Paul Lendvai: Orbáns Ungarn

Aug 15, 2022 at 16:32 812

Die erweiterte Neuauflage (Amazon.de) der 2018 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichneten Biografie Orbáns Ungarn von Paul Lendvai (*1929 in Budapest) beschreibt die Abwendung des Orbán-Regimes vom Westen, die Konflikte mit der EU sowie den Werdegang und die Bereicherung der Familie und der Freunde des Regierungschefs.

In Orbáns Ungarn beschreibt der in Budapest geborene und daher perfekt ungarisch sprechende Paul Lendvai wie Viktor Orbán einen nationalistischen, fremdenfeindlichen und populistischen Kurs fährt und die europäische Solidarität unterminiert, obwohl Ungarn gleichzeitig einer der Hauptnutzniesser von EU-Transfers ist.

Im Vorwort zur Neuauflage seines Buches bezeichnet Paul Lendvai den ungarischen Premierminister Viktor Orbán als gefährlichsten Störenfried innerhalb der gespaltenen und seit dem Brexit geschwächten Europäischen Union. Zusammen mit der rechtspopulistischen Regierung in Polen und oft, aber nicht immer, mit den anderen zwei Visegrád-Staaten Slowakei und Tschechien, bildet er das grösste Hindernis auf dem Weg zur engeren europäischen Zusammenarbeit. Das Buch erschien gut ein Jahr vor Putins Eskalation des Krieges gegen die Ukraine. Seither ist Ungarn weitgehend isoliert in der EU, da Orbán bezüglich Putin seinen Sonderweg fortführt, der insbesondere in Polen gar nicht gut ankommt.

In nur einem Jahrzehnt hat Viktor Orbán Ungarn in eine Pseudo-Demokratie, in einen autoritären Staat verwandelt, in dem der Premierminister über fast uneingeschränkte Macht verfügt, denn er und seine Regierung haben verfassungsmässige Kontrollen schrittweise liquidiert, die wichtigsten elektronischen und Printmedien unter ihre Kontrolle gebracht. Seit seiner neuerlichen Wiederwahl 2018 strebt Orbán laut Lendvai nach der schrittweisen Liquidierung des Rechtsstaates und der Medienfreiheit. Zudem strebt er die Kontrolle der Wissenschafts- und Kulturpolitik sowie des Familien- und Bildungswesens an. Ungarn ist heute hinter Bulgarien der zweitkorrupteste Staat innerhalb der EU.

Paul Lendvai beschreibt unter anderem den Jungpolitiker Orbán, der an der Spitze der Jugendpartei Fidesz mit 35 Jahren zum jüngsten Ministerpräsidenten der ungarischen Geschichte aufstieg. Doch nach zwei Wahlniederlagen 2002 und 2006 schien er erledigt, kam jedoch – inhaltlich stark verändert – 2010, 2014 und 2018 triumphal mit jeweils Zweidrittelmehrheiten der Parlamentssitze zurück.

Die Bereicherung der Familie und der Freunde des „absoluten Herrschers“ wird von ungarischen Soziologen und Politiologen als  beispielloses Phänomen in der modernen ungarischen Geschichte betrachtet.

Hierzu stützt sich der Autor auf den unabhängigen Rechtsprofessor Tamás Sárközy, der auf ein einzigartiges und in den westlichen Medien laut Lendvai völlig übersehenes Phänomen in Ungarn hinweist: Es dürfte in der Welt (abgesehen von Familienclans oder Diktaturen in Afrika und Lateinamerika) kein demokratisches Land geben, in dem die Angehörigen eines winzigen, seit rund 30 Jahren bestehenden Freundeskreises aus maximal zwanzig einstigen Studenten so viele staatsrechtliche Positionen besetzen, darunter die Ämter des Staatspräsidenten, des Ministerpräsidenten und des Parlamentspräsidenten: János Áder, Viktor Orbán und László Kövér sind alte und enge Freunde. Was zählt ist einzig die unbedingte persönlichen Loyalität gegenüber Viktor Orbán; besondere Fähigkeiten, Qualifikationen sind irrelevant. Die Schlüsselpositionen in Verwaltung und Wirtschaft werden von Freunden von Orbán besetzt, die an der Universität, im Kollegium oder beim Militär miteinander (oft auch durch ihre Ehefrauen) in Kontakt kamen, heute Endfünfziger sind. Sie bilden den geschlossenen Kern der Herrschaft im ungarischen Staat.

Orbán und seine Freunde stammen zumeist aus ärmlichen Verhältnissen in der Provinz. Viktor zeichnete der absolute Willen zur Macht aus. Laut Lendvai (Amazon.de) besteht allerdings Orbáns Regierungssystem nicht auf blanker Unterdrückung wie jenes Wladimir Putins in Russland, Alexander Lukaschenkos in Belarus oder Nursultan Nasarbajews in Kasachstan, sondern Orban schart durch die Vergabe von Ämtern mit Pfründen eine grosse Anhängerschaft um sich, die weit über Verwaltung und Polizei, Geheimdienste und Militär hinausreicht.

