Michail Chodorkowski: Plan für die Zeit nach Putin

Feb 20, 2023 at 19:36 678

Der vormalige russische Oligarch und ehemalige YUKOS-Chef Michail Chodorkowski, der von Vladimir Putin als möglicher Rivale über zehn Jahre ins Gefängnis gesteckt worden war, hat einen praktischen Plan für die Zeit nach Putin entworfen: Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre (Amazon.de).

In seinem Vorwort schreibt Michail Chodorkowski, dass nach seinem Zeitgefühl dem russischen Regime nicht viel Zeit bleibe, vielleicht zwischen fünf und zehn Jahre. Er wisse nicht, wie es enden werde, doch vermutlich mit Putin zusammen. Nach all dem, was in der Ukraine geschehen sei, könne er sich kaum vorstellen, dass der Kreml-Herrscher freiwillig abtreten und das Ende seiner von Gott gegebenen Tage an den Ufern des Athos erleben wird. Das werde ihm nicht gegönnt sein.

Der Archivar in Mark Sacharows Kultfilm Den Drachen töten, der die Anregung zum Titel dieses Buches gab, rechtfertigt seinen Konformismus gegenüber dem Ritter mit den Worten: »Die einzige Art, einen fremden Drachen loszuwerden, ist, sich einen eigenen anzuschaffen.« , dass man diesen Teufelskreis der russi- schen Geschichte aufbrechen und dass Russland ohne Drachen leben kann, nach eigenem Verstand und Gewissen.

Ende 2013 beschloss Putin, Michail Chodorkowski freizulassen, der selbst nicht weiss, warum. Mögliche Gründe: Die Olympiade, die vorbildlich abgewickelt werden musste, eine persönliche Bitte von Angela Merkel, der er in der Hoffnung auf eine künftige Gegenleistung nachkommen wollte, Mitgefühl für Chodorkowskis sterbende Mutter, die eine letzte Chance hatte, ihren Sohn zu sehen. Seine Freilassung wäre ohne Putins guten Willen und seinen Wunsch niemals erfolgt und habe eine Reihe Leute in seinem Umfeld verärgert. Einen FSB-Offizier, der ihn aufsuchte, warnte Chodorkowski nach eigener Aussage ehrlich, er hätte nicht vor, künftig still zu sitzen. Chodorkowski schreibt, er habe mit Putin keine Rechnung mehr offen, denn er habe ihn zwar ins Gefängnis gebracht, ihm und seiner Familie zehn Jahre geraubt, aber er habe ihm auch das Leben gerettet, denn Putin hätte ihn töten oder lebenslang im Gefängnis schmoren lassen können.

Die Motivation von Michail Chodorkowski, in die Politik zu gehen

Michail Chodorkowski schreibt, er sei immer sehr misstrauisch gegenüber Menschen, für die Politik Selbstzweck sei, denn diese hätten keine Überzeugungen und könnten keine haben, denn diese würden sie angreifbar machen und sie daran hindern, ihre Ziele zu erreichen. Im Allgemeinen komme unter sonst gleichen Bedingungen ein prinzipienloser Mensch, der an keine Konventionen gebunden sei, leichter an die Macht.

Bei Politikern mit Überzeugungen sei natürlich ebenfalls nicht alles einfach. Kämen Fanatiker mit men schenfeindlichen Ideen an die Macht, würden sie nicht nur zu einer Bedrohung für eine bestimmte Gesellschaft, sondern für die gesamte Menschheit. Dennoch wäre die Welt jungfräulich patriarchalisch geblieben, wären nicht Menschen mit Überzeugungen an der Macht gewesen, die sie verändern wollten.

