2015: Die Türkei verliert wertvolle Zeit

Sep 01, 2015 at 11:12 135

Statt sich längst überfälligen Reformen zu widmen, verliert die Türkei wertvolle Zeit mit einer Übergangsregierung und Neuwahlen am 1. November 2015.

Das Land bräuchte längst neue Köpfe und neue Ideen, repräsentiert in neuen Parteien. Doch noch machen die Türken mit den alten, verbrauchten Parteien und Parteiführern und ihren inkompatiblen Programmen weiter. Erdogans Politik hat inzwischen alle gegen alle aufgebracht. Kompromisse sind kaum mehr möglich. Das Mass der Mitte ist längst verloren gegangen. Die Türkei stagniert.

Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Juni hat sich Präsident Erdogan um 180 Grad gedreht, die HDP mit der PKK gleichgesetzt. Anstatt sich der Realität zu stellen, setzt er alles daran, alle Macht zurückzugewinnen. Die Neuwahlen sind der Weg dazu. Eine Übergangsregierung begleitet die Türkei auf dem Weg zum 1. November.

Für Erdogan und seine Regierung sind die HDP, die kurdische Terrororganisationen PKK in der Türkei und PYD in Syrien sowie die weitgehend autonome Regierung Kurdistans im Irak unbedingt zu bekämpfende Feinde. Für die USA sind und waren dies die bewährtesten Alliierten im Kampf gegen den IS.

Die türkische Regierung schaute in Kobane nur zu, wie der IS dort den Kurden zusetzte. Erst in den letzten Tagen haben sich Präsident Erdogan und die Regierung Davutoglu dazu durchgerungen. endlich militärisch gegen den IS vorzugehen. Bisher galt ihr Augenmerk der PKK und der PYD, die weiterhin Ziele ihrer Angriffe bleiben. Die Angst vor einem Kurdenstaat bleibt.

Erdogan und die AKP sollen zusammen mit den türkischen Sicherheitskräften und Geheimdiensten ein schmutziges Spiel betreiben. Das behaupten Cemil Bayik, die Nummer 2 der HDP, sowie türkische Quellen und Freunde. Die Attentate in Diyarbarkir gegen eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni 2015 sollen nicht aufs Konto des IS, sondern der türkischen Geheimdienste und Regierung gehen. So sollte die PKK zu Terror-Vergeltungsschlägen verleitet werden. Doch laut Ceml Bayik sei seine Organisation nicht in diese Falle getappt.

Wie auch immer, sicher ist, dass Erdogan und die AKP-Regierung dem Treiben des IS bis vor wenigen Tagen tatenlos zusahen. IS-Kämpfer konnte ungehindert über die türkische Grenze nach Syrien und in den Irak reisen. Von einem aktiven Kampf gegen diese Terrororganisation konnte keine Rede sei.

Indem die bunte Allianz der HDP, bestehend aus rund 20 Parteien und Organisationen, die klar Links stehen und pro-kurdisch sind, mit der PKK gleichgesetzt werden, versuchen Erdogan und die Regierung Davotoglu die HDP bei den nächsten Wahlen wieder unter die 10%-Hürde zu drücken. Werden das gefährliche Spiel mit dem Nationalismus und antikurdischen Gefühlen aufgehen? Solange es freie und faire Wahlen in der Türkei gibt, ist dies nicht sicher.

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Die türkische Übergangsregierung

Präsident Erdogan hat am 28. August 2015 eine Übergangsregierung gebilligt, welche die Türkei bis zu Neuwahlen am 1. November interimistisch regiert. Ihr gehören erstmals zwei Mitglieder der prokurdischen HDP an. Die HDP will so zeigen, dass sie hinter den türkischen Institutionen steht und sie und ihre Anhänger nicht als Landesverräter gebrandmarkt werden können. Die zwei Vertreter der HDP gehören der Minderheit der Aleviten an [Korrektur 2023: Viele Kurden sind Aleviten]. Ali Haydar Konca wird sich um das Ministerium für Europäische Angelegenheiten, Muslum Dogan, ein Gründungsmitglied der HDP, um das Entwicklungsministerium kümmern. Es handelt sich also nicht gerade um Schlüsselressorts.

Diese werden weiterhin von Mitgliedern der AKP besetzt. Die Regierung steht weiterhin unter dem Vorsitz von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, einem Getreuen von Präsident Erdogan. Die Ministerien für Finanzen und Wirtschaft stehen weiterhin unter der Führung der AKP-Minister Mehmet Simsek und Nihat Zeybekci. Oppositionspolitiker bemängelten, viele Unabhängige ständen in Wahrheit der AKP nahe.

Präsident Erdogan und seiner Regierung sind allerdings zwei Coups der Öffnung hin zu den Nationalisten gelungen. Sowohl die Führung der nationalistischen MHP und der kemalistischen CHP verweigerten den Eintritt in die Übergangsregierung. Doch bei der MHP blieben die Ränge nicht geschlossen. Der Vizepräsident, Tugrul Türkes, der Sohn des MHP-Gründers, akzeptierte einen der Vizepremier-Posten in der Übergangsregierung. Ihm droht nun der Parteiausschluss. Zudem konnte die AKP Yalçin Topçu zum Eintritt ins Kabinett bewegen. Von 2009 bis 2011 war er Chef der kleinen, nationalistischen und religiösen BBP. Diese Partei entstand 1992. Sie spaltete sich damals von der nationalistischen MHP ab. Sie steht den Grauen Wölfen nahe. Yalçin Topçu übernimmt das Ministerium für Kultur und Tourismus.