Paul Lendvai traf den jungen Viktor Orbán erstmals 1993 in Wien, wo er im Gegensatz zum national gesinnten, rechtskonservativen Kurs der Regierung Antall in Budapest als liberaler Hoffnungsträger auftrat. Für den Beobachter Lendvai stellte sich nach der Wahlniederlage bald heraus, dass Orbán und seine engsten Freunde nur liberale Masken aufgesetzt hatten, die sie dann geschmeidig den sich bisweilen ebenso rasch wie dramatisch verändernden Rahmenbedingungen anzupassen verstanden. Im April 1995 bekannte sich Orbán laut unserem Autor ohne Wenn und Aber zum Kurswechsel nach rechts.

Wie konnte sich der Premierminister Jahre später eine Zweidrittelmehrheit „erarbeiten“? Lendvai zitiert die OSZE und andere unabhängige Wahlbeobachter wie die des Ungarischen mächtige Kim Lane Scheppele von der Princeton University. Diese verweisen auf die für den Fidesz zugeschnittenen Wahlgesetze, manipulierte Wahlkreise, eine von Orbán direkt oder indirekt kontrollierte Medienlandschaft und vieles mehr. Die Perversion des Systems verdeutlicht die Wahl 2014. Bei dieser erhielt der Fidesz weniger Stimmen als 2002 und 2006, als Orbán die Wahlen verloren hatte. Doch 2014 gelang es ihm mit weniger Stimmen eine Zweidrittelmehrheit zu erringen.

Paul Lendvai geht natürlich auf Orbáns Hinwendung zum Illiberalismus Ende Juli 2014 ein. Bei einer Rede im rumänischen Siebenbürgen erteilte er der liberalen Demokratie eine totale Absage und kündigte den Aufbau eines »illiberalen Staates« an, orientiert an Vorbildern wie Russland, der Türkei und China.

Die prorussische Aussen- und Energiepolitik Orbáns führte 2015 zum Bruch mit seinem langjährigen (35 Jahre!) Freund Lajos Simicska. Dieser hielt sich sonst stets im Hintergrund, baute ein Finanz-, Bau- und Medienimperium auf, das den Ausbau der uneingeschränkten Machtposition Orbáns überhaupt erst ermöglicht hatte. Lajos Simicska gab nie Interviews und von ihm gibt es kaum Fotos. Doch nun attackierte er Orbán frontal. Neben der prorussischen Aussen- und Energiepolitik attackierte er zudem die Medienpolitik sowie eine geplante Werbesteuer für alle Medienunternehmen. Laut Lendvai ging es allerdings nicht in erster Linie um unterschiedliche Wertvorstellungen, sondern um handfeste Interessenkonflikte.

Die für das Entwicklungsministerium zuständige Ministerin, eine langjährige Vertraute Simicskas, wurde abgelöst. Bei der Neubesetzung der zentralen und regionalen Posten, die für die Vergabe öffentlicher Aufträge und die Zuteilung der EU-Gelder zuständig sind, kamen Fidesz-Leute zum Zug, die nicht von Simicska abhängig waren. Nachdem Simicskas Medien, so die Tageszeitung Magyar Nemzet, der Nachrichtensender HírTV, Lánchíd Radio und das Wochenblatt Heti Válasz begonnen hatten, einzelne Regierungsmaßnahmen zu kritisieren, schlug Orbán mit der Ankündigung zurück, dass diese Medien nicht mehr mit Werbeaufträgen von staatlichen und staatsnahen Unternehmen rechnen dürften.

Der gleichzeitige, für Lajos Simicska völlig überraschende Rücktritt von seinen sechs Spitzenmanagern aus »Gewissensgründen« 2015 war von langer Hand vorbereitet gewesen. Er führte nicht nur zur Umwälzung der Medienwelt mit einem vollständig von Orbáns Leuten kontrollierten Medienreich. Zusätzlich wurde klar, dass Simicskas Baukonzern Közgép fortan bei öffentlichen Aufträgen leer ausgehen. Simicska soll mit seinen Partnern dank seiner Leute im Regierungsapparat laut Schätzungen seit 2010 etwa 40 Prozent aller Ausschreibungen, bei denen EU-Transfers in Ungarn vergeben wurden, gewonnen haben. Es handelte sich um mehrere Milliarden Euro. Neue Oligarchen und Orbán persönlich ergebene Minister erledigten Simicska und sein Imperium. Der Macht des Premiers darf niemand im Weg stehen. Nach dem dritten Wahlsieg Orbáns 2018 kapitulierte Simicska und verkaufte innerhalb weniger Tage seine Medien und Industrieholdings an Fidesz-nahe Oligarchen.

