Massimo Bognanni: CumEx

Aug 28, 2022 at 23:00 1173

Das Buch (Amazon.de) von Massimo Bognanni zum Cum-Ex-Skandal (kurz CumEx) Unter den Augen des Staates: Der grösste Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik rekonstruiert, wie es dazu kommen konnte und wie es dem Team um die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker gelungen ist, die weltweit geplante, bestens getarnte und aggressiv verteidigte Cum-Ex-Industrie zu entlarven und vor Gericht zu bringen.

Der Text folgt zwei Erzählsträngen. Zum einen hat Unter den Augen des Staates zum Ziel, das jahrzehntelange Versagen des Staates und seiner Institutionen zu dokumentieren. Alle jene Kapitel, die das Staatsversagen verdeutlichen, sind zu Beginn mit einem Bundesadler gekennzeichnet.

Der zweite Erzählstrang von Der grösste Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik folgt im Sinne einer »True Crime«-Erzählung der Staatsanwältin und ihren Ermittlungen. Diese Kapitel sind mit einem Lupen-Symbol markiert.

Die Erkenntnisse zum CumEx-Skandal sind nicht neu. Massimo Bognanni beschreibt im Kapitel „Schäferhund“ den Werdegang des Hessischen Börsenaufsehers August Schäfer und wie dieser bereits 1991 das Dividendenstripping entdeckt sowie von Gerüchten von noch aggressiveren Methoden hört, die später als Cum-Ex bekannt werden. 1991 und 1992 schreibt August Schäfer von Steuerbescheinigungen für nie bezahlte Steuern als Weiterentwicklung des Dividendenstripping. Jemand geht mit Pfandbons zur Kasse, obwohl er die Flaschen nie besessen hat. Wegen der gefälschten Pfandbons wird also Geld erstattet, das vorher kein Mensch bezahlt hatte. Das ist eine allgemein verständliche Umschreibung des Systems von CumEx, bei dem es darum geht, Kapitalertragssteuern erstatten zu lassen, die zuvor niemand abgeführt hat. Der Börsenaufseher August Schäfer durchschaut das System: Wer Steuerbescheinigungen ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken. Praktisch dabei ist, dass der Staat die Aufgabe, diese Steuerbescheinigungen auszustellen, an die Banken delegiert hat.

Massimo Bognanni berichtet bereits in seinm im Februar 2022 erschienen Buch (Amazon.de) vom Verdacht der Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker, dass ehemalige Grössen der Hamburger SPD sowie eine Finanzbeamtin der Hamburger Privatbank M.M. Warburg geholfen haben sollen, Millionensummen aus illegalen Cum-Ex-Geschäften behalten zu dürfen. Laut Strafgesetzbuch ist dies »Begünstigung« und wird im Falle einer Verurteilung mit einer Strafe von bis zu fünf Jahren Haft geahndet.

Unser Autor fragt sich, ob der Skandal nach dem formalen Ende der Cum-Ex-Geschäfte weiterging, als der Fiskus versuchte, die Steuergelder zurückzuholen. In Brorhilkers Visier sind frühere SPD-Politiker wie Johannes Kahrs geraten, den Vorsitzenden des SPD-Kreises Hamburg-Mitte, einstigen haushaltspolitischen Sprecher im Deutschen Bundestag sowie Sprecher des einflussreichen Seeheimer Kreises, dem konservativen Flügel der SPD. Neben Johannes Kahrs zählt Anne Brorhilker den früheren Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg, Alfons Pawelczyk, zu den Beschuldigten. Der einstige Senator ist seit Jahrzehnten Wegbegleiter und Ratgeber von Olaf Scholz. Hinzu kommt eine Finanzbeamtin, die sich in den Augen von Brorhilker und dem Landeskriminalamt äusserst verdächtig verhalten hat. All dies wird in diesen Wochen erst einer grösseren Öffentlichkeit bewusst.

