Joe Biden gibt Afghanistan de facto in die Hände der Taliban

Aug 16, 2021 at 14:08 2099

Die Vorgeschichte

Afghanistan hat schon einige fremde Interventionen erlebt, die für die Invasoren öfters tragisch endeteten, daher ist das Land auch bekannt als graveyard of empires. Die Eroberer reichen von Alexander dem Grossen, über die altindische Maurya-Dynastie, die muslimischen Invasoren ab dem 7. Jahrhundert, die Mongolen im 13. Jahrhundert, die Briten im 19. Jahrhundert, die Sowjetunion ab 1973 bis zu den USA ab 2001.

Seit dem 18. Jahrhundert bestand das Königreich Afghanistan, das seit 1933 eine konstitutionelle Monarchie unter der Führung von Mohammed Zahir Schah (1914-2007) war, der von 1933 bis 1973 regierte. Zahir Schah wurde 1973 mit Hilfe der Sowjetunion von seinem Cousin und ehemaligen Premierminister Mohammed Daoud Khan gestürzt, der eine Republik errichtete. Seither herrscht wieder Unruhe am Hindukusch. 1978 kam es zu einem kommunistischen Staatstreich mit Hilfe der Sowjetunion, die ein Abdriften Afghanistans ins westliche Lager befürchtete. Die sowjetische Invasion 1979 führte zu einem Bürgerkrieg, der bis 1989 dauerte und mit zum Niedergang der Sowjetunion beitrug. Daraufhin kam es erneut zu einem Bürgerkrieg in Afghanistan. Das kommunistische Regime von Mohammed Nadschibullah (Najibullah) kolllabierte 1992, der Krieg ging weiter bis 2001.

Die Taliban regierten erstmals von 1996 bis 2001 über bedeutende Teile von Afghanistan. Den Widerstand gegen die Taliban und ihre fundamentalistische Interpretation des Koran führte Mudschaheddin Ahmad Schah Massoud (1953-2001) an, der 2001 vor einem bevorstehenden grossen Anschlag in den USA warnte. Zwei Tage nach seiner Ermordung kam es zu den Anschlägen vom 9. September mit rund 3000 Toten in den Vereinigten Staaten, die zur amerikanischen Invasion Afghanistans führte. So die Kurzversion der Vorgeschichte.

Nach 20 Jahren zieht sich der Westen 2021 vom Hindukusch zurück und gibt Afghanistan de facto in die Hände der Taliban. Es war zu hoffen, dass mit der Wahl von Joe Biden die Vernunft ins Weisse Haus zurückkehrt. Das war und ist auch teilweise der Fall. Doch der von Präsident Trump beschlossene und unter Präsident Biden weitgehend vollzogene Abzug der US-Truppen geschah überhastet und offenbarte die Schwächen der afghanischen Armee, die den Taliban keine Gegenwehr lieferte – Feigheit vor dem Feind und fehlende Unterstützung vom Westen. Der afghanische Präsident Ghani floh ins Ausland. Die Szenen, die sich an der amerikanischen Botschaft in Kabul abspielen, erinnern viele Beobachter an den unrühmlichen Abzug der Amerikaner 1975 aus Saigon – die Fotos mit Helikoptern auf Botschaftsgelände ähneln sich stark.

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Eine historische Pressekonferenz von Joe Biden

Am 8. Juli 2021 wurde Joe Biden in einer Pressekonferenz gefragt, ob die Übernahme Afghanistans durch die Taliban unabwendbar sei. Der Präsident verneinte dies kategorisch, weil die Afghanen 300,000 Truppen hätten, deren Ausrüstung hinter keiner anderen Armee der Welt zurückstünde. Zudem hätten sie eine Flugwaffe. Insgesamt 300,000 afghanischen Soldaten stünden rund 75,000 Taliban gegenüber. Jemand anders warf ein, die eigene Sicherheits-Community sei zum Schluss gekommen, dass die afghanische Regierung (nach dem Abzug der US- und anderer Truppen) kollabieren werde. Joe Biden sagte, das sei nicht war. Die afghanische Regierung habe ganz klar die Fähigkeit, an der Macht zu bleiben. Auf die Frage nach Parallelen zwischen Vietnam (Saigon 1975) und Afghanistan (Kabul 2021) meinte der Präsident, es gebe Null Parallelen. Die Taliban hätten nicht im Entferntesten die Möglichkeiten der Nordvietnamesen. In keinem Fall werde man sehen, wie Menschen vom Dach der US-Botschaft mit einem Helikopter gerettet würden. Am 15. August 2021 konnte man dann allerdings auf Fotos von 1975 und 2021 nebeneinander sehen, auf denen Helikopter zu sehen waren, die von den US-Botschaften in Saigon bzw. Kabul wegflogen. In der Pressekonferenz vom 8. Juli 2021 sagte der US-Präsident zudem, es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land übernehmen würden. Doch so ist es nach heutiger Lage weitgehend gekommen. Joe Bidens Prognosen wurden in nur einem Monat vollständig widerlegt.

