Joseph Croitoru: Die Hamas

Aug 02, 2024 at 19:20 241

Am 31. Juli 2024 hat es Israel mittels einer laut New York Times rund zwei Monate zuvor in seinem Gästehaus in Teheran verstecken Bombe geschafft, den politischen Führer der Hamas Ismail Hanija zu töten. Dies in einem Gebäude, dass von den iranischen Revolutionsgarden geschützt wird. Hinzu kommt die gezielte Tötung von Mohammed Deif, der Nummer 2 der Qassam-Brigaden im Gazastreifen. Sie erfolgte bereits am 13. Juli 2024, wurde allerdings erst am 1. August von den israelischen Streitkräften als gesichert bestätigt. Mohammed Deif gilt als einer der Köpfe hinter den Massakern vom 7. Oktober 2023 in Israel.

Als Antwort darauf wurden im Oktober 2013 unter anderem 14 Familienmitglieder von Ismail Hanija bei einem israelischen Luftangriff im Gazastreifen getötet. Im 10. April 2024 töteten die israelischen Streitkräfte, drei erwachsene Söhne sowie vier Enkel von Ismail Hanija im Gazastreifen. Am 25. Juni wurden 10 weitere Familienmitglieder des politischen Führers im al-Shati-Flüchtlingslager im Gazastreifen bei einem israelischen Luftangriff getötet.

Seit den Massakern vom 7. Oktober 2023 geht Israel in einem blutigen Krieg gegen die Hamas vor. Dieser hat bereits zehntausende Menschen das Leben gekostet, darunter tausende Frauen und Kinder. Rund 40% der Menschen im Gazastreifen sind nicht älter als 16 Jahre. Die Strategie der Hamas ist geradezu auf viele zivile Opfer ausgerichtet. Die Terroristen verstecken sich gezielt hinter den Zivilisten. Die Terrororganisation Hamas ist der Hauptschuldige an den vielen Toten. Hinzu kommt, dass das Vorgehen der israelischen Regierung – in der die Extremisten Ben Gvir und Smotrich sitzen – und Armee (vorsichtig formuliert) öfters nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Der Vorsitzende des Internationalen Gerichtshofes Karim Khan hat am 20. Mai 2024 Haftbefehle wegen des Verdachts von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen den israelischen Premierminister Netanjahu und den israelischen Verteidigungsminister Galant beantragt. Es ergingen ebenfalls Haftbefehle gegen die Hamas-Führer Ismail Hanija, Mohammed Deif und Yaha Sinwar (der ranghöchste Hamas-Führer im Gazastreifen, der als der Planer der Massaker vom 7. Oktober 2023 gilt).

Da stellt sich die Frage nach der Geschichte und Bedeutung der Hamas. Der 1960 in Haifa geborene deutsche Journalist, Historiker und Buchautor Joseph Croitoru widmet sich seit Jahrzehnten dem Studium der Terrororganisation, die zugleich politische Bewegung, Wohlfahrtsorganisation und Miliz ist. Er hat dazu dieses Jahr mit Die Hamas. Herrschaft über Gaza. Krieg gegen Israel ein neues, lesenswertes Buch vorgelegt. C. H. Beck, 2024, 223 Seiten. Das Buch bestellen (Cookies akzeptieren; wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis) bei Amazon.de.

Joseph Croituru hält fest, dass der Gazastreifen 40 Kilometer lang und zwischen 6 und 14 Kilometern breit ist. Insgesamt umfasst der Küstenstreifen rund 365 Quadratkilometer und ist damit knapp halb so gross wie die Fläche Hamburgs. Hier leben, von der Welt abgeriegelt, zwischen 2,2 und 2,3 Millionen Menschen.

Eine lange, komplizierte Geschichte

Joseph Croitoru erwähnt zu Beginn seines Buches die jahrtausendealte Geschichte des Gazastreifens, deren Anfänge in prähistorischer Zeit liegen. Über diesen Küstenstreifen herrschten Ägypter, Philister, Babylonier, Perser, Alexander der Grosse, Römer, Byzantiner, Muslime, Kreuzritter, Mongolen, Mamluken, Napoleon, Osmanen, Briten.

