Senat spricht Draghi das Vertrauen aus, doch es ist eigentlich Misstrauen

Jul 20, 2022 at 22:56 851

Anfang 2021 war sich die überwältigende Mehrheit der italienischen Parteien und Politiker einig: Draghi soll es richten. Doch heute, am 20. Juli 2022 hat der Senat zwar formell dem ehemaligen EZB-Präsidenten und heutigen Premierminister das Vertrauen ausgesprochen, doch de facto war es ein Misstrauensvotum.

Der italienische Senat hat 321 Mitglieder. Davon waren heute 192 präsent. Doch die Mitglieder von drei Regierungsparteien – Lega, Forza Italia und Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) – hatten im Vorfeld angekündigt, nicht an der Vertrauensabstimmung teilnehmen zu wollen. So kam es, dass schliesslich nur 133 Senatoren abstimmten. Premierminister Mario Draghi sprachen 95 Senatoren das Vertrauen aus, 38 misstrauten ihm, Enthaltungen gab es keine. Formell also hat der Premier die Mehrheit hinter sich, de facto jedoch sieht es nach einer Ohrfeige aus.

Kommt es nun zu Neuwahlen? Diese wären eigentlich erst in der ersten Hälfte von 2023 überfällig. Italien kann sich keine politische Instabilität leisten. Doch es sieht danach aus. Die Märkte sind nervös. Die italienische Börse hat bereits nachgegeben, und der Spread zwischen den Zinsen für deutsche und italienische Staatsanleihen ist ebenfalls grösser geworden.

Die Geschichte von Italiens Staatsschulden sind ein einziges Trauerspiel. Mario Draghi hatte als EZB-Präsident mit seinem Spruch im Juli 2012, die europäische Zentralbank werde tun, was immer nötig sei, und glauben sie mir, es wird genug sein, um den Euro zu stabilisieren („whatever it takes“), die Eurozone während der Finanzkrise stabilisiert. Doch er führte die Politik des leichten Geldes viel zu lange weiter, ohne dass einige Staaten, darunter insbesondere das hochverschuldete Italien, die Staatsschulden abgebaut hätten. Viele rote Linien wurden überschritten. Bis heute, zuletzt wegen Staatshilfen zur Linderung der Folgen des Lockdowns und anderer Massnahmen während der Pandemie.

Nun kämpft die Eurozone – allerdings nicht nur sie – mit hoher Inflation. In den drei baltischen Staaten liegt sie um 20%. In Italien im Juni 2022 auf Jahresbasis immerhin bei 8,5%. Die Staatsschulden sind während der Pandemie weiter ausser Kontrolle geraten und liegen nun bei rund 150% des BIP.

Doch die italienischen Politiker kümmert das wenig. Die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) hat sich gespalten in Draghi wohlgesinnte wie Aussenminister Luigi di Maio, der inzwischen moderater geworden ist und bei vorgezogenen Neuwahlen das Scheitern wichtiger Reformen befürchtet, und populistischen Hardlinern um den ehemaligen Premier Giuseppe Conte, der sich mit dem aktuellen Ministerpräsidenten Mario Draghi überhaupt nicht versteht. Neuwahlen machen für das M5S überhaupt keinen Sinn, denn beide Teile der nun gespaltenen Partei riskieren grosse Verlustse.

Nicht alles sieht im Moment in Italien düster aus. Der Tourismus-Branche geht es zur Zeit wieder gut, die Baubranche kann ebenfalls nicht klagen, und die EU-Kommission hat zuletzt gar die 2022-Wachstumsprognose für Italien von 2,4% auf 2,9% angehoben. Doch gleichzeitig machen nun die Hitzewelle und die schon länger andauernde Wasserknappheit der Landwirtschaft zu schaffen. Die Lebensmittelpreise dürften weiter steigen.

Zurück zur Politik: Bereits vor einer Woche, am 14. Juli, hatten nur 172 von 321 Senatoren dem Premierminister Mario Draghi und seiner Regierung das Vertrauen ausgesprochen. Das M5S hatte gar den Senat verlassen und so de facto dem Kabinett das Vertrauen entzogen. Schon damals wollte Draghi hinschmeissen, doch der greise Staatspräsident Mattarella lehnte seinen Rücktritt ab. Heute nun hat der Senat mit nur noch 95 Stimmen Draghi und seiner Regierung de facto das Vertrauen endgültig entzogen. Es sieht düster aus. Aus der Opera buffa könnte eine Tragedia werden.

Bei Neuwahlen würden nach jetzigen Umfragen die rechten Parteien profitieren: Forza Italia von Ex-Premier Silvio Berlusconi, die Lega von Rechtspopulist Matteo Salvini und vor allem die post-faschistischen Fratelli d’Italia; die „Brüder Italiens“ werden übrigens von einer „Schwester“ geführt: Giorgia Meloni. Diese gibt sich wie Marine Le Pen in Frankreich gemässigt, freundlich, lässt die hässliche rechtsextreme Seite nicht heraushängen, weshalb die Fratelli d’Italien als einzige bedeutende Oppositionspartei mit gut 22% in Umfragen knapp vor den Sozialdemoraten des Partito Democratico liegt. Die Lega kommt auf rund 15%, das M5S nur noch auf 11%, Forza Italia auf rund 8%. Neben bemerkt: Laut einer kürzlichen Umfrage sind 51% der Italiener gegen vorgezogene Neuwahlen.

Italien braucht eine seriöse Regierung, um Targets und Milestones der EU zu erfüllen, um bis Ende 2022 weitere 19 Milliarden Euro aus EU-Fonds abrufen zu können. Keine Amateure am Werk verträgt es zudem bei der Energiewende. So soll Erdgas nun vermehrt aus Algerien statt aus Russland kommen. Neue Gasanlagen sollen in Piombino und Ravenna entstehen. Die erneuerbaren Energien sollen ausgebaut werden.

Eine Ablösung von Draghi könnte nicht nur Reformen verhindern, sondern zudem zu einer Neuausrichtung der Aussenpolitik führen. Einige Parteien sind notorisch pro-russisch, während dem Mario Draghi klar an der Seite der westlichen Allianz stand.

Italien könnte wieder in die Nähe einer Schuldenkrise geraten. Doch das Land ist too big to fail, too big to be saved. Bei den Pensionen, beim Arbeitsmarkt und unter Draghi insbesondere in der Verwaltung und der Justiz wurden einige Reformen angegangen. Doch nach wie vor fehlt es an einer Steuerreform, das politische System müsste geändert werden. Italien blieb früher dank kompetitiven Abwertungen wettbewerbsfähig. Darunter litt die Produktivität. Seit den 1990er Jahren sind da keine Fortschritte mehr erzielt werden. Seit in etwa der ersten Zeit Berlusconis an der Regierung stagniert zudem das Einkommen pro Kopf.

Die schlechte Infrastruktur, die ineffiziente Verwaltung, Korruption, die organisierte Kriminalität, fehlende Auslandsinvestitionen sind nur einige weitere Probleme. Weshalb die italienischen Politiker zur Zeit wieder einmal glauben, sie könnten sich vorgezogene Neuwahlen leisten, statt die Probleme ernsthaft anzugehen, erschliesst sich dem Beobachter nicht.

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Das Foto zeigt Mario Draghi. Photo Copyright: Presidenza della Repubblica. Foto via Wikipedia.

Artikel vom 20 Juli 2021. Hinzugefügt um 22:56 italienischer Zeit.