Italiener im deutschen Vorurteil

Mrz 21, 2019 at 17:02 884

Klaus Bergdolt ist Arzt, Kunsthistoriker und emeritierter Professor für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Von 1990 bis 1995 war er Direktor des Deutschen Studienzentrums in Venedig, von 2005 bis 2013 dessen Vorsitzender. Zu seinen Forschungsthemen gehören die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Italiens vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert.

In seinem Buch Kriminell, korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil (Amazon.de) befasst sich Klaus Bergdolt ausführlich mit der Perzeption der Südländer durch Deutsche und Deutschsprachige. Er befasst sich mit Fragen wie dem deutschen Moralismus, dem Antikatholizismus, akademischer Arroganz, Goethes Vorurteilen, der Mafia und vielem mehr.

In einer Vorbemerkung verweist er auf den Fakt, dass die Neapolitaner sich 1943 gegen die deutsche Besatzung erhoben. Jahrhundertelang hatten Reisende aus dem Norden Neapel in der schwärzesten Farben geschildert. Man fühlte sich ihnen physisch, intellektuell, vor allem aber moralisch überlegen. Der Anspruch moralischer und kultureller Deutungshoheit sei spätestens im Herbst 1943 in sich zusammengefallen. Das ist wohl wahr. Er hätte noch hinzufügen können, dass die abziehenden Nazis noch die Bibliothek niederbrannten und die Stadtarchive zerstörten, dass die italienische Musik ohne Neapel sehr viel ärmer wäre (mit dem Teatro di San Carlo die älteste noch funktionierende Oper der Welt, die Kastraten, die Volksmusik – canzone napoletane, Scarlatti, Pergolesi und viele andere), dass sich in Neapel die wohl älteste Staatsuniverstät der Welt, die 1224 gegründet worden war, befindet. Allerdings ist auch wahr, und das ist bei Klaus Bergdolt ebenfalls nicht zu lesen, dass es in Neapel noch im 19. Jahrhundert wiederholt Cholera- und Typhusepidemien gab, dass es vor wenigen Jahren ein riesiges Abfallproblem gab, weil die vom organisierten Verbrechen mitkontrollierte Müllabfuhr streikte und Ratten am hellichten Tage über die Strassen rannten (ich war da!), dass allerlei Aberglauben noch immer weit verbreitet ist.

Im Kapitel Die „Hölle Neapel“ erwähnt Klaus Berdolt, dass in Europa um 1800 nur London und Paris die Einwohnerzahl Neapels übertrafen, dass die Stadt die grösste Schiffswerft Italiens besass. Gaslaternen sah man hier früher als anderswo in Italien. Von hier fuhr die erste Eisenbahn des Landes (nach Portici am Vesuv), ebenso dass erste Dampfschiff. Das Rechtssystem war laut Klaus Bergdolt beispielhaft und Diplomaten, die im 18. Jahrhundert an den Hof der hier regierenden Bourbonen berufen wurden, empfanden dies als Auszeichnung.

Der Autor verweist zudem auf die Eindrücke eines gewissen Sigmund Freund, der 1902 aus Neapel berichtete: „Die Menschen sind hässlich, oft ekelhaft, schauen aus wie Galeerensträflinge. Spektakel und Schweinerei sind wie im Mittelalter…“ Laut dem Autor führte das der junge Mediziner Freud auf die starke Einwirkung der Sonne zurück!

Klaus Bergdolt bemerkt in einem anderen Kapitel, dass die mangelnde Schuldbildung der Italiener als „Dummheit“ verkauft wurde und ein besonderes Ziel des deutschen, preussischen Spottes war. In der Tat waren laut einer 1881 durchgeführten Volkszählung noch immer 67% der Italiener Analphabeten. Im päpstlich verwalteten Rom lag die Zahl sogar bei über 70%. Der Autor verweist darauf, dass die Schulpflicht im protestantischen Herzogtum Pfalz-Zweibrücken schon 1592 eingeführt worden sei, in Sachsen-Gotha 1642, in Braunschweig 1647, in Preussen 1717, in Sachsen 1835, etc. Die Protestanten fühlten sich überlegen.

Hinzu kam, dass seit den 1870er Jahren 14 Millionen Italiener ihr Land auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen verlassen hatten und dass jährlich Tausende als Saisonarbeiter nach Bayern, Österreich und in die Schweiz aufbrachen; Klaus Bergdolt vergisst in diesem Zusammenhang nicht darauf zu Verweisen, dass beim Bau des Gotthardtunnels zwischen 1872 und 1882 viele Italiener ihr Leben liessen. Die massive Emigration liess das italienische Sozialsystem und die Fähigkeit der italienischen Eliten, Verantwortung zu übernehmen, in keinem guten Licht erscheinen.

Vorurteile gegen Italiener gab es – trotz seiner Italienreise – bei Goethe, Thomas Mann und vielen anderen. Viele Reisende sahen den Klerus, die Jesuiten und die Päpste als dunkle Gestalten, stellten die katholische Kirche unter Generalverdacht. Allerdings waren und sind bis heute viele, ja zu viele Kirchenvertreter dubiose, ja kriminelle Gestalten. Die Mafia und die Kirche gingen und gehen manchmal dubiose Freundschaften ein. Die Pädophilendebatte, die Frage der Homosexualität, die Stellung der Frauen in der katholischen Kirche und viele andere Themen lassen Italien mit Rom als Hauptstadt der Christenheit in schlechtem Licht erscheinen.

Natürlich sind DIE Italiener nicht kriminell, korrupt und katholisch, doch vieles liegt bis heute im Argen. Berlusconi, Di Maio und Salvini lassen grüssen, ebenso die Mafia, die Camorra, die ‚Nranghetta, etc. Italien hat seine Staatsschulden nicht unter Kontrolle, die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch, viele Strukturreformen warten seit Jahrzehnten auf ihre Inangriffnahme. Italien polarisiert bis heute. Kritik ist und bleibt angebracht.

Das Buch von Klaus Bergdolt bringt Hunderte von Beispielen zum Beginn der Vorurteile im Mittelalter, zu Moralisten und Hasspredigern, zu italophilen deutschen Feuilleteonisten des 19. Jahrunderts, selbst zur Kritik von Italienern an ihren eigenen Landsleuten. Zu jedem Beispiel gibt es halt ein Gegenbeispiel. Die Lage ist komplex. Vorurteile, Idealisierungen und reale Probleme mischten und mischen sich. Jeder hat etwas zu Italien zu sagen: Fontane, Lessing, Kant, Jakob Burckhardt, Brecht, Bloch, Freud, etc. Die Liste ist lang. Klaus Bergdolt hat viele Aussagen zusammengetragen und – leider nicht immer sehr analytisch – geordnet. Denkanstösse gibt das Buch dennoch genügende.


Klaus Bergdolt: Kriminell, korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil. Franz Steiner Verlag, Stuttgard, 2018, 243 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Artikel vom 21. März 2019 um 17:02 ukrainischer Zeit. Ergänzt am 22. März 2019 um 13:14 ukrainischer Zeit.