Im UN-Teilungsplan für Palästina vom November 1947, der den Konflikt zwischen Arabern und Juden lösen sollte, war der Gazastreifen als Teil des künftigen arabischen Staates vorgesehen. Nachdem die Briten das Mandatsgebiet verliessen, riefen die Israeli am 14. Mai 1948 den israelischen Staat aus. Unmittelbar danach erklärten die Nachbarstaaten Ägypten, Syrien, Libanon und Jordanien zusammen mit dem Irak und Saudi-Arabien den Israeli den Krieg. Ägypten nutzte die Gelegenheit, um das Gebiet um und südlich von Gaza zu besetzen, und startete von dort eine Offensive gegen jüdische Ortschaften im Norden und Osten. Die Israelis konnten diese Angriffe erfolgreich abwehren. Sie drängten die Ägypter zurück in den Gazastreifen, wobei sie selbst kleine Teile des Küstenstreifens eroberten: die im Norden gelegene Stadt Beit Hanun und Gebiete in der Nähe von Rafah, dem einzigen Grenzübergang zwischen Ägypten und Gaza, so Joseph Croitoru.

Der Historiker und Journalist notiert, dass sich die Bezeichnung «Gazastreifen» (Gaza Strip) für die Region erst mit den 1949 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn geschlossenen Waffenstillstandsabkommen einbürgerte. Über seinen Status wurde noch bis 1950 mit Ägypten weiterverhandelt. Schliesslich mussten die Israelis ihre in Gaza besetzten Gebiete an Ägypten abtreten.

Bis zum Krieg lebten im Gazastreifen rund 90,000 Menschen. Danach kamen rund 200,000 palästinensische Flüchtlinge, die aus dem südlichen Palästina flohen bzw. von Israelis vertrieben wurden. Die meisten landeten in acht Flüchtlingslagern, die vom «Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten» (UNRWA) bis heute betreut und versorgt werden.

Noch während des Krieges installierte sich im von Ägypten kontrollierten Teil des Gazastreifens die «All-Palästina-Regierung». Die im September 1948 unter der Ägide der Arabischen Liga im ägyptischen Alexandria gegründete Regierung nahm Sitz in Gaza-Stadt. Sie erhob zwar den Anspruch, ganz Palästina zu regieren, war aber laut Joseph Croitoru politisch machtlos, da sie weder über finanzielle noch militärische Mittel, geschweige denn einen funktionierenden Verwaltungsapparat verfügte. Die palästinensische Regierung wurde 1959 von Ägypten aufgelöst. Kairo annektierte den Gazastreifen jedoch nicht, sondern unterstellte ihn einer Militärverwaltung, die laut Joseph Croitoru viele der dort lebenden Palästinenser als Fremdbesatzung empfanden. Der Gazastreifen blieb bis zum Sechstagekrieg 1967 unter ägyptischer Kontrolle, kurz unterbrochen durch den Sinai-Krieg 1956.

Joseph Croitoru erläutert, dass sich Israel auf Druck der Amerikaner im Januar 1957 aus dem Sinai und zwei Monate später zudem aus dem Gazastreifen zurückziehen musste. Laut dem Historiker hegten die Israelis den Plan, auf Dauer im Gazastreifen zu verbleiben, denn die israelische Militärbesatzung baute dort einen eigenen Verwaltungsapparat auf. Das israelische Militärradio strahlte im Gazastreifen arabischsprachige Propagandasendungen aus, und in den Kinos liefen spezielle israelische Wochenschauen. Unter den weiteren Massnahmen der Israeli erwähnt Joseph Croitoru unter anderem, dass politisch verdächtige Lehrer entlassen und eine Reihe ägyptischer Schulbücher verboten wurden. Die Militärzensur sorgte dafür, dass in Israels Presse der Eindruck erweckt wurde, als seien den Palästinensern im Gazastreifen die israelischen Besatzer willkommen.

Bereits Ende 1956 und Anfang 1957 gründete Israel zwei Siedlungen im Gazastreifen. Joseph Croitoru unterstreicht, dass unter Ministerpräsident David Ben Gurion zudem der Bau weiterer Siedlungen geplant war. Der gesamte Sinai und der Gazastreifen sollten annektiert werden. Die Begründung der israelischen Regierung lautete, dass der Gazastreifen zuvor niemandem gehört habe – die Ägypter seien lediglich Besatzer gewesen.