Die Ressortverteilung macht klar, dass die AKP weiterhin sicher sein kann, dass die Korruptionsvorwürfe gegen vier ihrer früheren Minister und gegen einen Sohn von Erdogan nicht wieder aufgerollt werden. Drei Staatsanwälte sind auf der Flucht. Hunderte von Polizisten und Mitglieder des Justizapparates wurden zwangsversetzt oder gar entlassen, um Korruption und andere Verfehlungen von AKP-Mitgliedern und ihnen nahestehenden Unternehmern zu vertuschen. Hätten sich die drei Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP, die im Juni 2015 zusammen eine Mehrheit im Parlament gewannen, zu einer Koalition auf Zeit zusammengerauft, hätte man der Korruption, dem Nepotismus und anderen Peinlichkeiten auf den Grund gehen können. Doch die Opposition hat eine Chance vertan. Doch noch dürfte es in der Türkei freie und faire Wahlen geben. Solange bleibt die Hoffnung auf mehr Demokratie bestehen.

Die Wirtschaft stottert. Reformen sind nicht zu erwarten.

Erdogan hat die Türkei während rund einem Jahrzehnt des Wachstums regiert. Daher rührt ein Grossteil seiner Popularität. Doch seither ist die Wirtschaft ins Stottern geraten. Statt mit Wachstumsraten um die 6% wie zuvor musste sich die Türkei 2014 mit einem Zuwachs von 2,9% des BIP begnügen. Für ein Schwellenland, dass noch viel Aufholen muss, ist dies viel zu wenig. Für 2015 wird übrigens ebenfalls ein Zuwachs von nur rund 3% erwartet. Infrastrukturprojekte wurden zwar vorangetrieben. Doch profitierten davon vor allem AKP-Unternehmer und der Partei nahestehende Geschäftsleute. Zudem haben sich viele Haushalte in den letzten Jahren stark verschuldet. Einigen glühenden Anhängern von Erdogan und der AKP hat dies die Augen geöffnet. Die Opportunisten beginnen, sich nach Alternativen umzusehen.

Die Lage im Irak, in Syrien und nun im kurdischen Teil der Türkei trägt auch nicht gerade zum Vertrauen in die Zukunft der türkischen Wirtschaft bei. Die Währung verliert an Wert. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 10%%. Dabei bleiben vor allem Frauen zu Hause. Die Beschäftigungsquote liegt in der Türkei lediglich bei rund 50%. Die Türkei hat über ihre Verhältnisse gelebt, was sich auch in einem Leistungsbilanzdefizit von über 7% in den letzten Jahren ausdrückte. Die Inflation erreichte 2014 fast 9%. Die Konsumenten drosseln nun ihren Konsum. Die Wirtschaft hat sich abgekühlt. Nur die Schattenwirtschaft boomt. Die Bildung einer Übergangsregierung und Neuwahlen lassen in den nächsten Monaten leider keine Strukturreformen erwarten.

Die Manöver von Präsident Erdogan und seiner Regierung zur Vertuschung der Korruption und anderer Verfehlungen sowie das Vorgehen gegen echte und vermeintliche Anhänger des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen und seiner Organisationen verstärken Zweifel am türkischen Rechtsstaat. Zudem kommen immer wieder Journalisten und Medien unter Druck, wenn sie kritisch berichten. Die Gewaltentrennung wird von der AKP nicht respektiert. Die Pressefreiheit ist bedroht. All das schreckt auch dringend benötigte Investoren aus dem Ausland ab. Die Sparquote liegt in der Türkei bei lediglich 15%. Da fehlt es an Geld aus dem Inland für das Wachstum türkischer Unternehmen. Wilde Verschwörungstheorien von Erdogan und seinen Getreuen helfen da auch nicht weiter. Im Gegenteil. Die AKP hat abgewirtschaftet. Doch noch wehrt sie sich mit Händen und Füssen gegen den Machtverlust. Notwendige Reformen im Bildungssektor und auf dem Arbeitsmarkt bleiben auf der Strecke.

Zudem bleibt die Lage der Region weiterhin beunruhigend. Während dem in Deutschland die fleischgewordene schwarze Null, Angela Merkel, in völliger Verkennung der Tatsachen, als grösste Führerin aller Zeiten gefeiert wird, geht die Welt rundherum den Bach herunter. Deutschland, die EU und die USA sind nicht nur in der Flüchtlings-, Aussen- und Sicherheitspolitik ideen- und kopflos. Das Resultat sind Flüchtlingsströme in der Ukraine, Syrien und anderswo. Eine ganze Region ist destabilisiert. Sie reicht von der Ukraine über Griechenland und die Türkei bis nach Syrien, den Irak, Libyen und schwarzafrikanische Länder. So kann es nicht weitergehen.

Was die Türkei angeht, so werden alte Köpfe mit veralteten Ideen bei den Neuwahlen im November kaum den Durchbruch bringen. Das Land braucht neue, unverbrauchte Politiker und Parteien, die den Rechtsstaat wiederherstellen, die Gewaltentrennung respektieren, den Rahmen für die Wirtschaft stärken, Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssektor und anderswo angehen, die Minderheiten in der Türkei ebenso wie die Meinungs- und Pressefreiheit respektieren. Die to-do-list ist lang und wird täglich länger.

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.

Artikel vom 1. September 2015 um 11:12 CET. Zu unseren WordPress-Seiten hinzugefügt am 13. Mai 2023 um 12:12 deutscher Zeit.