Paul Lendvai erwähnt Günstlinge des Regimes wie Nationalbank-Präsident György Matolcsy und seine Familie, den früheren, dreifachen ungarischen Kendo-Meister Árpád Habony, den 2017 verstorbenen Filmproduzenten Andy Vajna (Rambo, Total Recall), der ohne Ausschreibungen 2013 fünf von sieben Casino-Konzessionen in Ungarn erhielt und 2015 den zweitgrößten TV-Sender TV2 übernahm. Lendvai zitiert in diesem Zusammenhang Beobachter, die den Unterschied zwischen Silvio Berlusconi und Viktor Orbán so beschrieben: Berlusconi hat durch sein Medienreich die politische Macht erobert, während Orbán seine politische Vorherrschaft zum Aufbau eines eigenen, verlässlichen Medienapparates mit aktiver Hilfe ihm ergebener Oligarchen einsetzt.

In Lendvais Buch (Amazon.de) darf natürlich auch der 1965 geborene Gasinstallateur Lőrinc Mészáros fehlen. Er ist mit Orbán seit der Grundschule bekannt und gilt vielen als des Premiers Strohmann, der von nichts aufstieg zum Dollarmilliardär, dies in enger Zusammenarbeit mit dem Bauunternehmer László Szíjj. Paul Lendvai stützt sich bei seinen Ausführungen zum Vermögen von Lőrinc Mészáros und der Familie des Premierministers auf Recherchen der Internet-Portale 24.hu, 444.hu, direkt36.hu sowie der unabhängigen Wochenmagazine Magyar Narancs, HVG und 168 Óra.

Orbáns Wirtschaftsbilanz ist schlecht. Lendvai verweist auf den Nationalökonomen István Csillag, der festgehalten hat, dass nur die jährlichen Transfers aus dem Kohäsionsfonds der Europäischen Union in der Höhe von 2,5 bis 5 Milliarden Euro den Schein aufrecht erhalten, dass die Wirtschaft wächst. Ohne die Europäische Union, ohne die Überweisungen, die 2,5 bis 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, wäre ein Zusammenbruch der ungarischen Wirtschaft nicht vermeidbar gewesen. Seit dem Eintritt in die EU bis Ende 2014, also in zehn Jahren, betrug das jährliche Wachstum bloss 0,9 Prozent. Die Corona-Pandemie hat Ungarn erst im zweiten Quartal des Jahres 2020 voll getroffen. Der Rückgang des BIP betrug 13,5 Prozent. Damit gehört Ungarn zu den fünf von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen EU-Ländern. Unabhängige Experten bezweifeln zudem die Richtigkeit der Statistiken, die von den von Fidesz-Parteigängern kontrollierten Institutionen verbreitet werden. Da gilt auch bezüglich der Arbeitslosigkeit.

Orbáns Attacken auf Merkel, seine Feindbilder wie die Flüchtlinge oder George Soros sind weitere Themen von Orbáns Ungarn. Dies sind nur einige wenige Angaben aus einem lesenswerten Buch zum zynischen Machtpolitiker Viktor Orbán und seinem Ungarn, das so nicht in die EU passt.

Lendvai schreibt, die meisten unabhängigen ungarischen Beobachter scheinen die Meinung des Historikers Krisztián Ungváry zu teilen, dass »das Regime durch eine Wahl nicht besiegt werden kann und sicherlich nicht bei einer von Fidesz organisierten«.

Landvai bezeichnet Ungarn als „Führerdemokratie“, als Laboratorium des Autoritarismus. Kein anderer Staats- oder Regierungschef habe in den letzten zehn Jahren so intensiv und so konsequent so freundliche Beziehungen zu autoritären Populisten und Diktatoren gepflegt wie er.

Der ungarische Premier entwickelt sich zudem immer mehr zu einem trojanischen Pferd von Putin innerhalb der Europäischen Union. Würde Paul Lendvai heute sein Buch aufdatieren, würde er diesem Thema sicher ein eigenes Kapitel widmen.

Paul Lendvai: Orbáns Ungarn. Verlag Kremayr & Scheriau, revidierte und erweiterte Auflage vom 25. Januar 2021, 240 Seiten. Das Taschenbuch bestellen bei Amazon.de.

Der durch siebzehn in zehn Sprachen übersetzte Bücher bekannte Publizist und Moderator Paul Lendvai arbeitete u.a. einst als Korrespondent für die Financial Times und ist heute Kolumnist der österreichischen Tageszeitung Der Standard. Er ist ehemaliger Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF (1982-87), ehemaliger Chefredakteur der Osteuropa-Redaktion des ORF, ehemaliger Intendant von Radio Österreich international sowie heutiger Leiter der ORF-Diskussionssendung Europastudio.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension von Paul Lendvai: Orbáns Ungarn hinzugefügt am 15. August 2022 um 16:32 deutscher Zeit.