Unter Beobachtung. Österreich seit 1918

Sep 26, 2019 at 14:41 834

Rezension des Buches von Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918.

Der Historiker Manfried Rauchensteiner schreibt im Vorwort zu seinem Buch Unter Beobachtung. Österreich seit 1918 (Amazon.de), dass in dem Jahr, als Otto Dix An die Schönheit gemalt hat (ein Ausschnitt des Bildes ziert den Buchumschlag), 1922, Österreich gerade unregierbar zu werden drohte. Das Land taumelte zwischen Selbstaufgabe und Zukunftsvisionen hin und her und wurde mit Hilfe des Völkerbunds gerettet. Es war nicht mehr das, als das es der tschechische Historiker František Palacký 1848 bezeichnet hatte, etwas Unverzichtbares, eine europäische Notwendigkeit, sondern ein schwer zu definierender Rest. Österreich war von einer Unentbehrlichkeit zur Verlegenheit geworden. Vom ersten Tag an aber stand die Republik unter Beobachtung, so der Autor.

Das Anschlussverbot (an Deutschland) war zunächst nur von Frankreich wirklich gewünscht worden, um einen möglichen Gebietszuwachs Deutschlands zu verhindern. Die USA, Großbritannien und Italien waren eher für den Anschluss gewesen, zumindest war er ihnen minder wichtig. Doch im März 1919, als in Versailles die Grenzen Deutschlands festgelegt wurden, wurde auch eine Grenze im Südosten gezogen, die verhindern sollte, dass sich Deutschland vergrößerte. Mit dieser Festlegung entsprach Frankreich durchaus dem, was eine ganze Reihe von Staaten erwartet und regelrecht gefordert hatte. Die Tschechoslowakei war gegen den Anschluss. Jugoslawien war dagegen, ja sogar die Schweiz protestierte gegen die »Hypothese der Vereinigung«.

Otto Bauer, der Begründer des Austromarxismus, stellvertretender Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1918-1934) und Aussenminister der Republik Deutschösterreich (1918-19), nahm das Anschlussverbot zum Anlass zu demissionieren, denn, so meinte er : »Kommt der Anschluss nicht zustande, wird Österreich ein armseliger Bauernstaat, in dem Politik zu machen nicht mehr lohnt.« Er wies jede Verantwortung für den Friedensvertrag von sich.

Manfried Rauchensteiner beschäftigt sich mit der Auflösung des Vielvölkerstaates, Umsturzversuchen, der Völkerbundsanleihe, dem Paramilitarismus, dem Ende der parlamentarischen Demokratie, dem Kanzlermord, dem Ständestand ohne Stände, Volksbefragung und Einmarsch, der NS-Revolution, dem Vernichtungskrieg, der Moskauer Deklaration, der Schlacht um Wien, Renner, dem Neuanfang, der Zeit zwischen den Blöcken, Kreisky, Waldheim, den Sanktionen gegen Österreich wegen der Regierungsbeteiligung von Haiders FPÖ, der Völkerwanderung und vieles mehr.

Hier nur noch einige Bemerkungen zum Kapitel „Unter Beobachtung“. Rauchensteiner schreibt: Da der Siegeszug der Freiheitlichen ganz eindeutig mit der Person Haiders stand und fiel, bot es sich regelrecht an, eine Art neuen Führermythos zu beschwören. Tatsächlich war es nicht leicht, zwischen einer rechten Oppositionspartei, einer rechtspopulistischen Partei und einer rechten nationalistischen Partei zu unterscheiden, die sich auch durchaus in rassistischen Gemeinplätzen gefiel. Am einfachsten schien es, alles in einen Topf zu werfen. Nicht das starre Regierungssystem, die Junktimierungen, die schwindende Lösungskompetenz oder gar persönliche Animositäten wären schuld an der Niederlage der Koalitionsparteien gewesen, hiess es, sondern der aggressive Wahlkampf einer Partei, die sich in dem in Österreich seit den dreissiger Jahren unausrottbaren rechten Biotop ungehindert ausbreiten konnte. Rauchensteiner schreibt, Österreich sei plötzlich zum „Haider-Land“ geworden. Dabei hätte es den ausländischen Beobachtern klar sein müssen, dass sich der Erfolg der FPÖ auch ganz anders erklären liess. Der Autor betont, der Vorwurf, Österreich hätte sich nie mit seiner Geschichte auseinandergesetzt, ging vollends ins Leere. Mangelnde Bussfertigkeit hätte schon eher den Kern der Sache getroffen, so Rauchensteiner.