Etwa zwei Monate nachdem er, Michail Chodorkowski, Russland gegen seinen Willen verlassen musste, sei das Land wieder zu dem alten geworden, das es vor der Perestroika gewesen sei. Der gescheiterte Versuch, die Revolution in der Ukraine zu unterdrücken, die anschliessende Annexion der Krim durch Russland, die wiederum den Krieg im Donbass auslöste, habe in Russland alles auf den Kopf gestellt. Innerhalb weniger Monate sei das Land politisch um Jahrzehnte zurückgeworfen worden. Putin und sein Gefolge hätten alles zunichte gemacht, was Chodorkowskis Generation in der Unterstützung von Gorbatschows und Jelzins Versuchen, Russland zu verändern, erreicht habe. So sei seine Motivation, entstanden, sich politisch zu engagieren, die er weder im Gefängnis noch bei seiner Entlassung gehabt habe. Er müsse die Überzeugungen und Ideale seiner Generation von Revolutionären verteidigen, damit Russland seine Zukunft nie wieder an die Vergangenheit verliere und nicht wieder in den Trott zurückfalle, aus dem es Ende der 1980er-Jahre so mühsam herausgerissen werden konnte.

Was in Russland zu tun sei, damit sich die Lage nach Putin ändere

Für Michail Chodorkowski heisst die Lösung nicht einfach, Putin und seine Clique von der Macht zu entfernen. Nach Stalin sei das Land in den Stalinismus zurückgefallen, nach Breschnew habe das Land die Stagnation zurückbekommen, die zaristische Autokratie sei gestürzt worden, doch hundert Jahre lebe Russland erneut unter einem autokratischen Regime.

Es sei möglich, Putin loszuwerden, doch Putinismus, Stalinismus und Autokratie würden Russland immer wieder von Neuem heimsuchen, solange die gesellschaftspolitischen und institutionellen Voraussetzungen dafür bestünden. Es sei immer einfach und bequem, das Böse zu personifizieren, aber hier gehe es nicht um Persönlichkeiten, sondern um die objektiven Voraussetzungen. In gewissem Sinne sei es nicht Putin, der Russland gebrochen habe, sondern es sei das traditionelle Russland, das Putin zerdrückt habe.

Die Lösung sieht Michail Chodorkowski einzig in einer parlamentarischen Regierungsform, d.h. einer echten parlamentarischen Republik, keiner Pappmascheeversion wie dem sowjetischen Parlamentarismus. Jede andere Regierungsform, die die gesamte Exekutivgewalt in den Händen eines formellen Staatsoberhauptes konzentriere, führe unweigerlich zu einer autokratischen und totalitären Entartung des Regimes, da die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bremsen, die das Abgleiten des Staates in autoritäre Bahnen verhinderten, in Russland noch sehr schwach ausgebildet seien. Die Spitze der Pyramide müsse gekappt werden. Michail Chodorkowski tritt daher für den Aufbau einer föderalen parlamentarischen Republik mit einer entwickelten lokalen Selbstverwaltung ein. Es sei wichtig, den Diktator loszuwerden, die Verbrechen des Regimes aufzuklären, wenigstens elementare demokratische Normen, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Lande wiederherzustellen, doch noch wichtiger sei es, dies so zu tun, dass das Erreichte nicht gleich wieder verloren gehe.

Michail Chodorkowski fordert eine echte Revolution, die nicht nur die Oberfläche des politischen Lebens schöne, sondern die Grundfesten der traditionellen Ordnung des russischen Lebens umstosse. Eine solche Umwälzung werde viele Opfer fordern, mit hohem Risiko behaftet sein und buchstäblich alles von unten nach oben neu ordnen. Michail Chodorkowski fordet ein parlamentarischen Republik, in der das Land von einer Koalition von Parteien regiert werde, die das Parlament auf der Grundlage echter Wahlen kontrollierten und ihrerseits eine echte, breite Mehrheit der Gesellschaft repräsentierten.

Es werde Jahre dauern, bis die Zivilgesellschaft ihr altes Niveau wieder erreicht habe, zumal sie auf diesem früheren Niveau sehr unreif gewesen sei. Es gebe weder auf föderaler noch auf lokaler Ebene ein Parteiensystem. Alle bestehenden Parteien seien entweder von den Behörden selbst geschaffene Fälschungen oder von ihnen unterwandert. Oder sie seien marginale Sekten, die sich um Mikroführer scharten und in den Massen nicht solide verankert seien.