1959 gründete Jassir Arafat in Kuwait die «Palästinensischen Befreiungsbewegung» (Fatah). 1964 folgte auf die Initiative des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser in Kairo die Gründung der «Palästinensischen Befreiungsorganisation» (PLO). Diese verfügte über einen eigenen militärischen Arm, die «Palästinensische Befreiungsarmee», die vom ägyptisch kontrollierten Gazastreifen aus regelmässig Anschläge gegen Israel verübte. Nach dem Sechstagekrieg 1967 zogen sich ihre Mitglieder in dern Untergrund zurück.

Joseph Croitoru beschreibt, wie 1969 General Ariel Scharon Chef des Südkommandos der israelischen Armee wurde und im Folgejahr den jungen Offizier Meir Dagan mit der Bekämpfung des palästinensischen Widerstands im Gazastreifen betraute. Dagan stieg vier Jahrzehnte später unter Ministerpräsident Scharon zum Chef des Geheimdienstes Mossad auf. Er hatte in Gaza freie Hand und setzte auch auf den Einsatz von Killerkommandos. In knapp zwei Jahren töteten diese 180 Palästinenser, die den Besatzern Widerstand leisteten, 2000 wurden inhaftiert.

Die Muslimbrüder und die Hamas

Im Jahr 1928 gründete der Lehrer Hassan al-Banna in der am Suezkanal liegenden Stadt Ismailiya die ägyptische Muslimbruderschaft. Joseph Croitoru unterstreicht, dass sie die Re-Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft und die Übernahme der Macht auf ihre Fahnen schrieben. Sie gerieten deshalb in Konflikt mit der säkularen ägyptischen Regierung und mit Präsident Gamal Abdel Nasser, der sie unerbittlich verfolgte, als sie begannen, Terroranschläge zu verüben.

Schon vor der israelischen Staatsgründung hatten die Muslimbrüder zum Heiligen Krieg gegen die Zionisten in Palästina aufgerufen. Während des arabisch-israelischen Krieges von 1948 hatten sie eine Freiwilligeneinheit an die Front in Gaza entsandt. Schon in den Jahrzehnten davor hatten die Muslimbrüder zwei Dutzend Aktivistenzellen in Palästina gegründet, so auch in Gaza. Dort hatte der palästinensische Zweig der Muslimbruderschaft unter der repressiven ägyptischen Besatzung jedoch kaum Aktivitäten entfalten können, was sich nun unter der Kontrolle der Israelis grundlegend änderte.

Joseph Croitoru unterstreicht, dass in Gaza der junge Palästinenser Ahmad Jassin, der sich 1955 den Muslimbrüdern angeschlossen hatte, damit begann, die Aktivitäten der Bewegung neu zu beleben. Der 1936 geborene Lehrer stammte aus dem nördlich des Gazastreifens gelegenen, von den Israelis zerstörten palästinensischen Dorf al-Dschura und lebte im Flüchtlingslager Schati in Gaza. Dort hatte er schon vor 1967 in einer notdürftig eingerichteten Moschee ein Zentrum nach dem Vorbild der Muslimbrüder eröffnet. Dort wurde Koranunterricht erteilt, Kinder konnten Sport treiben und an Sommerlagern teilnehmen. Unter der israelischen Besatzung baute Jassin die Organisation weiter aus und sorgte dafür, dass im Gazastreifen, vor allem in den Flüchtlingslagern, weitere solcher Zentren entstanden.

Jassins Bewegung konnte weitgehend ungestört expandieren. Sie verfügte Anfang der 1970er Jahre bereits über eine grössere zentrale Einrichtung in Gaza-Stadt: das «Islamische Zentrum» (al-mudschamaal-islami) mit Einheiten für religiöse Leitung, Wohlfahrt, Erziehung, Soziales, Medizin und Sport. 1979 wurde das Zentrum von den Israeli als gemeinnütziger Verein offiziell anerkannt und war bis zuletzt im gesamten Gazastreifen aktiv.

