2015: Neuwahlen in der Türkei

Aug 21, 2015 at 17:51 177

Wie bereits vor einiger Zeit in einem französischen Artikel angekündigt, hat sich Präsident Erdogan für Neuwahlen in der Türkei entschieden. Heute, am 21. August 2015, hat er dies nun offiziell bestätigt, obwohl die Frist zur Bildung einer neuen Regierung eigentlich erst am 23. August abläuft.

Bis zu den für den 1. November 2015 angekündigten frühzeitigen Neuwahlen will Präsident Erdogan eine Übergangsregierung bilden. Dieser sollen eventuell Mitglieder angehören, die nicht Parlamentarier sind.

Bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 gingen unglaubliche 97.17% der 56,6 Millionen türkischen Wähler an die Urnen. Das Wahlergebnis repräsentierte folglich mehr wie nie zuvor den Wählerwillen. Für Präsident Erdogan bot dieses jedoch eine herbe Enttäuschung: Den ersten Rückschritt seit seinem ersten Wahlerfolg 2001. Im Vergleich mit der Parlamentswahl im Jahr 2011 verlor seine AKP – welcher Erdogan als Präsident offiziell nicht mehr angehört – 3 Millionen Wähler. Das hätte ihm eigentlich zu denken geben müssen. Doch Erdogan dachte vor allem daran, wie er sich dennoch die Macht weiterhin voll und ganz sicher könnte.

Dabei verfiel er auf ein gefährliches Spiel. Die Kurden, denen er in den letzten Jahren immer mal wieder ein Zückerchen hingeworfen hatte mit Reformen und Reförmchen in ihrem Sinne, identifizierte er plötzlich wieder als gefährlichen Feind, den es zu bekämpfen gilt.

Und das kam so. Bei den erwähnten Wahlen vom 7. Juni erreicht die AKP nur noch 40,87% der Stimmen (11,8% weniger als 2011!) und 258 Sitze. Damit blieb die Partei zwar klar die stärkste politische Kraft in der Türkei, doch für eine absolute Mehrheit reichte es nicht mehr. Die säkulare, sozialdemokratische CHP kam mit 24,95% der Stimmen und 132 Sitzen auf den zweiten Platz, vor der nationalistischen MHP mit 16,29% und 80 Sitzen. Der Mehrheit von Erdogans AKP den Geraus machte jedoch die linke, pro-kurdische HDP. Sie schaffte es erstmals über die in der Türkei äusserst hohe Schwelle von 10% für den Einzug ins Parlament. Mit 13,12% der Stimmen und 80 Sitzen gelang der HDP dies unerwartet souverän [korrigiert am 2.11.2015: 13:12% nicht 14.1%].

Präsident Erdogan dachte nun darüber nach, wie er am besten bei Neuwahlen den Sieg wieder davontragen könnte. Da passte ihm der IS-Terroranschlag im Süden der Türkei an der syrischen Grenze ins Konzept, auf den Anschläge von kurdischen PKK-Rebellen gegen türkische Polizisten folgten. Daraufhin erklärte er nicht nur erstmals dem IS den Krieg, sondern ordnete Schläge gegen die PKK an. Vor allem aber versuchte er nun auf einer nationalistischen Welle zu reiten und die HDP mit der PKK in einen Topf zu werfen.

Einige Quellen sagen, dass die türkischen Geheimdienste und Sicherheitskräfte ein schmutziges Spiel treiben. Es ist in der Tat nicht immer klar, wer wo welches Attentat verübt hat. Wir wissen ja zum Beispiel aus dem Italien der Zeit der Roten Brigaden, dass da ebenfalls nicht alle Terrorakte linken Spinnern zuzuschreiben waren. Erdogan und der AKP ist im Kampf um den Machterhalt jedes Mittel zuzutrauen. In jedem Fall versucht er, die nationalistische Karte über seinen Kampf gegen die PKK auszuspielen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass im November zum Beispiel die nationalistische MHP bereit ist, einer Regierung mit der AKP zuzustimmen, um so in einem „patriotischen Schulterschluss“ die von ihnen verfemten Kurden zu bekämpfen, insbesondere im Fall einer anhaltenden Terrorwelle. Vielleicht geht Erdogans Spiel sogar ganz auf, und er gewinnt wieder eine absolute Mehrheit, weil die Türken „Stabilität“ wollen.

Der HDP-Führer Selahattin Demirtas wehrte sich dagegen und betonte, sein buntes Bündnis an linken und pro-kurdischen Parteien sei nicht der politische Arm der PKK, er habe die PKK wiederholt zu Verhandlungen und friedlichen Mitteln im politischen Kampf aufgefordert.

Die Strategie von Erdogan ist brandgefährlich. Bisher hat er die IS-Kämpfer, die durch die Türkei hindurch nach Syrien und in den Irak reisten. weitgehend unbehelligt gelassen. Der Feind deines Feindes, in diesem Fall die Kurden, ist dein Freund. Doch nicht nur der IS könnte nun überall in der Türkei zuschlagen. Vor allem gilt es zu bedenken, dass ein schmutziger Krieg gegen die PKK und Kurden um weiteren Sinne zur Destabilisierung der Türkei führen könnte. Istanbul ist die Stadt mit der grössten kurdischen Bevölkerung auf der ganzen Welt.

