Venedig. La Serenissima – Zeichnung und Druckgraphik aus vier Jahrhunderten

Apr 13, 2022 at 19:00 707

In den Räumen der Graphischen Sammlung im Erdgeschoss der Pinakothek der Moderne in München werden noch bis am 8. Mai 2022 unter dem Titel Venedig. La Serenissima – Zeichnung und Druckgrafik aus vier Jahrhunderten 85 Druckgraphiken und 45 Zeichnungen zu Venedig aus der Frühen Neuzeit gezeigt. Diese Rezension beruht auf dem gleichnamigen, die Ausstellung begleitenden Katalog (Amazon.de).

Die Venezianer gaben ihrer einzigartigen Stadt den klangvollen Namen Allerdurchlauchtigste (La Serenissima). In diesem schwingt das Wort serenità, Sachlichkeit und heitere Gelassenheit, mit. Die Venedig darstellenden Zeichnungen und Druckgraphiken bieten laut Michael Hering, Direktor der Staatlichen Graphischen Sammlung München, gegenüber der Repräsentationskunst thematisch freiere Werke, weiter gefasste Horizonte und tiefer ausgelotete Empfindungen, als es oft bei ähnlichen Kunstleistungen in Städten mit weniger weit reichenden Verbindungen der Fall ist. Nicht zuletzt hatte laut Michael Hering Kunst auf Papier in Venedig ihren Ort auch dort, wo in projektierenden Skizzen und Studien das venezianische Idiom des Zeremonialen und innerlich Bewegten, Intimen und Gemütvollen, Umschleierten und Märchenhaften, aber auch des Selbstgewissen und Effizienten von Anfang an Bestandteil jeder Werkgenese war. In erfindenden wie musterhaft entwickelten oder auch final durchgearbeiteten Zeichnungen sei die wahre Keimzelle für venezianità in der Kunst zu entdecken.

Ausstellung und Katalog entstanden unter der Führung von Kurt Zeitler, Konservator für die italienische Kunst an der Staatlichen Graphischen Sammlung München. Über lange Zeiträume bildeten laut Kurt Zeitler das politische und wirtschaftliche Handeln der Serenissima, ihre sozialen und geistigen Konditionen, jene singolarità und integrierende Haltung aus, die das Stadtbild Venedigs und die Werke seiner Kunst prägen. Spätestens seit Jacopo Bellini (1396–1470) und seinen Söhnen Gentile (1429–1507) und Giovanni (1430–1516) sei in der venezianischen Malerei ein spezifisches Idiom spürbar, das durch den Schmelz der Farben, die Unmittelbarkeit und Frische des Ausdrucks, aber auch durch elegischen Tiefgang der Empfindung, erzählerischen Reichtum und eine Offenheit gegenüber benachbarten künstlerischen Gattungen ausgezeichnet ist.

Laut Kurt Zeitler beleuchten die für die Ausstellung Venedig. La Serenissima – Zeichnung und Druckgrafik aus vier Jahrhunderten ausgewählten Werke aus der Staatlichen Graphischen Sammlung München schlaglichtartig signifikante Seiten venezianischer Kunst auf Papier zwischen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis um etwa 1800.

Die Ausstellung gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste (Kat. 1–9) führt über Ansichten und Szenerien von Stadtpanoramen von Carlevaris und Canaletto, Marieschi und Brustolon in das Stadtbild der Serenissima ein und spiegelt signifikante Seiten ihres Selbstverständnisses wider.

Ein zweiter (Kat. 10–35) zeigt druckgraphische Werke und Werkgruppen verschiedener Thematik und Funktion, die für Venedig bezeichnende Interessen und künstlerische Strategien verfolgen. Dazu gehören Werke von Jacopo de’ Barbari und Giulio Campagnola, von Formschneidern des Tizian-Kreises und auswärtigen Kupferstechern wie Cornelis Cort und Agostino Carracci. Ihre ausgefeilte, mit der Malerei wetteifernde Drucktechnik trug bereits im 16. Jahrhundert zu einem über das Veneto und Italien weit hinaus reichenden Ruhm der venezianischen Kunst bei. Im 18. Jahrhundert griffen Canaletto und Tiepolo nicht nur zu Pinsel, Feder und Stift, sondern nahmen zudem die Radiernadel selbst in die Hand. Es entstanden Phantasieveduten, Tiepolos weltberühmte Capricci und Scherzi sowie Giovanni Davids zwölfblättrige Serie Divers Portraits aus dem Jahr 1775, die Einblicke in die Seele Venedigs gewähren. Giovanni Davids zeigt den Konflikt zwischen äusserer und innerer Welt, zwischen Gesellschaftlichem und Privatem, zwischen Sein und Schein.

Ein dritter Teil der Ausstellung präsentiert Zeichnungen führender venezianischer Künstler und nimmt
technische, künstlerische und funktionale Besonderheiten in den Blick (Kat. 36–66). Gentile und Giovanni Bellini, Lorenzo Lotto und Jacopo Palma il Giovane nutzten Zeichnungen nicht nur zur Bildvorbereitung, sondern auch zur Erkundung neuer Ausdrucksmöglichkeiten. Neben hochkarätigen Werken von Tizian, Tintoretto und Veronese bildet die einzige aus El Grecos italienischer Frühzeit bekannte Zeichnung einen weiteren Höhepunkt. Für das 18. Jahrhundert setzen Blätter von Amigoni und Tiepolo, Antonio Guardi und Francesco Fontebasso Glanzlichter – darunter Virtuosenstücke, die sich auf Meister des 16. Jahrhunderts beziehen, deren Bildfindungen in neues Licht setzen und die für Venedigs künstlerische Handschrift so charakteristischen Kontinuitäten widerspiegeln.

Im Katalog findet sich zudem ein Beitrag von Maria Aresin zu den sogenannten Münchner Palma-Alben, einem Konvolut von 475 Zeichnungen in zwei Klebebänden, auf deren Buchrücken die Inschrift
»Disegni del Palma« und »B.P.« (Biblioteca Palatina) zu lesen ist (S. 54, Abb. 27), die einst für die Mannheimer Sammlung des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz (reg. 1742–1799) angekauft wurden.

Ausstellungskatalog / Buch zur Ausstellung: Venedig. La Serenissima – Zeichnung und Druckgraphik aus vier Jahrhunderten, herausgegeben von Kurt Zeitler, mit Beiträgen von Maria Aresin und Ilka Mestemacher, Deutscher Kunstverlag, 2022, 352 Seiten mit 216 Abbildungen. Das gebundene Buch bestellen bei Amazon.de.

Parallel zur Ausstellung erscheint ein Bestandskatalog von rund dreieinhalbtausend Werken von in Venedig geborenen, gestorbenen oder dort tätigen Künstlern. Darüber hinaus sind Werke von Zeichnern und Druckgraphikern aus den Abteilungen der italienischen, deutschen, französischen und niederländischen Kunst gelistet, die nach venezianischen Vorbildern gearbeitet haben.

Ebenfalls lesenswert unser englischer Artikel von 2014 zu Ausstellung und Katalog Canaletto: Bernardo Bellotto paints Europe in der Alten Pinakothek München. Weitere Bücher zu Canaletto: Amazon.de, Amazon.com, Amazon.fr, Amazon.co.uk

Zitate und Teilzitate aus dem Ausstellungskatalog sind in dieser Buchkritik / Rezension der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension vom 13. April 2022 um 19:00 deutscher Zeit.