Johannes Willms: Charles de Gaulle

Jul 13, 2022 at 16:23 676

Anstelle eines Nekrologs für Johannes Willms (1948-2022), der in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 2022 verstarb, hier eine kurze Rezension seines kritischen, herausragenden Buches Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert. Biographie (C.H. Beck 2019, 665 Seiten. Amazon.de).

Vorweg nur ein Satz von Claudius Seidl in der FAZ zum Tod von Johannes Willms: „Er kannte den Unterschied zwischen Geist und Esprit, denn er hatte beides: Johannes Willms, der Historiker, Feuilletonist und Erfinder des Literarischen Quartetts, ist viel zu früh gestorben.“

Der Autor notiert, dass in Frankreichs V. Republik die Parteien nicht als Brennspiegel, sondern als locker organisierte Wahlvereine funktionieren. Für Charles de Gaulle waren Formulierung und Ausführung von Politik, das gesamte Planen und Handeln der Exekutive, immer ein Bereich, in dem nur ausgewiesene Fachleute das Sagen haben sollten, keinesfalls aber Politiker, Leute also, die nur auszeichnete, dass sie eine Wahl gewonnen hatten und von einer Partei unterstützt wurden, deren politischen Zielen und ideologischen Absichten sie verpflichtet waren.

In seiner Biografie schreibt Johannes Willms von den von Charles de Gaulle geteilten Aversionen gegen den Parlamentarismus. Bei Kriegsende herrschte krasse Not, es gab riesige Gestaltungsprobleme, mit denen Charles de Gaulle als Chef der Provisorischen Regierung zu kämpfen hatte. Deshalb sei es wenig überraschend gewesen, dass der General eine gelenkte Staatswirtschaft befürwortet habe, die von der Exekutive ins Werk gesetzt und von nicht parteigebundenen unpolitischen, aber patriotischen Technokraten entworfen und kontrolliert wurde. Auf diese Weise müsste es gelingen, eine spezifisch französische Problemlösung zu entwickeln, die allen «Heilslehren» wie Kapitalismus, Kommunismus, Faschismus oder auch der amerikanischen Marktideologie des Massenkonsums gleichermassen abhold war, meinte Charles de Gaulle laut Johannes Willms.

Das waren Überlegungen, mit denen man auch in Vichy (siehe zu Vichy die französische Pétain-Biografie von Bénédicte Vergez-Chaignon) umgegangen war, dem bedeutende «Gaullisten» wie Michel
Debré, Jacques Chaban-Delmas und Maurice Couve de Murville als unpolitische Fachleute bis zum November 1942 gedient hatten, die später als Premierminister de Gaulles und Georges Pompidous tätig
werden sollten, wie Johannes Willms anmerkt.

Als de Gaulle 1958 wieder zur Macht kam und Michel Debré ihm bei der Ausarbeitung der Verfassung für die V. Republik zur Hand ging, befand sich Frankreich längst schon auf dem Weg zu einer Konsumgesellschaft. Dieser Prozess ließ sich jetzt nicht wieder rückgängig machen, so Johannes Willms. Charles de Gaulle wollte die Exekutive dem Zugriff der als unfähig geltenden Parteien wie ihrer Politiker entreissen und deren Aufgaben wieder in die Hände ausgewiesener Experten und unpolitischer Technokraten legen, die Weisung erhielten, die Wirtschaft des Landes mit Hilfe von hoch subventionierten Plänen mit vieljähriger Laufzeit in die gewünschten Bahnen zu lenken (ich: Charles de Gaulle war ein Militär und verstand die Wirtschaft nicht). Das sei nicht lauthals angekündigt worden, sondern habe sich einfach daraus erbeben, dass, wie Charles de Gaulle sich Ende Januar 1964 ausdrückte, «die unteilbare Autorität des Staates vom Volk im vollen Umfang dem von ihm gewählten Präsidenten anvertraut wurde». Für Johnnes Willms war dies die denkbar kürzeste und präziseste Definition der V. Republik.

Johannes Willms zitiert am Ende seines „Prologs“ den Aufsatz, den der liberale Raymond Aron am 17. Dezember 1964 in der Tageszeitung Le Figaro unter dem Titel «Maurrassisme et gaullisme» veröffentlichte. Darin schrieb Raymond Aron, es gebe zwar eine Nationalversammlung, die aber habe keinerlei Einfluss auf die Aussenpolitik habe und deren Rolle selbst bei der Gesetzgebung sei sehr eingeschränkt. Deshalb gelte mit anderen Worten: «Charles de Gaulle hat innerhalb des Rahmens der Republik zahlreiche Veränderungen vollbracht, von denen Charles Maurras [einer der einflussreichsten französischen Rechtsintellektuellen in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg] irrtümlich glaubte, sie seien ohne eine Restauration [der Monarchie] unmöglich zu bewerkstelligen.» Auch diese Leistung ist seither integraler Bestandteil der certaine idée de la France, notiert Johannes Wilms.