In seinem Buch (Amazon.de) bildet Massimo Bognanni Schritt für Schritt den Fortgang der Ermittlungen ab. Die geschilderten Informationen geben daher den jeweiligen Kenntnisstand der Fahnder wieder. Die Schuld oder Unschuld zu ermittlen obliegt den Gerichten und war in den allermeisten Fällen zum Redaktionsschluss seines Werkes noch nicht erfolgt. Es gilt die Unschuldsvermutung bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung.

Massimo Bognanni sieht einen Skandal in der Zusammenarbeit von Bankern, Anwälten, Steuerberatern und Aktienhändlern, die zusammen die Staatskasse und ihre Mitmenschen schädigen. Im Buch erwähnt er, dass diesen nun klar geworden sei, dass sie auch im Gefängnis landen könnten.

Noch fataler findet Massimo Bognanni allerdings die Rolle der Finanzbeamten, Bankenaufsehern und Politiker, die über Jahrzehnte den Diebstahl aus der ersten Reihe beobachten konnten – und trotz vielfältiger Hinweise nicht durchgegriffen haben.

Der Autor verweist unter anderem auf staatliche Prüfer, für die die Sachlage klar war: Der Steuerbescheid müsse zurückgenommen werden, die Hamburger Warburg Bank müsse die Millionen zurückzahlen. Lange Zeit sah es so aus, als ob auch die zuständige Finanzbeamtin diese Einschätzung teilte. In einem 28-seitigen Vermerk notierte sie im November 2016 in aller Ausführlichkeit, warum die früheren Steuerbescheide der Bank korrigiert werden müssten, die Cum-Ex-Gelder zurück in die Staatskasse gehörten. Doch wenige Wochen später drehte sich der Wind völlig unerwartet. Nach einem Termin in der Hamburger Finanzbehörde, wie das Finanzministerium in der Hansestadt heisst, sprach die Beamtin des Finanzamtes plötzlich von Zweifeln und Risiken. Mit ihren Vorgesetzten sei sie einig, dass die Gelder nun doch bei der Bank verbleiben sollten. Die Warburg-Bank könnte auf Schadensersatz klagen, es drohten hohe Prozess- und Anwaltskosten sowie Amtshaftungsansprüche gegen Beamte in »nicht bezifferbarer Höhe«. Auch die Hamburger Finanzbehörde sah das so, schreibte Massimo Bognanni.

Der Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker wollte dies nicht in den Kopf. Just an jenen Tagen, als bei
ihr Kai-Uwe Steck und die ersten weiteren Kronzeugen begannen auszupacken, machten die Hamburger Finanzbeamten einen derartigen Rückzieher? Massimo Bognanni verweist darauf, dass die gleiche Finanzbehörde, die im Fall Warburg nun die grossen Bedenken plagte, war in einem anderen Cum-Ex-
Fall bereits im Jahr 2010 rigoros gegen eine Finanzfirma vorgegangen, die in ihren Augen zu Unrecht Steuererstattungen aus CumEx-Geschäfte beantragt hatte. Die Hamburger Behörde eskalierte damals den Streit bis vor den Bundesfinanzhof, Deutschlands höchstes Finanzgericht. Das Bundesfinanzministerium trat dem Verfahren bei. Am Ende siegten die Steuerbehörden mit ihrer Auffassung, dass sie die Erstattungen nicht an die Finanzfirma zahlen mussten. Massimo Bognanni betont, damit seien die Hamburger eine der ersten Behörden gewesen, die Cum-Ex enttarnten, die Auszahlungen verweigerten und das Ganze sogar höchstrichterlich klären liessen. Im Februar 2014 hatten die Finanzbehörden in Hamburg zudem im Cum-Ex-Fall der damals staatlichen HSH Nordbank 126 Millionen Euro aus CumEx-Geschäften als freiweillige Rückzahlung der Bank entgegengenommen.

Nur im Fall der Warburg Bank zierten sich die Hamburger Finanzbehörden. Erst als das Bundesfinanzministerium unter Wolfgan Schäuble sich einmischte, kam es im November 2017 auf Grund der Weisung von oben zu einem dicken Ende: Die Warburg-Bank musste 43 Millionen Euro zurückzahlen. Doch weitere 47 Millionen Euro galten da bereits als womöglich verjährt.

