Stefan Weiss versucht in seiner Musikgeschichte Moderne und Postmoderne (Bärenreiter Studienbücher Musik, 2023, 238 Seiten; bestellen bzw. runterladen bei Amazon.de; wir erhalten eine Kommission), die Musik seit 1900 in ihre vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Kontexte einzuordnen, wobei er auf Klassik, Jazz, Rock, etc. eingeht. Dafür sucht er nach Eigentümlichkeiten und fokussiert sich auf eine Auswahl exemplarischer Kompositionen, um die musikalische Epoche auf möglichst vielen Ebenen bis hin zur einzelnen Werkbeschreibung anschaulich werden zu lassen. Mehr als die Hälfte des Bandes widmet Stefan Weiss der Stilgeschichte.
Das unübersichtliche Musikjahrhundert seit 1900 unterteilt der Autor in Anbruch der Moderne bis 1945: Impressionismus (mit Claude Debussy als Beispiel), Expressionismus (Arnold Schönberg, Anton Webern), ethnographisch informierte Musik (Igor Strawinsky), Ragtime und Blues (W.C. Handy), den frühen Jazz (Nick LaRocca), Zwölftontechnik (Alban Berg, Anton Webern); Zenit der Moderne von 1945 bis 1975 mit: serielle und experimentelle Musik (Luigi Nonno), Modern Jazz (Miles Davis), Rockmusik (Chuck Berry, The Beatles), Minimalismus (Steve Reich); Stile nach der Postmoderne seit 1975: Fülle und Reduktion (Wolfgang Rihm), Retromanien (Radiohead), Musik im digitalen Zeitalter (Bernhard Lang).
Stefan Weiss versucht, auf 238 Seiten einen Überblick über die Entwicklung der europäischen und nordamerikanischen Musik seit 1900 zu bieten – aussereuropäische Künstler und Musikstile wie durch Ravi Shankar repräsentiert, aber auch Flamenco mit Terremoto de Jerez oder Tango bzw. Nuevo Tango mit Repräsentanten wie Astor Piazzola und Mario Stefano Pietrodarchi kommen nicht vor. Einen Namen wie David Guetta und Stichworte wie Electro-House, Future Bass oder Trap und Trance sucht man hier ebenso vergeblich wie die Namen von Art Blakey oder Carlos Santana, um nur einige zu nennen. Immerhin werden Techno und Ambient erwähnt.
Alleine die Geschichte des Jazz auf 1000 Seiten abzuhandeln, wäre schwierig. Die Musikgeschichte Moderne und Postmoderne hat daher Limiten. Sie beschränkt sich wie oben erwähnt auf einige wichtige Entwicklungen in Europa und den USA, die exemplarisch anhand einiger konkreter Beispiele dargestellt werden. Nebenbei erwähnt ist es ebenso unmöglich, ein Buch mit „nur“ 238 Seiten in einem Artikel zusammenzufassen.
Stefan Weiss geht im Unterkapitel „Wertvorstellungen“ unter den Stichworten „Popularität und Hermetik, gesellschaftliche Verantwortung und Isolation“ auf die Oper Lady Macbeth von Mzensk des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch ein, die 1930-32 entstand und 1934 in Leningrad uraufgeführt wurde. Der Autor erläutert die bekannteste Kampagne des sowjetischen Repressionsapparats im Musikbereich, den redaktionellen Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“ vom 28. Januar 1936, in dem Schostakowitsch bezüglich Lady Macbeth von Mzensk der Vorwurf des „Formalismus“ erhoben wurde, und dies zu Beginn der Jahre des Grossen Terrors unter Stalin. Für den Komponisten bedeutete dies ein Reputationsverlust und das Ende seiner Karriere als Opernkomponist. Für unzählige andere Sowjetbürger jener Zeit kam es schlimmer: Lagerhaft oder gar Ermordung.
