2016: Erdogan säubert die Türkei

Jul 18, 2016 at 20:57 176

Erdogan säubert die Türkei: Militärs, Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Verfassungsrichter, Gülen und seine Anhänger (wie Hakan Sükür) im Visier

Die türkische Regierung hat neue Zahlen zur Säuberung publiziert. Bis jetzt seien über 13,000 Staatsbedienstete suspendiert worden. Nicht in dieser Zahl enthalten seien 6,038 Soldaten, die bisher verhaftet worden seien.

Artikel vom 18. Juli 2016 um 18:24 dt. Zeit: Obwohl alle drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien den gescheiterten Militärcoup sofort verurteilt haben und die Putschisten auf keine Begeisterung für ihr Vorgehen in der Bevölkerung, ja selbst bei der klaren Mehrheit des Militärs, gestossen sind, nutzt Präsident Erdogan die Gunst der Stunde für eine massive Säuberung.

Bis jetzt sind bereits mindestens 8000 Militärs, Polizisten, Richter, Staatanwälte, Verfassungsrichter und sonst nicht genehme Personen entlassen, suspendiert oder verhaftet worden. Diese Menschen waren natürlich nicht alle in den gescheiterten Militärcoup verwickelt gewesen.

Erdogan schadet schon seit Jahren der Türkei. Nun räumt er resolut alle aus dem Weg, die ihm nicht genehm sind, die ihm bei seinen Plänen zur Errichtung eines auf ihn zugeschnittenes Präsidialregimes nicht zustimmen wollen.

Eine freie Presse existiert praktisch nicht mehr. Viele wichtige Fernsehsender und Zeitungen hat Erdogan direkt oder indirekt unter seine Kontrolle gebracht. Wer noch mehr oder weniger frei ist, agiert vorsichtig und übt Selbstzensur. Von Meinungsfreiheit kann in der Türkei keine Rede mehr sein.

Seit dem Vorgehen gegen Staatsanwälte, Richter und Polizisten, die gegen ihn, seine Familie und seine Regierung Ende 2013 glaubwürdige Korruptions- und andere Vorwürfe vorbrachten und diese untersuchen wollten, hat Erdogan die Gewaltenteilung nicht mehr respektiert.

Im gegenwärtigen Moment sind freie und faire Wahlen nicht mehr möglich, selbst wenn Erdogan und sein AKP-Regime alle Oppositionsparteien bei einem Urnengang zulassen würden. Bereits bei den Neuwahlen 2015, nach einem Resultat, das Erdogan nicht gefiel, war die dem AKP-Regime nicht genehme Presse bereits stark unter Druck geraten. Auch wenn es damals nicht zu massiven Wahlfälschungen kam, so war die zweite Wahl 2015 bereits nur noch bedingt frei und fair.

In der Vergangenheit waren zum Beispiel die zwei Journalisten Can Dündar und Erdem Gül der überregionalen, oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet verhaftet worden, weil das Blatt am 29. Mai 2015 über illegale Waffen- und Munitionslieferungen des türkischen Geheimdienstes an den IS berichtet und Fotos dazu veröffentlicht hatte.

Die zwei nun in den letzten Tagen entlassenen Verfassungsrichter wurden Opfer des Zorns von Erdogan, weil dieses Gericht es in den vergangenen Jahren mehrfach gewagt hatte, Entscheidungen gegen Erdogan und sein Regime zu fällen. So hatte im Februar 2016 das Verfassungsgericht entschieden, dass die zwei oben erwähnten regierungskritischen Journalisten freigelassen werden mussten. Damit war das Verfassungsgericht die wohl letzte Instanz im Staat gewesen, die sich erfolgreich dem sich unantastbar glaubenden Erdogan entgegen stellte. Dieser tobte den auch schon im Februar und drohte, er werde das Verfassungsgericht abschaffen, wenn es weitere solche Urteile fälle.

Von rund 15,000 Richtern in der Türkei wurden nach dem gescheiterten Putsch rund 2700 entlassen oder gar inhaftiert. 10 Mitglieder des türkischen Staatsrats und 5 Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte sollen zudem verhaftet worden sein.

Erdogan hat angekündigt, das Militär vollständig säubern zu wollen. Er behauptet, der in den USA lebende Geistliche Fetullah Gülen stehen hinter dem Putschversuch vom Juli 2016, was der beschuldigte vehement bestritt. Erdogan behauptet, Gülen und seine Anhänger hätten einen Staat im Staat bzw. eine Parallelstaat errichtet. Das könnte man ebenfalls von Erdogan und seiner AKP sagen.

Viele Jahre lang waren Erdogan und Gülen Weggefährten. Noch beim Ergenekon-Prozess geben angebliche oder wirkliche Putschpläne des Militärs in den Jahren 2007 bis 2013 waren die zwei Alliierte. Beide wollten sie die Macht des Militärs dauerhaft brechen. Allerdings kam beim Prozess heraus, dass viele Beweise gegen die Armee gefälscht waren. Erst 2013 entzweiten sich die zwei Führer des politischen Islam, nicht zuletzt, weil Erdogan in Gülen immer stärker einen unliebsamen Konkurrenten sah, den er nicht kontrollieren konnte.

Ein Detail: Der damals beliebteste türkische Fussballer, Hakan Sükür, verliebte sich 1994 in Esra Elbirlik. die damals 19Jährige wollte ihn allerdings nicht heiraten. Da intervenierte die türkische Premierministerin Tansu Çiller bei der Familie der jungen Dame, damit sich der Stürmer wieder auf seine Arbeit des Toreschiessens konzentrieren konnte. Die Familie und die Studentin gaben nach. Die Heirat wurde live am Fernsehen gezeigt! Der damalige Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, leitete die Zeremonie. Fethullah Gülen war Hakan Sükurs Trauzeuge. Die Geschichte endete traurig und mit einer Scheidung nur vier Monate später. Die junge Dame starb 1999 zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Vater im Izmit-Gölcük-Erdbeben von 1999, bei dem insgesamt über 18,000 Menschen in der Türkei zu Tode kamen. Hakan Sükür heiratete wieder und hat drei Kinder mit seiner zweiten Frau. Als Politiker wurde Hakan Sükur 2011 für die AKP ins türkische Parlament gewählt. Er unterhielt weiterhin enge Beziehungen zu Fetullah Gülen. Ende 2013 trat Hakan Sükür aus der AKP aus, weil diese sich feindlich gegenüber der Gülen-Bewegung verhalte. Er blieb als Unabhängiger weiterhin im Parlament. Im Februar 2016 schliesslich wurde der ehemalige Fussballer beschuldigt, Präsident Erdogan auf Twitter beleidigt zu haben. Dafür drohte ihm eine Haftstrafe von bis zu vier Jahren. Der Prozess begann Mitte Juni 2016 in Abwesenheit des früheren Stürmers, der sich in den USA aufhalten soll.

Seit Erdogans Wahl zum türkischen Staatsoberhaupt im August 2014 wurden nach offiziellen Angaben von Mitte Juni 2016 bereits über 1800 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eröffnet.

Selbst der nationalheilige Fussballer Hakan Sükür entzweit Fetallah Gülen und Recep Tayyip Erdogan, die beide von einem politischen Islam träumen bzw. diesen teilweise bereits umgesetzt haben. Die Gülen-Bewegung gilt inzwischen allerdings in der Türkei als Terrororganisation.

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.

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