Am 20. März 2018 kam es zu einer folgenreichen Razzia auf dem Anwesen des Warburg-Miteigentümers Christian Olearius. Den Fahndern fielen 21 Tagebücher des Bankiers aus den Jahren 2006 bis 2018 in die Hände. Der Bankier und Jusist war prominent, gut vernetzt. Olaf Scholz liess es sich im Mai 2012 nicht nehmen, eine Festrede zum Geburtstag Christian Olearius’ zu halten.

Kurz nach der ersten Razzia wandte sich Olearius  an die Hamburger Sozialdemokraten Johannes Kahrs und Alfons Pawelczyk. Beide hätten sofort ihre Hilfe signalisiert: Kahrs hörte sich auf Bundesebene um, im Bundesfinanzministerium und bei der BaFin, während Pawelczyk offenbar mehrere Treffen zwischen Olearius und dem damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz organisierte. Der Name der Finanzbeamtin fiel in den Tagebuchaufzeichnungen wieder und wieder. Sie war anscheinend hin- und
hergerissen. Einerseits signalisierte die Beamtin lange, dass sie die Gelder zurückfordern werde. Gleichzeitig gab sie aber Tipps, wie die Bank dagegen argumentieren könne. Auch den Rat, dass sich die Bank nun politische Hilfe suchen solle, habe sie der Bank gegeben. Brorhilker wurde misstrauisch. Hatten die Hamburger Behörden ihren Standpunkt womöglich deshalb um 180 Grad gedreht, weil es eine politische Einflussnahme gegeben hatte?

Massimo Bognanni schreibt, dass es heimliche Verhandlungen zwischen den Hamburger Finanzbehörden und der Warburg-Gruppe gab, um sich im CumEx-Streit zu einigen. Die Finanzbehörden signalisierten Bereitschaft. Während es beim Strafprozess absehbar um eine dreistellige Millionensumme ging, war das Hamburger Finanzamt laut unserem Autor bereit, die Sache mit einer »Billigkeitslösung« gegen Zahlung von rund 60 Millionen Euro (inklusive Zinsen) zu beerdigen. Die Hansestadt hätte auf fast 100 Millionen Euro freiwillig verzichtet. Wäre es zu dem Deal gekommen, hätte auch das Landgericht Bonn die Bank nicht mehr zur Einziehung verdonnern können. Der Anspruch wäre für immer erloschen. Einmal mehr warf sich das Bundesfinanz ministerium, dieses Mal unter der Leitung von Olaf Scholz, dazwischen, verhinderte den Hamburger Handschlag.

Massimo Bognanni schreibt, dass für Anne Brorhilker all diese Belege und Vorgänge reichten, im Sommer 2020 einen begründeten Anfangsverdacht für politische Einflussnahme zu sehen. Sie will die hanseatischen Behörden durchsuchen, ebenso wie die Wohnungen von Johannes Kahrs und der Finanzbeamtin. Doch Anne Brorhilker wird in letzter Sekunde vom eigenen Haus ausgebremst. Noch während ihr Antrag für eine Razzia bereits beim Amtsgericht geprüft wird, schalten sich ihre Vorgesetzte ein. Hauptabteilungsleiter Elschenbroich nimmt der Richterin, die die Razzia final bewilligen soll, Brorhilkers Antrag vom Schreibtisch. Die Razzia in Hamburg wird abgeblasen, Brorhilker zurückgepfiffen und das Ermittlungsverfahren vorerst eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Köln wird später auf Anfrage zu dem Vorgang erklären, Grund für das behördeninterne Chaos sei ein »Kommunikationsversehen«. Brorhilker habe den Vorgang nicht, »wie zwischen allen Beteiligten im Vorfeld festgelegt«, ihrem Vorgesetzten vorgelegt. Das Amtsgericht sei daher um Rücksendung an die
Staatsanwaltschaft zur weiteren Prüfung gebeten worden. Die anschliessende Prüfung habe ergeben, dass keine Anhaltspunkte für ein strafbares Handeln vorlägen.

