[Aus unserem Archiv: Artikel vom 20. Juli 2016 um 10:17 dt. Zeit]
Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu hat eine Art offizielle Version des Putsches in der Türkei veröffentlicht. Laut dieser Sicht erhielt der Chef des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, Wind von dem bevorstehenden Putsch. Am Freitag dem 15. Juli 2016 soll er um 16:30 den stellvertretenden Generalstabschef Yasar Güler vor dem Coup gewarnt haben. Um 18:30 soll daher Generalstabschef Hulusi Akar den Luftraum über der Türkei für alle Flüge gesperrt haben und militärische Truppenbewegungen untersagt haben. Die Putschisten seien deshalb gezwungen worden, ihre Pläne vorzuziehen. Eigentlich hätten sie erst am frühren Sonntagmorgen, dem 17. Juli, losschlagen wollen. So aber seien sie gezwungen gewesen, bereits zwei Tage früher um 21:00 loszuschlagen. CNNTurk kam zu ähnlichen Schlüssen.
Präsident Erdogan hatte in seinem ersten Interview nach dem Putsch behauptet, wäre er nur 10 bis 16 Minuten länger mit seiner Familie in seinem Ferienhotel in Marmaris geblieben, so hätte man ihn vielleicht getötet oder gefangen genommen. Den am Schlag gegen das Staatsoperhaupt in Marmaris beteiligten Soldaten sei gesagt worden, die Operation richte sich gegen Terroristen.
Am Abend des 19. Juli 2016 verkündete ein Sprecher des türkischen Bildungsministeriums, bisher seien über 15,000 Staatsangestellte im Bildungsbereich suspendiert worden. Zudem sei 21,000 Lehrern an Privatschulen die Lizenz entzogen worden. Der Schlag richtet sich sowohl im staatlichen wie im privatwirtschaftlichen Sektor gegen Personen, die mit der Hizmet-Bewegung (Hizmet bedeutet Dienst) des islamischen Predigers Fethullah Gülen verbunden sein sollen.
Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu habe der Hochschulrat des Landes zudem die Rektoren aller staatlichen und privaten Universitäten zum Rücktritt aufgefordert.
Der Machtkampf zwischen Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdogan entbrannte erst so richtig Ende 2013. Noch in den 1990er Jahren zeigten sich beide zusammen, so bei der Heirat des Fussballers Hakan Sükür. Auch nach dem Exil von Fethullah Gülen blieben sie Alliierte, so im Kampf gegen das türkische Militär.
Die Gülen-Bewegung hatte natürlich schon immer eine politische Stossrichtung. Sie kümmerte sich nicht nur um die Bildung und Gesundheit von Menschen in der Türkei und rund um die Welt, sondern sie war zudem im Medienbereich mit Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern aktiv, engagierte ihre Schüler, als Geschäftsleute, Journalisten, Polizisten, Richter, etc. in der Türkei aktiv zu werden. Wie die AKP von Recep Tayyip Erdogan, durchdrang die Hizmet-Bewegung die türkische Gesellschaft, wobei die AKP natürlich als politische Partei direkt und offen aktiv war, die Macht anstrebte und auch gewann, während dem die Anhänger von Gülen indirekt und diskret die Geschicke der Türkei zu beeinflussen suchten. Als Ende 2013 Medien von Gülen glaubwürdige Korruptionsvorwürfe gegen AKP-Minister und die Familie von Erdogan vorbrachten, schlug Erdogan zurück und Begann die Gülen-Anhänger systematisch zu verfolgen.
Ähnlich wie die chinesische Führung ihre Lehren aus dem Ende des kommunistischen Systems in Russland zog und alles tat, um kein ähnliches Schicksal zu erleiden, so schaute Recep Tayyip Erdogan nach Ägypten, wo Präsident Mursi zuerst siegte, um dann vom Militär Al-Sisi gestürzt zu werden, der rasch zu einer Art neuer Mubarak wurde. Dabei sahen die USA tatenlos zuerst beim Sturz von Mubarak, danach bei jenem von Mursi zu. Das Ende des Muslimbruders und politischen Freundes Mursi, der wie er von einem politischen (und demokratischen?) Islam nicht nur träumte, sondern diesen Traum lebte, schlug Erdogan schwer auf. Seither sieht er sich von Feinden umzingelt.
Als Populist hat Erdogan schon immer auf echte und vermeintliche Feinde eingeschlagen. Beliebte Opfer waren und sind das Militär, das ihn einst verfolgte und über das Staatssicherheitsgereicht 1999 für einige Monate inhaftieren liess. Sündenböcke sind zudem die Kurden und die HDP, worunter durchaus einige PKK-Sympathisanten sind. Doch nachdem er lange eine Verständigung mit den Kurden gesucht und ihnen einige Zugeständnisse gemacht hatte, weil er sie als Wähler umwarb, schlug alles wieder in Hass um, nachdem kurdische und linke Wähler ihm 2015 eine Niederlage beibrachten, indem sie die HDP über die 10%-Hürde hievten und so seine Parlamentsmehrheit brachen. Die ehemals alliierten Hizmet-Organisationen und Gülen-Anhänger, echte wie vermeintliche, sind seit der Aufdeckung von Korruptionsfällen im Schosse der AKP und Erdogans Familie Ziele einer Säuberungswelle. Erdogan stammt aus ärmlichen Verhältnissen und wurde auf wundersame Weise wie seine Söhne sehr reich. Erdogan sieht nun Feinde und Verschwörungen überall und will alles und jeden kontrollieren. Oft sieht er zudem Ausländer im Hintergrund die Fäden ziehen, und damit meint er nicht nur Gülen, sondern schon einmal das internationale Finanzkapital oder die USA.
Erdogan agiert als Präsident, dem laut der Verfassung eine hinter dem Premierminister zurückstehende Bedeutung zukommt, längst als starker Mann der Türkei. Das Präsidialsystem existiert de facto bereits. Eine Verfassungsänderung würde nur nachträglich die rechtliche Grundlage für den Ist-Zustand liefern. Werden die nächsten Wahlen noch frei sein?
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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.