Der Mediävist Valentin Groebner untersucht in seinem Buch Gefühlskino: Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung verschiedene Varianten der Nostalgie, um zu ergründen, woraus sie gemacht sind, was sie so unwiderstehlich macht.
Valentin Groebner: Gefühlskino: Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung. S. Fischer, 2024, 192 S. Das Buch bestellen (Cookies akzeptieren; wir erhalten eine Kommission – bei identischem Preis) bei Amazon.de.
Valentin Groebner schreibt in seiner Einführung in Gefühlskino: Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung, dass (der gegen den Schah-Besuch) demonstrierende Benno Ohnesorg 1967 von einem (West-Berliner) Polizisten erschossen wurde, ohne zu erwähnen, dass dieser Karl-Heinz Kurras gleichzeitig ein Stasi-Mitarbeiter war. Ein Detail? In der Kürze liegt die Würze. Doch Verkürzung tut nicht immer gut.
Im ersten Kapitel geht der Historiker der weit verbreiteten Empfindung nach, wir lebten heute in einer Spätzeit, in der erschöpften Endphase jener Moderne, die sich nur wenige Jahrzehnte zuvor noch so zuversichtlich angefühlt habe, davon seien jedenfalls viele Autorinnen und Autoren überzeugt. Verlust und Verlusterfahrungen seien das Kennzeichen moderner Gesellschaften schlechthin. Der zukunftsfrohe Optimismus von früher sei definitiv vorbei. Doch wie fühlte sich die hoffnungsvolle Modernisierung an, die Ende der 1970er Jahre an ihr Ende gekommen sein soll, fragt der Autor?
Zur Nostalgie schreibt Valentin Groebner im ersten Kapitel: »Nowadays you can’t be too sentimental«, sang Billy Joel 1978. Damit brachte er das Erfüllungsparadox von der Ver- gangenheit als versperrtem Paradies auf den Punkt: Sentimentalität vermisst im Wesentlichen sich selbst. In Zeiten wie diesen – also: heute – können wir selbstverständlich nicht mehr sentimental sein, ganz im Gegensatz zu den guten alten Zeiten von früher, als man sich noch zurücksehnen konnte.
Im zweiten Kapitel widmet sich Valentin Groebner der Angst und der Lust an ihr, die in den Jahren nach 1979 kollektive Empfindungen und politische Protestbewegungen dominiert habe. Er schreibt, dass Ende der 1970er viele überzeugt waren, dass eine globale Katastrophe als Atomkrieg, ökologischer Kollaps, tödliche Seuche oder alles zusammen unmittelbar bevorstehe.
Valentin Groebner geht es im zweiten Kapitel um die militanten und eher diffusen Milieus, die sich selbst als ›Autonome‹ bezeichneten. Der Historiker kennt sie gut, da er laut eigener Aussage ihnen damals selbst angehört hat. So demonstrierte er 1982 gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Damals war er mit Brandflaschen (Molotowcocktails) unterwegs. Zum Thema »Autonom« schreibt der Autor an anderer Stelle, dass ies eigentlich alles und nichts heisst, und genau diese Unschärfe habe das Schlagwort so verlockend gemacht für die Mischung von »Chaos, Spaß und Leere«. Die Szene beschreibt er als informell, lose strukturiert, anomisch und sehr heterogen.
Valentin Groebner fragt sich zudem im zweiten Kapitel, wie formulierten die Aktivisten von damals ihre Forderungen, und was ist daraus geworden? Gemeinsam sei den unterschiedlichen Flügeln der damaligen Protestbewegungen ihre Identifikation mit den Unterdrückten und Marginalisierten sowie ihr Selbstmitleid gewesen.
Das dritte Kapitel dreht sich um gefühlte Selbstviktimisierung als Werkzeugkasten und um Opferstolz. Das Repertoire an Slogans, Zeichen und Ritualen der Empörung aus den 1980er Jahren sei mittlerweile historisch, aber nicht verschwunden. Selbstviktimisierung sei deswegen so verlockend, weil sie das eigene Selbstbild immer bestätige – und zwar unabhängig davon, wie die reale Vorgeschichte (oder die verschiedenen Versionen dieser Vorgeschichte) und der weitere Verlauf der Ereignisse aussähen.
