Der aussenpolitische Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit, Michael Thumann, hat mit Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat (Amazon.de) eine Abrechnung mit dem Kreml-Diktator und seinen Cheerleadern verfasst.
Laut Michael Thumann geht es Putin nicht nur um die Ukraine, sondern er will die liberale Demokratie beerdigen. Der Kreml-Herrscher greift den Lebensstil Europas an, seine Sicherheit und seine wirtschaftlichen Lebensgrundlagen.
Drei Grundgedanken leiten die Analysen und Reportagen von Michael Thurmann. Erstens: Wladimir Putin nimmt Rache. Der russische Herrscher sieht den Zerfall der Sowjetunion und den geschrumpften russischen Nationalstaat nicht als Befreiung, sondern als Katastrophe an. Putin führt eine Revolte gegen Öffnung und Vielstimmigkeit. Er kämpft gegen die Machtteilung mit den Republiken und die Abrüstungsverträge mit dem Westen. Er kehrt zurück zu einer imperialen Obsession, die laut Michael Thumann der letzte sowjetische Präsident Michail Gorbatschow beendet hatte.
Zweitens reagiert Russland nicht auf den Westen, sondern entwickelt sich aus sich selbst heraus. Die westlichen Fehler von Irak bis Afghanistan hätten kaum Einfluss auf Russlands politische Entwicklung. Es sei eine irrige Meinung, dass Russland als Weltmacht in seiner inneren Entwicklung vom Westen abhängig sei oder seine Politik als Reaktion auf den Westen gestalten würde. Es gebe viele Versuche, gerade von amerikanischen Historikern, russische Handlungen aus der westlichen Geschichte zu erklären. Der Nachlass der zaristischen und der sowjetischen Epoche sei in seiner Monstrosität nie „bewältigt“ worden. Er habe die russische Gesellschaft und insbesondere ihre herrschende Elite geprägt. Die Gräuel, Verbrechen, Zerstörungen, Plünderungen, die chaotische Kriegführung und Disziplinlosigkeit im Ukrainekrieg seien nicht die Wiederkehr des Dritten Reichs, sondern die Fortsetzung einer kolonialen, imperialen und sowjetischen Tradition.
Der dritte Grundgedanke von Michael Thumanns Buch Revanche (Amazon.de) betrifft Putins Aufstieg, den er als eine Spielart des radikalen neuen Nationalismus deutet, wie man ihn in der Türkei, in Ungarn, in Polen, in Italien und in China sehe, der in Frankreich und Brasilien die stärkste Oppositionskraft stelle, und in den USA mit Trump an der Macht war und 2024 zurückkehren könnte. Putin beweise, dass der neue Nationalismus zum Krieg führe, die staatliche Stabilisierung auf Biegen und Brechen münde in die Diktatur. Es gebe keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus. Die autoritäre Gewalt im Innern kehre sich irgendwann in Gewalt nach aussen, wenn die Nationalisten nicht beizeiten aus der Regierung gedrängt würden.
Ich würde hier das Stichworte „permanente Revolution“ einfügen, denn ein Regime wie jenes von Putin braucht einen (äusseren) Feind, es braucht immer wieder einen neuen Anlass und/oder Gegner, um die eigenen Anhänger, das russische Volk zu mobilisieren.
Michael Thumann ist der Meinung, dass sich das eigentliche grösste europäische Land, Russland, unter Wladimir Putin aus Europa verabschiedet.
Zu Gehard Schröder schreibt er, dieser Atheist habe sich in der Erlöserkathedrale in Moskau bekehren lassen. Er sei nicht nur Putin als Person, sondern einer idealisierten Vorstellung von Russland, verfallen. Gerhard Schröder adoptierte zwei russische Kinder. Zwanzig Jahre später, nach dem zweiten Überfall Russlands auf die Ukraine, brach der Altkanzler nicht mit Putin, sondern mit der SPD. Gerhard Schröder sei ein besonders krasses Beispiel deutscher Putinophilie. Doch nur ein Beispiel von vielen.