Der Autor betont, da die FPÖ im Rahmen der Sondierungsgespräche auch auf die SPÖ zuging, habe man den Eindruck gewinnen müssen, Jörg Haider wolle eine Regierungsbeteiligung fast um jeden Preis. Rauchensteiner beschreibt das Verhandeln und Taktieren. Der Bundespräsident sei regelrecht drohend geworden: Sollte sich die ÖVP (einer Grossen Koalition) verweigern, würde er die Bildung einer SPÖ-Minderheitsregierung billigen. Das Taktieren sei weiter gegangen. Die Alternative sei täglich klarer geworden, da die FPÖ weiterhin bereit gewesen sei, die Vorgaben des ÖVP-Chefs Schüssel voll und ganz zu akzeptieren. Haider wollte darauf verzichten, in die Regierung einzutreten und Landeshauptmann von Kärnten bleiben.

Da Bundespräsident Klsetil weder Schüssel noch Haider eine Aufforderung zu Verhandlungen über eine Regierungszusammenarbeit gab, ging die mühsame Suche nach der gemeinsamen Schnittmenge von ÖVP und SPÖ weiter. Zuerst schien die Frage eines NATO-Beitritt das zentrale Thema werden zu können. Doch dann kristallisierte sich die Budgetsituation als eigentlicher Knackpunkt heraus. Es sei ausgerechnet der SPÖ-Finanzminister Rudolf Edlinger gewesen, der bereits zu Beginn der Verhandlungen die Notwendigkeit drastischer Einsparungen angekündigt habe. Gleichzeitig habe er sich beträchtlicher finanzieller Forderungen seiner eigenen Partei gegenüber gesehen. Die Gewerkschaften wollten keine Anhebung des Pensionsalters akzeptieren. Da habe selbst der SPÖ-Kanzler Viktor Klima Zeichen der Resignation gezeigt. Beim NATO-Beitritt habe man einen Kompromiss gefunden, der die Sache abermals auf die lange Bank schob, und auch in Budgetfragen habe man knapp vor einer Einigung gestanden. Doch dann habe sich erneut der entschlossene Widerstand der SPÖ-Gewerkschafter gezeigt, die die „Erbpachten“, das Innen- oder gar das Sozialministerium, nicht dem „Klassenfeind“ von der ÖVP überlassen wollten. Explizit sei das Jahr 1934 angesprochen worden.

In beiden Koalitionspartein standen sich Befürworter und Gegner der Fortsetzung der Grossen Koaliton gegenüber. Für die ÖVP sei schliesslich entscheidend geworden, dass sich die Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter in der Person des Chefs der Metallarbeitergewerkschaft, Rudolf Nürnbeger, weigerte, den allerletzten Kompromiss zu unterzeichnen und eine Pensionsreform und eine andere Ministerienverteilung zu billigen, wie dies von der ÖVP ausdrücklich verlangt worden sei.

Bundespräsident Klestil weigerte sich jedoch, Wolfgang Schüssel von der ÖVP den Auftrag zur Regierungsbildung zu geben. Neuwahlen standen für Klestil jedoch ebenfalls nicht im Raum, da Umfragen eine klare Mehrheit für die FPÖ signalisierten. Der Bundespräsident dachte an eine Art erweiterte Minderheitsregierung der SPÖ, an der von der ÖVP und der FPÖ zu benennende unabhängige Experten teilhaben sollten. Es sei der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Karl Korinek gewesen, der Klestil davon abhielt, die Idee eines Beamtenkabinetts weiter zu verfolgen.

