Isabelle Bourgeois: Frankreich entschlüsseln

Nov 20, 2023 at 11:40 720

In Frankreich entschlüsseln (Amazon.de; alle Cookies akzeptieren, um direkt zum Buch zu kommen; wir erhalten eine Kommission), versucht Isabelle Bourgeois, die deutschen Leser über Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs aufzuklären, so der Untertitel.

Begriffe mit unterschiedlichen Inhalten und Auslegungen

Zu Beginn ihres Buches weist Isabelle Bourgeois auf die vielfach unterschiedliche Bedeutung, die unterschiedlichen Inhalte und Auslegungen von Begriffen wie Freiheit (Liberté), Staat (Etat), Zivilgesellschaft (Société civile), Bürger (Citoyen) hin. Laut der Autorin lässt sich der (deutsche) Bürger als ein Mensch mit einem Recht auf Selbstbestimmung definieren, während dem der (französische) Citoyen kein eigenständiges Individuum, sondern ein abstraktes Atom in einer undifferenzierten und ebenso abstrakten Menge Namens ›Volk‹ ist. Der französische Citoyen habe nur wenig mit dem deutschen ›mündigen Bürger‹ gemeinsam.

Für einen deutschen Leser sei vieles in Frankreich besonders schwer nachzuvollziehen, weil es (fast) immer der deutschen Erwartung von Eindeutigkeit widerspreche. Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit, das Prinzip (das wurde im Text vertauscht und sollte la lettre heissen) und seine Umsetzung in der Wirklichkeit (l’esprit; wie erwähnt verstauscht im Text) klafften fast immer auseinander. Ein Gesetz dem Wortlaut oder dem Buchstaben nach (à la lettre) anzuwenden bedeute oft, dass dieses Vorgehen dem Geist oder Sinn (l’esprit) dieses Gesetzes widerspreche oder sie diesen infrage stelle. Die Philosophie dahinter laut Isabelle Bourgeois: Da die Praxis bzw. das konkrete Leben durch eine Unmenge an vielfältigen Einzelsituationen gekennzeichnet sei, müsse ein Gesetz so abstrakt und allgemein formuliert sein, dass der allgemeine Gedanke des Gesetzes und somit die Absicht des Gesetzgebers deutlich werden.

Zwar verhalte es sich in der deutschen Rechtsmethodologie ähnlich, doch gehe das französische Verständnis dieser Dialektik sehr viel weiter. Aus französischer Sicht sei alles eine Frage der Auslegung. Die Universalität habe Vorrang vor dem partikulären Fall, was zur Nichtanwendung oder einer abweichenden Umsetzung des Gesetzes, Abkommens, Vertrags oder einer Absprache führen könne.

Die Autorin unterstreicht, dass dieses Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis weit über das rein Juristische hinausgehe. Im Geschäftsleben sorge das fast systematisch für Ärger und führe nicht selten deutsch-französische Projekte zum Scheitern. Stein des Anstosses sei oft das Sitzungsprotokoll. Für die deutschen Teilnehmer müsse es die Sitzung und ihre Ergebnisse objektiv und vor allem sachlich zusammenfassen. Das Wort ›sachlich‹ lasse sich nur sehr schwer ins Französische übersetzen. In dem genannten Verhandlungskontext solle man die deutsche Vorgehensweise als à la lettre bezeichnen. Das französische Sitzungsprotokoll, das deutsche Verhandlungspartner meist als etwas zu abstrakt und nicht tatsachengetreu genug empfänden, entspreche dem Esprit.

Medienverständnis, Informationskultur, Pressefreiheit

Im Kapitel zum Medienverständnis und zur Informationskultur schreibt Isabelle Bourgeois zur Pressefreiheit, dass die französischen Medien ausgesprochene Meinungsmedien seien, die das politische Spektrum inbesondere in der Hauptstadt Paris wiederspiegelten. Zentralismus herrsche auch bei den Medien und den veröffentlichten Meinungen. Es gebe in Frankreich zudem kein ›Hugenberg-Tabu‹, das wie in Deutschland einem Industriekonzern (erst recht einem staatsnahen) verbieten würde, sich mehrheitlich an einem Medienanbieter zu beteiligen.