Als Massimo Bognanni sein Manuskript abschloss, war die Sache noch nicht gegessen. Er schrieb, das jetzt von der CDU geführte Ministerium habe einen Sachverhalt auf dem Schreibtisch, der prominente Politiker der SPD betrifft. Egal, wie man die Sache wende, politisch gesehen sei sie eine tickende Bombe.

Inzwischen wissen wir, dass bei Johannes Kahrs über 200,000 Euro und einige Tausend Dollar Bargeld in seinem Schliessfach bei einer Sparkasse gefunden wurden, bei denen die Herkunft nicht klar ist. Olaf Scholz kann sich bei Fragen um CumEx 35 Mal nicht erinnern, so nicht an Treffen oder den Inhalt von Treffen bzw. Telefonate mit Kahrs, Pawelczyk und Olearius, ist sich aber sicher, alles richtig gemacht zu haben, keinen politischen Einfluss genommen zu haben. Noch ist nichts bewiesen, doch der Kanzler wirkt nicht glaubwürdig. Die Geschichte stinkt zum Himmel. Emails und andere Nachrichten und Hinweise um CumEx wurden von mehreren Personen gelöscht. Olaf Scholz beantwortet entscheidende Fragen nicht. So, ob er sich mit Kahrs über die Warburg-Bank ausgetauscht hat. Der ehemalige Linke-Abgeordnete Fabio De Masi stellt auf Twitter immer mal wieder gute Fragen bzw. gibt spannende Hinweise. In Anlehnung an die Serie House of Cards ist im Netz, im Blätterwald und am TV vom House of Kahrs die Rede. Die Sache ist noch nicht gegessen.

Auf Amazon schreibt Massimo Bognanni zu seinem Buch, die ursprüngliche Cum-Ex-Methode sei zwar gestoppt, es gebe aber zahlreiche Hinweise darauf, dass Berater, Aktienhändler und Steueranwälte längst neue Modelle erdacht hätten, um weiter in die Staatskassen zu greifen. Wir hätten es nicht mit einer kleinen Gangsterbande zu tun, die im Hinterhof krumme Dinger dreht, sondern mit einer ganzen Branche, die Stockwerke von Bankentürmen fülle. Auf Amazon schreibt Massimo Bognanni zudem, dass in der Cum-Ex-Industrie mächtige und reiche Menschen unterwegs seien, die es gewohnt seien, sich mit ihren guten Kontakten und teuren Anwälten durchzusetzen und Kritiker kleinzumachen. Er notiert zudem, dass die Akteure der Wirtschaftskriminalität harte juristische Bandagen anwenden, um Kritiker und JournalistInnen einzuschüchtern. Das erlebe er bei seiner Arbeit ständig. Während seiner Cum-Ex-Recherchen habe es wütende Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter gegeben, und drohende Anwaltsschreiben mit möglichen Schadenersatzforderungen seien bei ihm angekommen. Ein weiterer guter Grund, dieses Buch zu lesen.

Dies sind nur einige wenige, spannende Auszüge aus einem Werk, dessen Inhalt nicht kurz zusammengefasst werden kann, das aktuell ist und insbesondere der SPD und ihrem Kanzler Scholz zurecht Bauchschmerzen bereitet.

Massimo Bognanni: Unter den Augen des Staates: Der grösste Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik. dtv, 2022, 285 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Massimo Bognanni (*1984) ist ein Wirtschafts- und Finanzjournalist. Seit November 2017 arbeitet er als Reporter für das Investigativteam des Westdeutschen Rundfunks, er ist Mitglied der Recherchekooperation aus WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung. Zusammen mit Petra Nagel und Michael Wech veröffentlichte er 2021 für WDR und NDR die Dokumentation zum Cum-Ex-Skandal: Der Milliardenraub. Eine Staatsanwältin jagt die Steuer-Mafia. Für seine Arbeit wurde Bognanni mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Fernsehpreis für den besten Dokumentarfilm.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik zu CumEx sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht immer zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 28. August 2022 um 23:00 deutscher Zeit.