Bei seinen Besuchen in Hamburg hätten ihn, Michael Thumann, leitende Redakteure der Zeit ermuntert, doch – wenn möglich – auch mal auf das Positive in Russland zu schauen. Der Herausgeber und Altkanzler Helmut Schmidt habe nichts gesagt und ihn immer schreiben lassen, was er wollte. Aber in der ZEIT-Politik-Konferenz habe er befunden: «Putin hat ein realistisches Bild von der Welt.» Man müsse mit ihm zusammenarbeiten, er sei eine Chance für Deutschland.
Der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau, Peter W. Schulze, habe in hitzigen Diskussionen versucht, ihn, Michael Thumann davon zu überzeugen, dass Putin einen «autoritären Weg zur Demokratie» verfolge.
Dem neuen russischen Präsidenten Putin sei in den deutschen Eliten enorm viel Verständnis entgegengebracht worden. Hinzu gekommen sei die Bereitwilligkeit, seine dunklen Seiten auszublenden oder hartnäckig zu entschuldigen. Die Fehler seien bei den Amerikanern, beim Westen, bei der Nato gesucht worden. Oft seien dabei weder besondere Nähe zu Russland noch Kenntnisse ausschlaggebend gewesen, sondern drei wesentliche Beweggründe.
Erstens fundamentale Amerika-Kritik, das Unbehagen an der US-Dominanz, wobei Russland manchen deutschen Politikern und ihren Wählern als geopolitische Abschreckungsmacht, als Gegengewicht zu «US-Imperialismus» und «Wall-Street-Kapitalismus», zu Nato- Osterweiterung und Liberalismus erschienen sei.
Zweitens fühlten sich manche Deutsche zu Russland hingezogen, weil sie den Russen ein Gefühl der Tiefe und der Wahrhaftigkeit zuschrieben, eine Echtheit, die im oberflächlichen Westen verloren gegangen sei.
Drittens hätten deutsche Industrielle in Russland schon im 20. Jahrhundert einen Markt, aber auch eine Rohstoffbasis gesehen, die als Alternative zu amerikanischen und britischen Ölvorräten galt. Das habe sich in der Verflechtung bundesdeutscher Energiekonzerne mit russischen Staatsmonopolisten ab den 1970er Jahren fortgesetzt. Manche häten damit gar eine krude Vorstellung von geopolitischer Machtmultiplikation verbunden: Moskau und Berlin könnten mit russischen Rohstoffen und deutscher Technik die Welt neu ordnen.
In seinem Buch sieht Michael Thumann die Ursachen für die deutsche Fehleinschätzung Russlands weit zurückliegend. 1922 liess Reichskanzler Joseph Wirth den Vertrag von Rapallo unterzeichnen. Dem Rapallo-Vertrag und den Nord-Stream-Projekten liege ein gemeinsamer falscher Ansatz zugrunde: dass Russland und Deutschland höhere Interessen verbinde, die wichtiger seien als gute oder ungetrübte Beziehungen zu den Staaten Ostmitteleuropas und des Westens. Ihre Wurzeln liegen laut Michael Thumann in der preussisch-russischen Allianz, die zur Aufteilung Polens im 18. Jahrhundert führte und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Folgen der Revolutionen seit 1789 einzudämmen suchte.
1922 ging es vor allem um militärische Kooperation, Öllieferungen und Träume von einem Wirtschaftsbündnis jenseits des Westens. Rapallo ist für Michael Thumann das Sinnbild für Deutschlands Schaukelpolitik, gepriesen von der sowjetischen Propaganda, verurteilt in England, dämonisiert in Frankreich – und abgezeichnet von einem prowestlichen, liberalen deutschen Aussenminister (Rathenau). Mehr dazu im Buch.