Die Autorin unterstreicht, dass die privaten Rundfunk- und Fernsehgesellschaften in Frankreich fest in der Hand der Industrie sind (Luxusgüter, Rüstung, Technologie). Das Land setze auch im Medienbereich auf nationale Champions.

Sie unterstreicht, dass in Deutschland die Pressefreiheit generell für die Medien gilt, während dem sie in Frankreich ein reines Individualrecht ist: Einzig der Journalist als Person ist Träger der Meinungs- und Pressefreiheit. Dadurch sei er anders als seine deutschen Kollegen leichter unter Druck zu setzen. Missfalle er gar jemandem aus der Politik oder einem Werbekunden, weil er als zu kritisch betrachtet werde, komme bald ein Anruf an den Chefredakteur mit der Bitte, ihm doch die Leviten zu lesen. Oder es werde ihm einfach der ›Informationshahn‹ zugedreht. Die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien werde so geschwächt.

Isabelle Bourgeois bemängelt die Medienkonzentration in der Hauptstadt. In Paris sind sämtliche führende Medien angesiedelt, Online-Redaktionen inklusive. Hinzu komme, dass Exekutive, Legislative, Judikative, Zentralverwaltung, Banken und fast alle Grossunternehmen ihren (Haupt-) Sitz in Paris haben. Die Kreativwirtschaft konzentriere sich fast komplett in diesem Grossraum. Das gelte zudem für die führenden Bildungseinrichtungen (Ausnahme: In Strassburg befindet sich die ENA, seit 1. Januar 2022 in INSP umbenannt; von Isabelle Bourgeois als „ISP betitelt und an anderer Stelle im Detail abgehandelt), Polizei, Gendarmerie. Alles, was nationalen Ereignischarakter und Informationswert habe, konentriere sich in Paris. Daher habe dort die Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP) ihren Sitz, die sich mit AP und Reuters (bei Bourgeois „Reuter“) auf dem Weltmarkt in Konkurrenz befinde, und daher in der Provinz nur wenige Regionalbüros unterhalte.

Isabelle Bourgeois bemängelt zurecht, dass sich nicht nur die französischen Medien, sondern auch die Frankreichberichterstattung der ausländischen Korrespondenten weitgehend auf Paris konzentriere.

Laut der Autorin bieten weiterhin allein die Printmedien Hintergrundinformationen, das Fernsehen sei mehr denn je ein reines Unterhaltungsmedium, das Radio ein Zwitter. Ausserhalb von Paris seien Zeitungen schwer erhältlich, wer sich wirklich informieren wollte, müsste im Idealfall gleich mehrere Zeitungen online abonnieren, was sich nur wenige leisten könnten. Der Zentralismus sei beim Fernsehen am deutlichsten: Alle Studios und Redaktionen befinden sich in Paris. Die Provinz kommt in der Berichterstattung so gut wie nicht vor, Regionalprogramme gibt es nur in engen Zeitfenstern.

Isabelle Bourgeois unterstreicht, dass in Frankreich, anders als in Deutschland, das Radio das ›nationale‹ Medium an sich sei, wobei auch der Hörfunk dem Muster der Zentralisierung, zumindest was die Vollprogramme angeht, folge. Dabei erwähnt sie, dass das Radio dem Eiffelturm das Leben rettete, denn er sollte nach der Weltausstellung 1889 (im Text als „Expo“ bezeichnet), wie alles andere dafür temporär errichtete, wieder abgebaut werden. Doch er erwies sich als idealer Sendemast, und hat diese Funktion bis heute inne. Die Autorin unterstreicht zudem, dass im Unterschied zu Deutschland in Frankreich seit jeher privatkommerzielle Radios für Qualitätsjournalismus sorgten.