Die Pravda (Russisch für „Wahrheit“) war Schostakowitsch vor, dass diese Oper „den pervertierten Geschmack des bourgeoisen Publikumsdurch ihre zuckende, kreischende, neurasthenische Musik kitzelt“, denn Lady Macbeth von Mzensk wurde erfolgreich im Westen aufgeführt, was sie automatisch verdächtig machte. In der sowjetischen Heimat lasse sie das Publikum kalt. Doch der Vorwurf war erfunden. In der Sowjetunionin war sie in den ersten zwei Jahren ihres Bühnendaseins ein Erfolg gewesen, beim Publikum nicht weniger als bei der Kritik. Wem sie aber ausgesprochen missfiel war Josef Stalin selbst, der zwei Tage vor dem Erscheinen des Leitartikels eine Vorstellung in Moskau besucht und wenig amüsiert bereits vor ihrem Ende wieder verlassen hatte. Der Artikel „Chaos statt Musik“ dokumentiert nicht nur laut Stefan Weiss weniger die öffentliche Meinung der Sowjetunion als vielmehr das ideologisch motivierte Geschmacksurteil von Stalin selbst.
Stalins missfiel zum einen die Handlung, insbesondere die Charakterisierung der Titelfigur Katerina Ismailowa, die Frau eines reichen Gutsbesitzers im zaristischen Russland der 1860er-Jahre, die zur Mörderin wird, um der erdrückenden Atmosphäre ihrer Ehe entgehen und sexuelle Erfüllung an der Seite ihres Geliebten finden und fortsetzen zu können.
Zum anderen war es die Tonsprache dieser Oper, die die Prawda mit ablehnenden, dabei zutiefst laienhaften Worten der Lächerlichkeit preiszugeben versuchte. Statt „Musik“ hatte Stalin nur „Chaos“ gehört. Der Artikel deklinierte es durch mit Worten wie „Gepolter, Geknirsche, Gekreisch“, „Geschrei“, „Lärm“, etc.
Die von Stalin abgelehnten Aspekte, die Lenkung der Publikumssympathie auf einen „unmoralischen“ Charakter sowie die „unreine“ Musik, hängen zusammen und erschliessen – sicher entgegen den Intentionen des anonymen Prawda-Autors – einiges von dem Wesen der Lady Macbeth von Mzensk als eines Schlüsselwerks der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts.
Die Musik dieser Oper von Schostakowitsch enthält keine futuristischen Geräuschanteile, und der Begriff des Jazz muss schon sehr weit gefasst sein, um ihn – wie in der Prawda geschehen – sinnvoll auf diese Oper beziehen zu können, erläutert Stefan Weiss. Als „Chaos“ könne sie jedoch dem erscheinen, der in ihr nach Mass und stilistischer Geschlossenheit suche. Lady Macbeth von Mzensk sei angefüllt mit Inkommensurablem und Inkongruentem; charakteristisch für sie sei das manchmal unvermittelte Nebeneinander von Tragik und Burleske, von im Sinne der Operntradition „schönen“, an Puccinis Ausdruckswelt gemahnende Stellen und erschreckende Klangbildern.
Die der Heldin Katerina Ismailowa (übrigens z.B. von Kristine Opolais hervorragend interpretiert) zugeordnete Musik sei durchtränkt von grosser Opernlyrik; emotionale und tragische Grösse hätten etwa ihr Auftrittsmonolog gleich am Beginn der Oper oder die grosse Arie im dritten Bild, die ihre Einsamkeit und unerfülltes Verlangen ausdrückten. Ihr gegenüber stehe die Welt der Gutsbesitzerfamilie mit dem beherrschenden Tyrannen, dem Schwiegervater Boris. Seine schwerfällig-stumpfe Auftrittsmusik unterstreiche sowohl den beschränkten Blickwinkel seiner Welt (in die die Erinnerung an ein Pilzgerichtwie eine plötzlich belebende Verheissung grotesk hereinbreche) als auch seine Gewaltbereitschaft. Letztere realisiere sich am deutlichsten in einer über 150 Takte dauernden Passage des 2. Aktes, in der er Katerinas GeliebtenS ergei züchtige.