Joseph Croitoru hebt hervor, dass von Anfang an neben der religiösen Erziehung die Unterstützung der wirtschaftlich Schwachen ein Schwerpunkt der Arbeit des Zentrums war. Mitte der Siebzigerjahre begann der Einfluss von Arafats PLO in den Palästinensergebieten zu schwinden. Einer der Gründe war, dass die PLO-Milizen ab 1975 in den libanesischen Bürgerkrieg verwickelt wurden. Zudem wurden in den Palästinensergebieten die Aktivisten der PLO von der israelischen Militärbesatzung erbarmungslos verfolgt. Israel hatte laut Joseph Croitoru grösstes Interesse an der Erstarkung der religiösen Konkurrenz – was laut dem Historiker nicht nur in Israel gerne unter den Tisch gekehrt werde. Auch Jassins Anhänger wollten bis heute nichts davon hören, mit den Israelis jemals gemeinsam Front gegen die säkularen Konkurrenten gemacht zu haben.

Die Hamas

In den 1980er Jahren schlug die Rivalität von Fatah und Hamas in Gewalt um. Joseph Croitoru unterstreicht, dass es insbesondere im weitgehend isolierten Gazastreifen zu einer starken Islamisierung kam. Zwischen 1967 und 1987 verdoppelte sich hier die Zahl der Moscheen auf über 150, wobei die meisten hinzugekommenen von Jassin und seinen Anhängern gebaut wurden. Die Repression durch Israel wurde härter, die Palästinenser radikalisierten sich, unter anderem mit der noch extremeren Organisation Islamischer Dschihad, die von Iran und der libanesischen Hizbullah unterstützt wurde.

Jassin und die Muslimbrüder reagierten mit der Gründung der palästinensischen Heiligen Krieger (Al-Mudschahidun al-Filastin-iyun), die sofort von den Israeli als Terroristen zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Jassin kam 1985 bei einem israelisch-palästinensischen Gefangenenaustausch frei und rief eine neue militante Untergrundzelle ins Leben: , die Gruppe für Dschihad und Propaganda (Madschmuatal-Dschihad wa-l-Dawa), deren Mitglieder im Gazastreifen als islamische Sittenwächter auftraten.

Nach einer Reihe von gewalttätigen Auseinandersetzungen Ende 1987 zwischen Israeli und Palästinensern kam es zur ersten Intifada. Scheich Jassin und seine Vertrauten gründeten daraufhin die neue, militantere «Islamische Widerstandsbewegung» (Harakat al-Muqawama al-Islamiya), deren Akronym HAMAS im Arabischen zugleich «Eifer» bedeutet. Sowohl Arafats Fatah als auch Jassins Hamas erhoben den Anspruch auf die alleinige Führung des Aufstands.

All dies sind nur einige Angaben zur Vorgeschichte der Hamas. Um mehr zu erfahren über die Opposition der Hamas gegen die Friedensbemühungen der PLO, die Al-Aqsa-Intifada, die die Hamas erstarken lässt, den Wahlsieg der Hamas im Gazastreifen, die gewaltsame alleinige Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen und ihre Alleinherrschaft, das islamistische Regime in Gaza, das die palästinensische Spaltung vertieft, den Modus Vivendi zwischen Israel und der Hamas, den Arabischen Frühling, die Aufrüstung der Hamas, den Gazakrieg 2014, die angebliche Mässigung der Hamas, die militärischen Übungen in Gaza als Kriegsvorbereitungen, Angriffe der Palästinenser in der Westbank auf Soldaten und Siedler, die Invasion aus dem Gazastreifen und das Massaker des 7. Oktober 2023 sowie Israels Vernichtungskrieg gegen die Hamas, müssen Sie das Buch von Joseph Croitoru lesen.

Joseph Croitoru: Die Hamas. Herrschaft über Gaza. Krieg gegen Israel. C. H. Beck, 2024, 223 Seiten. Das Buch bestellen (Cookies akzeptieren; wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis) bei Amazon.de.

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Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Joseph Croitoru: Die Hamas. Herrschaft über Gaza. Krieg gegen Israel sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik hinzugefügt am 2. August 2024 um 19:20 deutscher Zeit. Zuletzt aufdatiert um 19:59.