3600 Tote der von den USA geführten Koalition sowie endemische Korruption

Das 20-jährige Afghanistan-Abenteuer hat das Leben von rund 3600 Soldaten der von den USA geführten Koalition gefordert. Die Vereinigten Staaten haben laut Analysen in den zwei Jahrzehnten rund 1000 Milliarden Dollar für den Einsatz aufgwendet. Von den vielen Milliarden an direkter Hilfe für das Land verschwand ein grosser Teil in dunklen Kanälen. Korruption und Nepotismus sind in Afghanistan endemisch, ein wichtiger Grund für das Scheitern der Intervention unter der Führung der USA.

Ein 2019 publizierter Artikel der Washington Post zitierte die Lessons Learned-Berichte des Office of the Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR). Nach einer Schätzung sollen 40% der USA-Hilfe an Afghanistan ab 2001 von Offiziellen, Gangstern, Kriegsherren, Drogenbaronen und Aufständischen abgezweigt worden sein. Die Berichte blieben insofern folgenlos, als dass niemand für die Korruption verantwortlich gemacht wurde. Allerdings dürften sie zu Joe Bidens Entschluss zum Abzug der US-Truppen beigetragen haben.

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Pakistans Unterstützung für die Taliban sowie ein Drogenkrieg ohne Resultate

Unverständlich bleibt die Politik der USA gegenüber Pakistan. Das Land wurde jahrzehntelang als Verbündeter betrachtet. Pakistan gelang es in dieser Zeit, Nuklearwaffen zu entwicklen. Das Land steht heute unter dem Einfluss von muslimischen Hardlinern. Saudiarabien (Salafisten/Wahhabiten) hat auch in Pakistan wie anderswo den religiösen Fundamentalismus gefördert. Und der pakistanische Geheimdienst unterstützte die Taliban viele Jahre lang tatkräftig. Bei solchen Alliierten wie Pakistan und Saudiarabien braucht man keine Feinde.

Ebenfalls ein Fehlschlag des Westens ist der Kampf gegen die Drogen-Produktion in Afghanistan. Nach wie vor stammen über 90% des Opiums bzw. Heroins der Welt aus diesem Land. 2019 schrieb die BBC, die USA hätten $1,5 Milliarden in den Kampf gegen den Opium-Anbau in Afghanistan gesteckt. Von den Drogengeldern profitierten die Taliban (zu 60% dadurch finanziert), der Islamische Staat und Al Qaida. Sie tragen ebenfalls zur endemischen Korruption in Afghanistan bei. Die Produktionsflächen wurden seit 2001 rund verdreifacht (UNODC-Bericht 2017).

Frauen und Mädchen sowie Soft-Power des Westens in Gefahr

Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht sieht die Zukunft der afghanischen Frauen und Mädchen düster aus. Bereits gab es Berichte, dass die Taliban von Familien, die mit den USA und anderen Besatzungsmächten zusammenarbeiteten, die Übergabe von Mädchen und unverheirateten Frauen zwischen 15 und 40 Jahren forderten. Viele Journalistinnen, Künstlerinnen und andere besonders exponierte Frauen leben in Todesangst.

Der Westen beschädigt mit dem Abzug aus Afghanistan seine Soft-Power. Wer will die USA, die NATO, die Europäer, den Westen als Partner, wenn man sich auf sie nicht verlassen kann?

Der konservative britische Politiker Tom Tugendhat hat am 15. April auf Twitter zehn Punkte zu Afghanistan veröffentlicht, in denen er unter anderem festhielt, dass in über einem Jahr kein einziger US-Soldat mehr zu Tode kam, dass die maximal 3000 US-Soldaten im Land dazu dienten, die afghanische Armee und Polizei auszubilden, dass die Taliban wieder aktiver würden und die Regierung durch die Abzugsankündigung von USA und NATO geschwächt sei, Mächte wie China, Pakistan und Iran das Vakuum füllen würden, mit dem Abzug einer der letzten Stabilitätsanker Afghanistans verschwinden werde, etc.

Es gab viele, die Joe Biden vor einem Abzug warnten. Er hat nichts aus den aussenpolitischen Desastern von Präsident Obama im Irak, in Syrien und anderswo gelernt. In Afghanistan hat er ein Machtvakuum geschaffen, das die Taliban in kürzester Zeit und ohne grossen militärischen Aufwand füllen konnten. Präsident Biden trägt die volle Verantwortung für die aktuelle Lage.

An der traurigen Vorgeschichte waren allerdings mehrere andere US-Präsidenten beteiligt. Und Afghanistan zeigt wieder einmal, dass die NATO ohne die Vereinigten Staaten ein Papiertiger sind. Die Idee einer europäischen Armee, losgelöst von den USA, ist brandgefährlich. Die Europäer – und andere – sollten stattdessen vielmehr vollwertige Partner der Amerikaner werden. Dazu braucht es Investitionen. Zudem muss die NATO erweitert werden. Es geht längst nicht mehr um eine transatlantische Allianz. Demokratien wie Japan, Südkorea, Taiwan, Indien, etc. müssen einbezogen werden, um China, Russland, Iran und anderen Feinden der Freiheit die Stirn zu bieten.

Das Foto vom 2. August 2021 zeigt Taliban-Kämpfer in einem Dorf während der Offensive 2021. Photo by Voice of America (voanews.com), public domain. Via Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Taliban_fighters_during_2021_offensive.png

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Artikel vom 16. August 2021 um 14:08 deutscher Zeit.