Laut Rauchensteiner wollte Klestil nicht wahrhaben, dass sein effektiver Handlungsspielraum in einem Amt mit lediglich repräsentativem Charakter sehr begrenzt ist. Haider wollte keine Minderheitsregierung unterstützen. Klima war zu Koalitionsgesprächen bereit, doch der Grossteil seiner SPÖ nicht. Dann bot Klestil dem EU-Landwirtschaftskommissar Franz Fischler die Kanzlerschaft an, der zusammen mit dem Ex-Vizekanzler und Finanzminister Hannes Androsch eine Regierung bilden sollte, über die Köpfe von Schüssel, Klima & Co. hinweg. Eine alles andere denn glückliche Idee, so Rauchensteiner. Klestil argumentierte mit der Gefährdung des internationalen Ansehens Österreichs im Fall einer Regierungsbeteiligung der FPÖ. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker hatte Wolfgang Schüssel schon im Oktober 1999 wissen lassen, dass dies zu negativen Reaktionen der EU führen könnte. Damals kämpften eine Reihe von Staaten gegen das Aufkommen rechter, nationalistischer und fremdenfeindlicher Parteien und fürchteten eine Signalwirkung von Schwarz-Blau in Österreich. Antiisraelische und antisemitische Beleidigungen aus FPÖ-Kreisen waren nicht vergessen. Im November 1999 wechselte der französische Präsident Chirac während eines OSZE-Treffens in Istanbul an den Tisch von Vizekanzler Schüssel und sprach eine regelrechte Warnung (vor einer FPÖ-Regierungsbeteiligung) aus. Bundespräsident Viktor Klima warnte bei einer Holocaust Konferenz im Januar 2000 in Stockholm mit Verweis auf eine mögliche FPÖ-Regierungsbeteiligung vor Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Der französische Ministerpräsident Lionel Jospin und der EU-Ratspräsident und Präsident der Sozialistischen Internationale, António Guterres, appellierten an das antifaschistische Gewissen der Österreicher.

Rauchensteiner kommt zum Schluss: Nachträglich wurde darüber gerätselt, ob die internationale Erregung von Österreich aus gesteuert oder gar initiiert worden wäre. Das war wohl auszuschliessen. Doch dass kaum etwas getan wurde, um diese Erregung zu dämpfen, ist unbestreitbar. Schliesslich drängte der östereichische Bundespräsident die Ratspräsidentschaft, den Text einer vom deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder abgefassten und in scharfem Ton gehaltenen Resolution, die auch dem französischen Ministerpräsidenten Jospin und EU-Ratspräsident Guterres zugeleitet worden war, schon vorweg zu veröffentlichten. Alle Ministerpräsidenten der EU-Länder unterschrieben, ob spontan oder erst nach einigem zögern sei letztlich irrelevant. Das Unheil nahm seinen Lauf, so Rauchensteiner. Die Weigerung von Klestil, jemand anderen als Klima mit der Regierungsbildung zu betrauen, habe dazu geführt, dass Schüssel und die FPÖ zusammenrückten. Schliesslich kam es zur Bildung einer Regierung von ÖVP und FPÖ, ohne Haider im Kabinett. Die FPÖ anerkannte implizit, dass die Frage der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus den Ländern, die nun den Status von EU-Beitrittskandidaten besassen, kein Hindernis auf dem Weg der EU-Osterweiterung sein würde. Der zukünftige Kanzler Schüssel verlangte zudem das Ja der FPÖ zu einer grosszügigen Entschädigung von NS-Opfern. Noch Ende die Regierungsbildung zum Abschluss gebracht war, veröffentlichte die EU die Sanktionen von 14 Mitgliedstaaten gegen den 15.

Dem 100-seitigen Koalitionsabkommen wurde ein Passus gegen Fremdenhass, Antisemitismus und Rassismus sowie zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte, mit dem Bekenntnis zu einer pluralistischen Demokratie und zur kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit hinzugefügt. Rauchensteiner betont, den Passus hätten Schüssel und Haider dem Bundespräsidenten Klestil regelrecht angeboten. Klestil habe danach den Endruck erweckt, die Präambel sei auf seinen Wunsch dem Koalitionspakt vorangestellt worden. Niemand habe dem widersprochen. Klestil verlangte, dass anstelle der ihm nicht genehmen Thomas Prinzenhorn und Hilmar Kabas Karl-Heinz Grasser Finanzminister und Herbert Scheibner Verteidigungsminister wurden.

Die Demonstranten auf dem Ballhausplatz schrien gewaltbereit: „Widerstand, Widerstand. Schüssel, Haider an die Wand!“

Später nannte Junker die EU-14 Massnahmen gegen Österreich «überspitzt», der Finne Ahtisaari legte einen Bericht zuhanden der EU zur Beendigung der Massnahmen vor. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. Noch gab es viele kritische Stimmen, so aus der französichen Regierung von Jospin und Moscovici. Noch stand Österreich unter Beobachtung.

Rezension des Buches von Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918., Böhlau Verlag, 2017, 634 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Zur neuesten Geschichte Österreichs siehe die Rezension des Buches Kurz & Kickl.

Artikel vom 26. September 2019 um 14:41 österreichischer Zeit. Zitate und Teilzitate sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.