Michael Thumann traf Wladimir Putin erstmals Ende 1999 zu einem Interview. Der Russe wirkte auf den Journalisten unbeholfen und kantig in seinen Bewegungen, sprach ein sehr umständliches Russisch mit vielen bürokratischen Formeln. Er habe damals so getan, als wolle er gute Beziehungen mit dem Westen aufbauen, von Demokratie und Zusammenarbeit, von gemeinsamer Bekämpfung des Terrorismus und wirtschaftlicher Kooperation gesprochen. Schon damals habe er, Michael Thumann, Putin nicht wirklich geglaubt. Er hielt ihn vielmehr für einen autoritär veranlagten Geheimdienstmann, der seine Amtszeit damit einläutete, Tschetschenien mit einem brutalen Krieg zu überziehen. Nebenbei bemerkt hier frühe Putin-Biografien, von mir im Jahr 2000 besprochen.
Michael Thumann verweist auf krasse Fehleinschätzungen, so von US-Präsidenten George W. Bush, der 2001 sagte: «Ich schaute dem Mann in die Augen und in seine Seele. Ich fand ihn aufrichtig und vertrauenswürdig.» Er erwähnt zudem den Persilschein von Gerhard Schröder, der Wladimir Putin 2004 einen «lupenreinen Demokraten» nannte. Hier nebenbei erwähnt mein Interview mit der damaligen lettischen Präsident Vaira Vike-Freiberga, die ich damals darauf und auf die Pipeline ansprach.
Michael Thumann erwähnt ihn Revanche zwei Irrtümer, die Putin besonders geholfen hätten: die Annahme, er sei eigentlich ein guter Mann, nur leicht zu beleidigen. Und die Befürchtung, dass alles viel schlimmer werde in Russland, wenn er einmal ginge. Michael Thumann fragt da rhetorisch: Noch schlimmer? In seinem letzten Kapitel geht er dann nochmals darauf ein. Dort schreibt er unter anderem, Wladimir Putin habe das Erbe der Putschisten gegen Michail Gorbatschow von 1991 fortgeführt und die demokratischen Institutionen der 1990er Jahre zerstört. Die tschetschenische Diktatur habe er als Blaupause für ganz Russland verwendet, sich mit Nationalisten und Diktatoren in der ganzen Welt verbündet. Die russische Bevölkerung setze er einer täglichen Gehirnwäsche durch die Propaganda aus, die die russische Bevölkerung gegen sich selbst und die ganze Welt aufhetze. Er habe das sowjetische System der Strafverfolgung und der Lager wiederbelebt, sein Land in eine Diktatur mit totalitären Zügen und Führerkult verwandelt. Er missbrauche die russische Vergangenheit, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Er lasse einen Vernichtungsfeldzug gegen das Nachbarland führen. Er schotte sein Land gegen die Welt und die Wirklichkeit ab und zerrütte die Zukunft aller Russen. Seine Herrschaft radikalisiere sich weiter. Es sei das bedrohlichste Regime der Welt.
Putin sei flexibel. Nationalist sei er erst mit 60 Jahren geworden. Er predige Hass auf den Westen und die EU, aber klebe kurioserweise an Europa und zögere, sein Land klar einer asiatischen Zukunft zu verschreiben. Was diese (und andere erwähnte) Widersprüche verbinde, sei eine aus tiefer Gekränktheit gewachsene Aggression. Michael Thumann notiert am Ende seines Buches, Wladimir Putin habe sein Lebenswerk «Stabilisierung Russlands» vernichtet.
In Revanche finden sich Kapitel zu den demokratischen Hoffnungen der 1990er Jahre, zum tschetschenischen Modell des Schurkenstaates, zu den neuen Nationalisten, den guten Freunden Putins in der Welt, zum System der Straflager, zur „Spezialoperation“ gegen die Ukraine und vieles mehr. Dies sind nur einige wenige Angaben aus einem ans Herz zu legenden Buch, das zudem über eine nach Themen geordnete Bibliographie verfügt, die zum Weiterlesen anregt.
Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. C. H. Beck, 289 Seiten. Das lesenswerte Buch bestellen bei Amazon.de.
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Rezension / Buchkritik von Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat hinzugefügt am 26. März 2023 um 22:28 deutscher Zeit.