Radio sei seit Kriegsende in Frankreich das glaubwürdigste aller Medien geblieben. Dieses Grundvertrauen verdanke es u. a. dem kommerziellen Sender RTL, dessen Redaktion die Regierung nie kontrollieren konnte, da der Sender in Luxemburg stand und das Kapital seit Beginn in privater und zum grossen Teil ausländischer Hand war. Als Symbol der Unabhängigkeit habe Jacques Rigaud, Geschäftsführer von 1979 bis 2000, stets ostentativ statt einen Schlips eine Fliege getragen, da Präsident Giscard d’Estaing Fliegen nicht ausstehen konnte.

Isabelle Bourgeois hebt hervor, dass die Grenze zwischen Medien und Politik in Frankreich fliessend sei, und schon die Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur habe 1988 die Lage treffend als »Mediaklatura« bezeichnet.

Die Mediaklatura bestimme den Mainstream und, weit über reine Political Correctness hinaus, was zu verschweigen bzw. der Öffentlichkeit vorzuenthalten sei. Die Investigativjournalisten Sophie Coignard und Alexandre Wickham hätten bereits vor 20 Jahren eingehend diese Praxis der Omertà beschrieben, die ein Grundmechanismus der politischen, wirtschaftlichen und medialen Kultur in Frankreich sei und den Zusammenhalt der Mediaklatura schmiede. Die Omertà (bzw. Selbstzensur) der Journalisten sei heute nicht mehr so stark wie vor 20 Jahren, was sich vornehmlich durch die Allgegenwart der Online-Medien und sozialen Netzwerke erkläre, und zudem durch den zunehmenden Grenzen überschreitenden (internatinalen) Informationsaustausch.

Die Medien in Frankreich gelten als Markt, der hochkonzentriert ist. Isabelle Bourgeois titelt, Medienpolitik sei Wirtschaftspolitik. Sie zitiert Jürg Altwegg, der 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb: »Frankreichs Medien sind im Besitz von zehn Milliardären. Keiner hat sein Geld als Verleger verdient, kaum einer einen Sender oder eine Zeitung lanciert – mit Ausnahme von Vincent Bolloré. Bei den Zeitungen kontrollieren die großen Zehn 90 Prozent der Auflagen. Im Bereich von Radio und Fernsehen übersteigt ihr Anteil fünfzig Prozent. Die meisten sind von Staatsaufträgen abhängig. Bouygues – mit Europas größtem Privatsender TF1 – baut Autobahnen. Dassault – Le Figaro – Flugzeuge und Waffensysteme. François Pinault und Bernard Arnault sind die reichsten Männer des Landes. Pinault kaufte das Magazin Le Point, um seinem Freund Jacques Chirac Schützenhilfe zu leisten. Arnault erwarb Le Parisien, um Nicolas Sarkozys Wahlkampf zu unterstützen. Neben dem Boulevardblatt gehört Arnault auch die führende Wirtschaftszeitung Les Echos

Isabelle Bourgeois notiert allerdings auch, in Frankreich seien die meisten Medien zwar in der Hand des Staates oder staatsnaher Industriekonzerne, doch die Journalisten seien nicht ihre Marionetten. Sie übten zwar oft Selbstzensur und scheuten zuweilen auch – aus Angst, ihren Job zu verlieren – nicht vor vorauseilendem Gehorsam zurück. Das sei jedoch nicht das Entscheidende. Strukturell seien Journalisten zwar Bestandteil des Establishments bzw. der ›Mediaklatura‹, doch als Einzelpersonen seien sie unabhängig. Jeder einzelne Journalist verkörpere und trage die/seine Pressefreiheit – und sein verbissen bemüht, sie zu verteidigen.

