Munch. Lebenslandschaft

Dez 22, 2023 at 09:46 573

Das Museum Barberini in Potsdam präsentiert seit dem 18. November 2023 und noch bis am 1. April 2024 (kein Scherz) die Ausstellung Munch. Lebenslandschaft, die zuvor vom 10. Juni bis zum 15. Oktober 2023 unter dem Titel Munch. Trembling Earth im Clark Art Institute in Williamstown (USA) zu sehen war. Nach Potsdam wird die Schau zudem vom 27. April bis am 24. August 2024 im MUNCH in Olso zu sehen sein.

Der gleichnamige Katalog zur Ausstellung Munch. Lebenslandschaft, herausgegeben von Otrud Westheider et al., ist erschienen bei Prestel, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten mit 200 farbigen Abbildungen, 24,0 x 30,0 cm. Alle Cookies akzeptieren, damit sie direkt zur Seite des Buches gelangen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Dies ist die erste umfassende Ausstellung weltweit, die mit insgesamt 116 Gemälden, Holzschnitten, Lithographien und Zeichnungen von 21 Leihgebern in acht Ausstellungskapiteln Edvard Munchs Beziehung zur Natur in den Vordergrund stellt. Die Schau ist in Zusammenarbeit mit dem Clark Art Institute in Williamstown und dem MUNCH in Oslo entstanden. Sie wurde kuratiert von der Gastkuratorin Jill Lloyd.

Laut den Ausstellungsmachern versucht der Künstler in seinen Landschaftsbildern den Platz des Menschen im kosmischen Kreislauf des Lebens zu ergründen. Die in Potsdam ausgestellten Werke sollen verdeutlichen, welche künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Vorstellungen die Kunst Edvard Munchs beeinflusst haben.

Laut dem Katalog entwickelte sich bereits zur Zeit von Edvard Munch ein Bewusstsein für die Gefahren des Klimawandels, die Europas Industrialisierung und Verstädterung mit sich brachten. Parallel trugen bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen zu einem neuen Verständnis für die Komplexität der Natur bei. Der vielschichtige, offene Charakter verleiht Edvard Munchs Arbeiten Relevanz für die Gegenwart.

Jay A. Clarke: Munchs lebendige Natur

Jay A. Clarke zeigt in ihrem Essay „Munchs lebendige Natur“, welche Spuren die Entstehungsorte, aber auch die kulturellen Strömungen und ökonomischen Entwicklungen in Munchs Zeit speziell in den Küsten- und Waldbildern des Künstlers hinterlassen haben.

Inspiriert wurde Edvard Munch von den Wäldern in der Umgebung von Åsgårdstrand, den Ulmen in der Nähe seines Hauses in Ekely bei Oslo und vom Thüringer Wald. Seine Gemälde und graphischen Werke widmen sich dem Kreislauf des Lebens.

Jay A. Clarke schreibt, dass für die Deutung des künstlerischen Schaffens von Edvard Munch meist das Gefühlsleben des Malers bemüht wird: Liebe, Angst, Vereinsamung, Eifersucht, Trauer. Es werden Zusammenhänge zwischen diesen Emotionen und seiner Biographie sowie seinem Gesundheitszustand hergestellt. Seine Arbeiten erscheinen als Widerhall dessen, was in seinem Leben geschah: Tod der Mutter, der Schwester und des Vaters, gescheiterte Liebesbeziehungen, psychische Erkrankung, Angstzustände und Verfolgungswahn.

Dabei wird laut Jay A. Clarke vergessen, dass sich Edvard Munch ebenfalls mit Themen wie Schönheit, Natur, universalen Wahrheiten und mit den wissenschaftlichen Theorien seiner Zeit befasste. Sie unterstreicht, dass der Künstler über die Hälfte seiner malerischen Arbeiten Naturmotiven widmete. Sobald wir sein Werk nicht nur unter dem Blickwinkel seiner Lebensgeschichte, sondern unter dem Aspekt seines Verhältnisses zu Natur und Landschaft betrachten, erschliessen sich laut der Autorin neue Sichtweisen auf den Künstler. So wird die Küste wird in seinen Bildern häufig zum Schauplatz menschlicher Vereinsamung, der Wald zum Ort des Geheimnisvollen und der verborgenen Sehnsüchte.

Zum Wald notiert Jay A. Clarke u.a., dass Edvard Munch Bäume als symbolische oder empfindsame Organismen verstand. Mit der materiellen Substanz Holz verband er tief verwurzelte seelische, stoffliche und nationale Bedeutungen. Seine Vorstellungen vom Wald waren zudem mit seiner religiös-wissenschaftlichen Weltsicht verknüpft.

Jay A. Clarke unterstreicht, dass Wissenschaftler wie der von Edvard Munch bewunderte Ernst Haeckel, ein Verfechter Charles Darwins, für die Physiologie warben – eine an Bedeutung gewinnende wissenschaftlich fundierte Philosophie, die lebende Organismen im Gesamtzusammenhang von Zirkulation, Fortpflanzung, Atmung, Genetik, Neurologie und Tod betrachtete. Sowohl in den Illustrationen zu Ernst Haeckels wissenschaftlichen Publikationen als auch in Edvard Munchs Werken gehen Physiologie und Ästhetik eine enge Verbindung ein, so Jay A. Clarke.