Wie Peitschenschläge instrumentiert seien die abgerissenen Akkorde von Trompeten, Posaunen und Tuba, fast 300 mit unbarmherziger Gleichmässigkeit aufeinanderfolgende Cluster-Hiebe. Tragische Ironie liege darin, dass Boris und Sergei letztlich Männer vom gleichen Schlage seien, sodass echte Hoffnung für Katerina sich nirgends einstelle.
Dort, wo er mit ihr erstmals allein sei, gebe sich Sergei musikalisch mit einer Folge beschwingter, aber banaler Melodien als prinzipienloser Herzensbrecher zu erkennen – der Kontrast zum hohen Opernstil der Katerina-Partie könne nicht grösser sein, so Stefan Weiss.
In dieser strategischen Abkehr von stilistischer Geschlossenheit zeige sich die Beeinflussung Schostakowitschs durch Gustav Mahler, der zwar nie eine Oper geschrieben, aber das Komponieren einer Sinfonie mit dem Aufbau einer ganzen Welt mit all ihren Antagonismen verglichen hatte.
Dieses Prinzip wird Schostakowitsch nach 1936, als ihm das Opernschreiben nicht mehr möglich schien, in der seinem Vorbild ureigensten Gattung weiterdenken, der Sinfonie.
Breite Beachtung, nicht nur in der Prawda, hat in der Rezeption der Oper insbesondere die Sexszene im 3. Bild erfahren; ein US-amerikanischer Kritikerfand dafür die Bezeichnung „Pornophonie“. Als weiteres Beispiel der für LadyMacbeth typischen Widersprüche enthält diese Szene musikalisch sowohl Elemente ekstatischer Steigerung als auch solche von motorischer, physischer Gewalt. Die Ausdrucksmittel wie die erhaltenen Bühnenanweisungen lassen laut Stefan Weiss hier eigentlich nur den Schluss zu, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt; mit dieser Interpretation inkongruent seien aber sowohl die ebenfalls in der Szene enthaltene Komik (Posaunen-Glissandi als Zeichen der Erschlaffung »danach«) als auch die Suggestion aufrichtiger Liebe, die Katerina ihrem Vergewaltiger in späteren Szenen entgegenbringe.
Stefan Weiss weist darauf hin, dass Schostakowitsch, als er seine Oper in den 1950er-Jahren für eine Wiederaufführung bearbeitete, unter anderem diese Szene strich. Dieser grösste Eingriff, den er sich bei der Neufassung leistete, kam der dramaturgischen Folgerichtigkeit des Werks zustatten; im westlichen Operndiskurs jedoch erschien der Schnitt als ein Einknicken vor der Staats- und Parteigewalt, weshalb sich in dieser Hemisphäre – und in postsowjetischer Zeit nahezu überall – die erste Fassung wieder durchsetzte. Dass sie es war, die Stalin verabscheute und unterdrückte, verlieh ihr das Moment des Widerständigen, was für den Bühnenerfolg der Oper gerade im Westen wichtiger wurde als Stilreinheit und Handlungsstringenz. Der Oper Lady Macbeth ist das Wissen um ihre Zensur als Subtext eingeschrieben, und in der langfristigen Rezeption begründete der Prawda-Artikel, so paradox es scheinen möge, ihre Popularität.
Dies ist nur ein Beispiel aus dem Buch von Stefan Weiss, für den die Kreativität musizierender Menschen im 20. und 21. Jahrhundert ebenso staunenswert ist wie ihr Bemühen darum, durch Musik die Welt zu erkennen und mitzugestalten. Sein Buch sei in erster Linie dazu konzipiert, einen Überblick über die wesentlichen Etappen dieses Weges zu schaffen. Doch daran knüpfe sich die Hoffnung, dass es nur den Ausgangspunkt zu weiteren und ausgiebigen Erkundungen bilden möge.
Stefan Weiss: Musikgeschichte Moderne und Postmoderne. Bärenreiter Studienbücher Musik, 2023, 238 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de (wir erhalten eine Kommission).
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.
Rezension vom 9. November 2023 um 11:17 Berliner Zeit.