Präsident Erdogan erhofft sich, mit seinem nationalistischen Kurs am 1. November 2015 bei der Parlamentswahl wieder eine absolute Mehrheit sichern zu können. Ab dieses Konzept aufgeht, hängt vom türkischen Wähler ab. Das bisher wichtigste und positivste ist, dass auch die letzten Wahlen vom 7. Juni frei und fair verliefen.

Noch ist die Türkei keine Diktatur, auch wenn Erdogan und die AKP bereits versucht haben, die Gewaltentrennung auszuhebeln und die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Als 2013 Korruptionsfälle bekannt wurden, in die Mitglieder der damaligen Regierung Erdogan sowie selbst ein Sohn von Premierminister Erdogan verwickelt waren, tat die AKP-Regierung alles, um eine Aufklärung zu verhindern. Polizisten wurden ver- und abgesetzt, die Justiz allgemein behindert, drei Staatsanwälte befinden sogar auf der Flucht, nämlich die Herren Zekeriya Öz, Celal Kara und Mehmet Yüzgec.

Immerhin wurde Erdogan 2013 durch die Skandale gezwungen, seine Regierung umzubilden. Doch das ganze war natürlich nur ein Feigenblatt, um eine wirkliche Aufklärung der unhaltbaren Zustände von Korruption, Nepotismus, Klientelismus und Kriminalität zu verhindern. Unternehmerfreunde von Erdogan und der AKP erhielten bevorzugt den Zuschlag bei Immobilienprojekten in den Städten und dem Ausbau der Wasserversorgung im ganzen Land. Die Korruption ist omnipräsent. Die dauerhafte Entwicklung der Türkei gefährdet. Der Wirtschaftsboom ist vorbei. Eine Immobilienkrise gefährdet die Stabilität. Die Haushalte haben sich in den letzten Jahren stärker verschuldet. Die Krise erreicht nun auch Erdogans Wahlvolk. Nicht alles kann mehr durch wirtschaftliche und soziale Fortschritte wie in der Vergangenheit unter den Tisch gekehrt werden.

Bezüglich Verhandlungen mit der PKK und der HDP hat Präsident Erdogan eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen. Wird ihm der Wähler diese abnehmen oder als wahltaktisches Manöver durchschauen? Noch im Frühling hat Erdogan laut HDP-Chef Selahattin Demirtas auf Verhandlungen mit der PKK und ihrem gefangen Führer Abdullah Öcalan gesetzt. Eine Konferenz mit Abdullah Öcalan, PKK, HDP, Regierungsvertretern und unabhängigen Beobachtern sei in Planung gewesen.

Warum könnte Erdogans Rechnung doch noch aufgehen? Die Opposition ist nicht sehr glaubwürdig. Im aktuellen Parlament kontrolliert sie 292 der 550 Sitze. Sie wäre folglich theoretisch in der Lage gewesen, eine Regierung zu bilden und den Korruptions- und anderen Vorwürfen gegen Erdogan, seine Regierung, die AKP und AKP-nahe Unternehmer vorzugehen. Doch die Parteiführer von CHP, MHP und HDP können sich nicht ausstehen und die Programme der drei Parteien schliessen sich gegenseitig aus. Die Stärke Erdogans und der AKP ist weitgehend nichts anderes als die Kehrseite der Schwäche der Opposition.

Wie schon vor Jahren bemerkt, braucht die Türkei neue politische Parteien mit neuen Köpfen, die glaubwürdig, integer sind und klare politische Konzepte besitzen. Davon ist die Türkei leider noch weit entfernt. Ein Ende der Ära von Erdogan und der AKP, so wünschenswert dies ist, bedeutet noch keine rosige Zukunft durch Neuwahlen in der Türkei.

Nach dem Wahlsieg Erdogans 2007 konnte man – bei allen klar sichtbaren Defiziten – noch die Hoffnung haben, dass seine Regierung weiter auf dem Pfad der Reformen gehen würde. Nach seinem drittem Wahlsieg 2011, noch vor den Gezipark-Protesten, war bereits klar, dass die Zeit für ihn eigentlich gekommen war, die Führung in neue, unverbrauchte Hände zu geben. Heute sind Erdogan und die AKP längst zu einem Mühlstein am Halse der Türkei geworden. Ihre Zeit ist abgelaufen. Es fehlt leider nach wie vor an einer glaubwürdigen Alternative. Ansonsten hätte der Regierungswechsel bereits im Juni 2015 vollzogen werden können.

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.

Artikel vom 21. August 2015 um 17:51 CET. Zu unseren WordPress-Seiten hinzugefügt am 13. Mai 2023 um 11:55 deutscher Zeit.