Sie folgert am Ende ihres Essays, dass wenn man die Bilder von Edvard Munch unter dem Aspekt der Belebtheit der Materie und aus der weltanschaulichen Perspektive des Künstlers betrachtete, seine Werke weit mehr sind als Transkriptionen geographischer Orte, die der Maler mit einem erzählenden Blick betrachtete: Sie werden – so wie es Edvard Munchs Intention entsprach – zu Objekten mit atmender, sinnlicher Lebenskraft.

Das Eingebundensein des Menschen in die Zyklen der Natur und weitere Essays

Jill Lloyd interpretiert in ihrem Katalogbeitrag „Munchs alternative Modernität. Kultivierte Natur und Klimaangst“ die Kulturlandschaften und Gärten, die Edvard Munch ins Bild gesetzt hat, als Orte der Transformation sowie als Gegenbilder zur Industrialisierung und Urbanisierung der modernen Welt; zudem stellt sie Munchs Darstellungen von Schnee und extremen Wetterereignissen in den Kontext der damals verbreiteten Angst vor einer neuen Eiszeit.

Laut Jill Lloyd verbindet Edvard Munchs Landschaftsgemälde im Innersten das ausgeprägte Bewusstsein des Malers für das enge Eingebundensein des Menschen in die Zyklen der Natur. Laut ihr sind seine Landschaften mehr als eine Kulisse für menschliche Dramen, sondern mehr als wohl jeder andere Künstler seiner Generation habe er die Natur als eine tätige Kraft ins Bild gesetzt.

Laut Jill Lloyd ersschloss sich Edvard Munch mit seinen Landschaften eine Modernität, die zu einem harmonischeren Verhältnis zwischen den Kräften des Wandels und den Kreisläufen der Natur findet.

Jill Lloyd zitiert zu den 18 Hektar Land, Wald und Obstgärten, einen Musterbetrieb, was Pflanzenbau und Gartengestaltung betraf, den Edvard Munch 1916 in Ekely (Norwegen) erwarb, seinen Nachbarn, den Künstler Chrix Dahl:

„Ekely wurde von seinem neuen Eigentümer in Besitz genommen. Damit war es mit dem bürgerlich-heiteren Idyll aus Amtsgärtnerzeiten ganz und gar vorbei. Das Anwesen hatte sich in ein verwunschenes Stück Land verwandelt, wo nichts so war wie anderswo. An den Obstbäumen hingen Unmengen von Äpfeln, Birnen und anderes, was an Obstbäumen zu wachsen pflegt, aber auch flammende Leinwände, die wie exotische Riesenblüten aussahen. Die Hecken verwilderten und wucherten meterhoch, und wo es keine Hecken gab, wurden stabile Zäune errichtet, damit kein Unbefugter sich hereinschleichen konnte […]. In diesem abgeschlossenen Reich schien alles zu verwildern. Doch was tatsächlich hinter den verriegelten Toren und hohen Zäunen vor sich ging,wussten nur wenige.“

Laut Jill Lloyd empfand Edvard Munch seine Gärten als Orte des Rückzugs und des überbordenden Lebens. In späteren Lebensjahren betonte der Künster, er bewirtschafte lieber seine Kunst als den seine Häuser umgebenden Grund und Boden.

Jill Lloyd deutet Edvard Munchs Gemälde von Gärten und Bauernhöfen ebenso wie seine nackten Badenden und seine Huldigungen an die Sonne als Versuch, ein neues Verhältnis zur Natur zu entwickeln und daraus Lebenskraft und kreative Energie zu schöpfen.

Trine Otte Bak Nielsen deckt in ihrem Essay „Auch im härtesten Stein lodert die Lebensflamme. Edvard Munchs Naturphilosophie“ die wenig erforschten Querverbindungen zwischen dem Werk des Künstlers und einigen philosophischen und wissenschaftlichen Theorien des späten 19. Jahrhunderts auf, die den Menschen als Teil eines allumfassenden kosmischen Kreislaufs begriffen.

Der norwegische Philosoph Arne Johan Vetlesen fragt in seinem Beitrag „Munch und die Trauer über den Verlust der Natur. Die Geschichte einer gefährdeten Beziehung“ nach der Relevanz von Edvard Munchs Kunst für die Gegenwart, in der uns durch Klimaveränderungen und Urbanisierung die Natur und unsere Beziehung zu ihr abhanden kommen.

Dies sind nur einige Angaben zu einer faszinierenden Ausstellung und einem ebensolchen Katalog, die eine bisher wenig bekannte und kaum erforschte Seite von Edvard Munch zeigen.

Hrsg. Otrud Westheider et al.: Munch. Lebenslandschaft, Prestel, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten mit 200 farbigen Abbildungen, 24,0 x 30,0 cm. Alle Cookies akzeptieren, damit sie direkt zur Seite des Buches gelangen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Siehe zu Edvard Munch zudem den englischen Artikel Edvard Munch: Magic of the North, zur noch bis am 22. Januar 2024 dauernden, gleichnamigen Ausstellung in der Berlinischen Galerie in Berlin.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik / Austellungskritik von Munch. Lebenslandschaft sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik / Ausstellungskritik vom 22. Dezember 2023 um 09:46 deutscher Zeit.