde ein Bild von ihm vom Staat angekauft. Der ziemlich kranke Moreau erwies im gar die seltene Ehre, bei der Auswahl seiner Bilder für eine Salon-Bewerbung zu helfen. Doch Moreau riet ihm nach demütigenden Ablehnungen seiner Bilder, die keine Preise erhielten, das System der Ecole des Beaux-Arts zu verlassen und seinen eigenen Weg zu gehen.

Henri Matisse besuchte Mitte der 1890er Jahre „das Schloss des Engländers“ auf der Belle-Ile. Der Hausherr, John Peter Russell, war eigentlich ein reicher australischer Erbe, der 1886 am Meer in der Bretagne eine Künstlerkolonie gegründet hatte. Russell war ein Wegbeiter, Vorkämpfer und Neuerer, der Matisse u.a. den Impressionismus näher brachte.

Hilary Spurling zeigt auf über 300 weiteren Seiten den Weg auf, den der junge Maler noch zurücklegen musste, um gut 10 Jahre später, ab dem Frühjahr 1908, zu solch einer Referenz in der Kunstszene aufzusteigen, dass sich die einflussreichsten Protagonisten der modernen Schule in Paris in Anhänger von Picasso oder eben von ihm, Matisse, aufzuspalten begannen. Das Werk von Spurling bricht – wie unser Artikel – etwas brüsk im Jahr 1909 ab. Folgt vielleicht bald ein zweiter Band, der den Rest des Lebens von Matisse bis zu seinem Tod im Jahr 1954 umfasst?

Hilary Spurling: Der unbekannte Matisse. Eine Biographie, 1869-1908. DuMont, Köln, 541 Seiten. Die deutsche Ausgabe bestellen bei Amazon.de (wir erhalten eine Kommission; alle Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Buch kommen); die englische Originalausgabe von 1998 bei Amazon.de, Amazon.com.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension von Der unbekannte Matisse (der junge Matisse) sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension zum jungen Matisse vom 15. Dezember 1999. Erneut hinzugefügt zu unseren neuen Seiten in neuem Design am 12. November 2023. Ursprünglich waren die zwei Kritiken zu Der unbekannte Matisse von Hilary Spuring und die Rezension von Matisse: Father & Son von John Russell in einem Artikel vereint gewesen, nun sind sie getrennt.