Russland sei ein überzentralisierter Staat, weil, sobald das Zentrum schwächelte und einen erheblichen Teil der Macht an die Regionen abtrat, sofort lokale Zaren auftraten, die alle noch gieriger und bösartiger gewesen seien als jener in Moskau. Daher brauche e:s eine von beiden Polen unabhängige Kraft, genau jene Kraft, die Putins Regime in den letzten Jahren als Institution am meisten unterdrückt habe: Die lokale Selbstverwaltung. Dem Gouverneur, der nach der Macht greife, während das Zentrum nicht hinschaue, könne von einem unabhängigen und autonomen Bürgermeister oder Verwaltungschef Einhalt geboten werden. Michail Chodorkowski fordert also Checks and Balances, daneben ein unabhängiges Justizsystem und mehr.

Für unseren Autor wird es nicht ohne Übergangszeit („ein finsterer Wald“) gehen, die nicht länger als zwei Jahre dauern dürfe, denn da müssten viele unpopuläre Massnahmen getroffen werden. Auf der einen Seite stehe eine Terrormaschine mit einem riesigen Dienstapparat, der auch nach dem Abgang Putins seine Positionen nicht aufgeben werde, auf der anderen eine von diesem Terror erdrückte, verängstigte Gesellschaft, die ihre stabilen sozialen Bindungen verloren habe, mit einer Elite, die quantitativ geschrumpft und qualitativ degradiert sei.

Michail Chodorkowski ist der Meinung, der Versuch, konsequente Reformen in den 1990er Jahren durchzusetzen, scheiterte daran, dass es die Reformer versäumten, sich der nachhaltigen Unterstützung der Gesellschaft zu versichern. Da es für jede tiefgreifende Transformation in Russland die Unterstützung der Massen brauche, könne diese nur gleichzeitig mit der Umsetzung eines »Linkskurses« erfolgen. Es geht darum, den Menschen zu- rückzugeben, was ihnen in den 1990er-Jahren genommen wurde, nämlich der Anspruch auf Ressourcenrente und eine gerechte Verteilung des Eigentums.

Die Ressourcenrente bezeichnet Michail Chodorkowski als die wichtigste Quelle des Reichtums in Russland, und zwar sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. Formal verfüge heute der Staat über die Ressourcenrente, de facto jedoch eine mafiöse Gesellschaft.

Es gebe zwei ungelöste Probleme: die Rentenfrage und die gerechte Verteilung der Gewinne aus dem Verkauf der natürlichen Ressourcen. Die Mittel für die Zahlung einer angemessenen Rente und die Haushaltseinnahmen aus der Ressourcenrente seien ungefähr gleich hoch. Daher schlägt er vor, die Erlöse aus dem Verkauf von Energieressourcen auf individuelle Sparkonten der Bürger lenken, die direkt beim Fiskus geführt werden. Den Bürgern fehle allerdings das Vertrauen zum Staat und zum Privateigentum. Das parasitäre Eigentum (Chodorkowski war selbst ein Oligarch) müsse daher  enteignet werden.

Dies sind nur einige Aussschnitt aus Wie man einen Drachen tötet. In weiteren Passagen und Kapiteln behandelt der Autor viele weiter Themen. So die Fragen, wie man den „Drachen“ los wird (revolutionäre Gewalt ist legitim), wie man den Protest heranzieht, wie man den Krieg beendet, wie man einen öffentlichen Dienst schafft, wie man wirtschaftliche Gerechtigkeit erreicht, wie man es vermeidet, einen neuen Diktator („Drachen“) heranzuzüchten und vieles mehr.

Am Ende notiert Michail Chodorkowski, es brauche keinen Helden, der den „Drachen“ töte. Seltsamerweise schreibt er es hier nicht direkt, doch er meint: Es ist am russischen Volk aufzustehen. Zudem unterstreicht er: „Wir sind Europäer! Wir haben diese Zivilisation mit aufgebaut und verteidigt und haben nicht weniger Anrecht darauf als die Franzosen, Deutschen, Briten, Australier, Kanadier und Amerikaner!“

Michail Chodorkowski: Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre. Europa Verlag, Februar 2023, 104 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Ausstellungskritik / Rezension / Buchkritik von Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension hinzugefügt am 20. Februar 2023 um 19:36 Schweizer Zeit. Zuletzt aufdatiert um 20:00.