Hier noch einige wenige Punkte, die der Autor in seiner detailreichen Biografie beschreibt. Ausführlich geht er auf die Herkunft und die Anfänge von Charles de Gaulle ein, der zu Beginn seiner Karriere als Schützling von Marschall Pétain galt. Bereits an der Militärschule von Saint-Cyr umgab ihn eine Aura der Unnahbarkeit. Natürlich erwähnt Johannes Willms die berühmte Ansprache von Charles de Gaulle am 17. Juni 1940, in der sich der nach London Geflüchtete gegen die Kapitulation Pétains wandte. Der über die BBC verlesene Text war zuvor vom britischen Kabinett kontrolliert und genehmigt worden, anders als von der gaullistischen Mythologie lange behauptet. Und dies erst, nachdem die beiden Anfangssätze deutlich abgemildert worden waren. Johannes Willms merkt ebenfalls an, dass Churchill damals noch nicht daran dachte, de Gaulle eine herausgehobene politische Rolle zuzuweisen.

Im Exil war Charles de Gaulle ein „König ohne Land“. Zur Ermordung von François Darlan am 24. Dezember 1942 in Algier merkt der Biograf an, ein merkwürdig verquerer Kommentar von de Gaulle dazu im zweiten Band seiner Memoiren bekräftige den Verdacht der Mitwisserschaft des Generals. Johannes Willms beschreibt, wie Churchill und insbesondere Roosevelt sich hartnäckig weigerten, de Gaulle und das französische Komitee für die Nationale Befreiung (CFLN) als die legitime französische Regierung anzuerkennen. Nach der Befreiung kam de Gaulle als Präsident der provisorischen Regierung kurz an die Macht. Doch bereits im Januar 1946 trat er zurück. Die berühmte „Durchquerung der Wüste“ folgte (la traversée du désert). Erst 1958 kam er als „Retter“ erneut an die Staatsspitze, die er nach seinem Wunsch umformte. Die Ideen des Mai 1968 läuteten sein Ende ein. Nach einer schweren persönlichen Krise habe ihn der Wahlsieg zu Leichtsinn verführt, so Johannes Willms. Der General wollte nun Mitbestimmung: die Arbeiter an den Unternehmensaktivitäten beteiligen. Premierminister Pompidou war dagegen. De Gaulle trat allerdings erst nach einem knapp verlorenen Referendum zur (wenig bedeutenden) Regionalreform 1969 ab.

Unter den Fehlern des Generals merkt Johannes Willms die 1944-45 verfolgte Politik an, die auf die vermeintliche Grandeur Frankreichs abstellte, aber angesichts der katastrophalen Lage des Landes anachronistisch war. Dazu gehörte seine Entscheidung zur Wiedereroberung von Indochina, die einen acht Jahre dauernden, sinnlosen Kolonialkrieg zur Folge hatte, der Frankreich riesige Kosten aufbürdete. Seine Haltung gegenüber der deutschen Frage sei kurzsichtig gewesen und habe schon wegen des amerikanischen Widerstands scheitern müssen. Realitätsfremd sei zudem sein Ehrgeiz gewesen, sich beim anbahnenden Ost-West-Konflikt eine unabhängige Mittlerposition zu verschaffen. Das sei schon deshalb anmassend gewesen, weil Frankreich völlig von der finanziellen Unterstützung der USA abhängig gewesen sei. Dies sei noch verstärkt worden durch de Gaulles Entscheidung für René Plevens Inflationspolitik anstelle des gegenteiligen Konzepts von Pierre Mendès France, das auf Währungsreform und rigorose Sanierung der Wirtschaft gesetzt hatte.

Dies sind wie erwähnt nur wenige Punkte aus einer umfangreichen, kritischen Biografie. Mit anderen Worten: Johannes Willms war ein Intellektueller mit Tiefgang, der unter die Journalisten gegangen war.

Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert. Biographie, C.H. Beck 2019, 665 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

P.S. Ich dachte, ich könnte den Autor mal in Paris zu dieser Biograf befragen. Doch dann kam die Pandemie dazwischen. Und nun ist er viel zu früh verstorben.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension von sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension vom 13. Juli 2022. Hinzugefügt um 16:23 deutscher Zeit. [P.S. Hinzugefügt um 16:28].