Das vierte Kapitel handelt von der Zeit der strikten staatlichen Massnahmen während der Covid-Pandemie und jenen, die damit nicht einverstanden waren und zum Widerstand dagegen aufriefen. Es dreht sich um starke kollektive Empfindungen, die sich ganz unterschiedlicher Versatzstücke aus der Vergangenheit bedienten. Gestiftet würden solche Gefühlsgemeinschaften durch gemeinsame Zeiterfahrungen.
Von der Verfertigung von beiden handelt das fünfte Kapitel. Die anderen sind schuld, das Reden im Namen aller und die süsse Schuld gehören zu den behandelten Themen. Mit welchen rhetorischen Instrumenten lassen sich ansteckende Empfindungen in der ersten Person Singular und Plural am wirkungsvollsten kombinieren?
Im sechsten und letzten Kapitel wendet sich Valentin Groebner wieder der Gegenwart zu. Es ist den Echos und einigen konkreten Erscheinungsformen dieser ansteckenden Gefühle von den vermeintlichen guten alten Zeiten gewidmet. Der Mediävist erinnert daran, dass Nostalgie „vermutlich“ nie aufhört, weil immer neuer Stoff für sie nachwächst. Der Autor sucht nach dem Ausgang aus dem Kino der Gefühle.
So marginalisiert sich die Autonomen der 1980er Jahre auch vorgekommen seien, in diesem Bereich hätten sie gewonnen: Ihr Stil von trotziger Subjektivität qua sofortiger hedonistischer Wunscherfüllung sei überall, und die so stark wie möglich emotionalisierte Selbstauskunft sei im Marketing mittlerweile der Normalfall.
Valentin Groebner weigert sich, an den Verlust der guten alten Zeiten zu glauben und an das Schlimme, das uns jetzt bevorstehe. Dafür wurde er von einem linken Freund des Verrats bezichtigt. Dazu fügt der Mediävist an: Jede Gruppe, die nach dem Prinzip »Nur wir, gegen alle anderen« verfasst sei, sei auf Verrat angewiesen: Um ihre Selbstdefinition von Entschlossenheit und Intensität aufrechtzuerhalten, müsse sie in unregelmässigen Abständen Verräter und Verräterinnen identifizieren und dann verstossen.
Valentin Groebner scheint es heute, dass die Militanten der 1980er Jahre am entschlossensten nicht um Freiheit kämpften, auch wenn die Betroffenen das so nannten. Sondern um Bindung. Sie kämpften für ihre dauernde Unterwerfung unter eine unlösbare grosse Aufgabe. Denn sie wollten keine Verräter sein, genauso wenig wie er, Valentin Groebner. Der Autor merkt zudem an, Freiheit sei Verrat.
Angstlust und Weltuntergangsszenarios, Selbstviktimisierung und das Vergnügen an der Schuld der anderen prägten auch heute die politischen Debatten. Die Elemente des kollektiven Gefühlskinos der 1980er Jahre hätten bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit eingebüsst.
Einen Witz bietet Valentin Groebner (an anderer Stelle) ebenfalls: Der korsische Vater zu seinem Sohn bezüglich der Hochzeitsnacht: »Wenn das Fest vorbei ist und ihr in euer Zimmer hinaufgeht, dann hebst du die Braut vor der Tür hoch und trägst sie über die Schwelle. Denn der Korse ist stark.« »Und dann?« »Dann legst du sie auf das Bett und ziehst dich aus, und dabei lässt du das Licht an. Denn der Korse ist schön.« »Und dann?« »Dann, mein Sohn, holst du dir einen herunter. Denn der Korse ist autonom.«
Der Erkenntnisgewinn dieses Buches mag für Nicht-Autonome limitiert sein. Dafür ist es unterhaltsam.
Valentin Groebner: Gefühlskino: Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung. S. Fischer, 2024, 192 S. Das Buch bestellen (Cookies akzeptieren; wir erhalten eine Kommission – bei identischem Preis) bei Amazon.de.
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er war zuvor u.a. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg und am Europäischen Hochschulinstitut Florenz sowie Professeur invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er hat zahlreiche Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte verfasst.
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Valentin Groebner: Gefühlskino: Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.
Rezension / Buchkritik vom 4. Mai 2024 um 13:46 deutscher Zeit.