Isabelle Bourgeois wehrt sich allerdings gegen die linke Deutung Macron als „Präsident der Reichen“. Die Macrons und die Superreichen steckten nicht in ihrer Eigenschaft als ›Superreiche‹ unter einer Decke, sondern als Angehörige der Pariser Elite. Der Zentralismus sei der Schlüssel zur Deutung. Französische Medienpolitik sei für deutsche Journalisten besonders schwer zu verstehen, weil sie den eigenen Vorstellungen radikal widerspriche.

Auf Grund der doppelten Diktaturerfahrung in Deutschland gelte hier das Gebot der staatsferne aller Medien sowie ausschliesslich oder zumindest mehrheitlich der Einsatz von brancheninternem Kapital. In Frankreich hingegen gelte der Zentralismus. Daher könne es in Frankreich keinen Aussenpluralismus geben, wie er sich in föderalen Strukturen mit ihren vielfältigen Medienmetropolen entwickelt habe. Es gebe nur Paris.

Dies sind nur einige Ausschnitte aus dem ersten Teil des Buches, der sich dem anderen Medienverständnis und der anere Informationskultur in Frankreich widmet. Hinzu kommt ein zweiter Teil zur französischen Republik und ihren Werten, zu »Frankreich, ‚Wiege der Menschenrecht‘?«, Ausnahmerecht, der Feind im Inneren, Gewalt und Widerstand. Der dritte Teil widmet sich dem Thema, wie sich der Zentralismus in Frankreich konkret auswirkt, zu Sprache und Macht, zur pyramidalen Hierarchie in Politik und Arbeitswelt sowie ein Kapitel zu Lebenswelten.

Schlussbemerkungen

In ihrem „Schluss“ schreibt Isabelle Bourgeois davon, dass Macron seine Parlamentsmehrheit verloren hat, dass Frankreich heute der „kranke Mann Europas“ sei (das müsste sie allerdings ebenfalls bezüglich Deutschland schreiben!), dass Frankreich seinen politischen Kompass verloren hat. Sie unterstreicht, dass erst die Gelbwestenbewegung 2018 das Ausmass der innenpolitischen Krise an das Tageslicht befördert habe. Die Gelbwesten seien Citoyens, die als mündige Bürger betrachtet werden wollten, die mehr Teilnahme einforderten. Nur fehle ihnen die notwendige Reife, wie ihre Unfähigkeit zeigte, sich als nachhaltige Bewegung zu strukturieren, und ihr Unwillen, Leader zu benennen. Dem sei ihr Verständnis von Égalité entgegengestanden bzw. ihr Frust über die strenge pyramidale Hierarchie, die ein Markenzeichen Frankreichs ist. Die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, würde allerdings zusätzlich einen Begriff der Liberté erfordern, der auf Eigenverantwortung aufbaut, so die Autorin. Sie fordert daher, Frankreichs Demokratieverständnis müsse dringend modernisiert werden, angefangen beim Zentralismus und der Struktur der Institutionen.

Frankreich sei ein in tiefen Widersprüchengefangenes Land. Die Menschen wünschten sich, anerkannt zu werden und sich beteiligen zu dürfen. Das sei die tiefere Bedeutung der ständigen Proteste. Diese seien oft unbeholfen und gewalttätig, weil man sich nur Gehör verschaffen könne, wenn man über die Stränge schlage, und weil es kaum anerkannte Möglichkeiten gege, sich gestaltend einzusetzen. Die größte Herausforderung für Frankreich bestehe heute darin, dem Prinzip ›Freiheit in Verantwortung‹ Gestalt zu geben.

Das „kleine“ Taschenbuch – mit immerhin 288 Seiten – ist all jenen, die sich für Frankreich ernsthaft interessieren, wärmstens empfohlen.

Isabelle Bourgeois: Frankreich entschlüsseln. Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs. Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses 9, Herbert von Halem Verlag, 2023, 288 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de (alle Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Buch gelangen; wir erhalten eine Kommission).

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Rezension / Buchkritik vom 19. November 2023 um 11:40 Schweizer Zeit.