2017: Diktator Erdogan

Apr 19, 2017 at 12:25 298

[Aus unserem Archiv: Artikel vom 19. April 2017 um 12:25 dt. Zeit]

Über das unfair abgelaufene Verfassungsreferendum legalisiert und legitimiert Erdogan seine Diktatur  Die türkische Demokratie existierte schon länger nur noch auf dem Papier. Von einem Rechtsstaat, von freien Medien, von freier Meinungsäusserung und von Gewaltenteilung kan schon lange keine Rede mehr sein.

Als Recep Tayyip Erdogan am 28. August 2014 vom Amt des Premierministers in jenes des Präsidenten wechselte, gab er keinesfalls seine Macht als Regierungschef ab. Anstatt nun das weitgehend zeremonielle Amt des Präsidenten auszuüben, behielt er weiterhin die politischen Fäden in der Türkei in der Hand. Erdogan eiferte Putin nach und nutzte den gescheiterten Militärputsch vom Juli 2016, um die Türkei weiter zu säubern, womit er übrigens bereits seit den Gezi-Park-Protesten ab dem 28. Mai 2013 begonnen hatte.

Der Korruptionsskandal vom Dezember 2013, in den seine Familie und vier seiner Minister verwickelt waren und sind, führte zu seinem harten Vorgehen gegen den Prediger Fethullah Gülen und seine Gülen-Bewegung, die er hinter den veröffentlichten, abgehörten Telefongesprächen vermutete.

Zudem war Erdogan darüber schockiert, wie die Amerikaner und der Westen den demokratisch gewählten Präsidenten Morsi in Ägypten ebenfalls 2013 fallen liessen. Am Nil führte der Weg über Massaker in Ägypten zum neuen Militärdiktator Al-Sisi. Nicht zuletzt angesichts des Endes des befreundeten Mursi in Ägypten säuberte Erdogan die türkische Armee, die sich nicht dagegen wehrte. Damit war ein weiteres Gegengewicht zu seiner Macht in der Türkei eliminiert.

Allerdings kam es 2016 doch noch zum erwähnten gescheiterten Militärputsch, der allerdings nur von einer kleinen Minderheit von Militärs unterstützt wurde. Alle Parteien und nicht zuletzt die Bevölkerung stellten sich hinter Erdogan, was dieser ihnen mit den erwähnten Säuberungen „dankte“.

Über das unfair abgelaufene Verfassungsreferendum vom April 2017 „legalisiert“ und „legitimiert“ Erdogan nun seine Diktatur. In den sich ohnehin weitgehend unter seiner Kontrolle befindenden Massenmedien kamen fast nur Befürworter der Verfassungsreform zu Wort und vor allem ins Bild; eine wirkliche Diskussion fand nicht wirklich statt. Das Verfassungsreferendum war im Wesentlichen eine Entscheidung für oder gegen Erdogan. Daher ist es für den de-facto Diktator Erdogan eine moralische Niederlage, dass er trotz einseitiger Propaganda in den weitgehend gleichgeschalteten Medien nicht die von ihm öffentlich angestrebte 60 Prozent-Plus-Mehrheit erzielt hat, sondern nur magere 51,4%.

Die grössten Städte Ankara, Istanbul und Izmir stimmten alle gegen das Präsidialsystem. Insgesamt kam das Nein auf respektable Ergebnis von 48,6%. Erdogan kümmert das natürlich wenig. Ein Sieg ist ein Sieg. Er verschweigt dabei jedoch den völlig unfairen Referendums-Wahlkampf, in dem eigentlich nur das Ja zu Wort kam.

Hinzu kommen bürgerkriegsähnliche Zustände in einigen Kurdengebieten, in denen bis rund eine halbe Million Menschen vertrieben wurden und nicht abstimmen konnten oder aus anderen Gründen von der Urne wegblieben bzw. viele Anhänger der Kurdenpartei sitzen im Gefängnis, weshalb der Nein-Kampagne nicht nur Stimmen, sondern auch Wahlkämpfer fehlten. Die Wahlbeteiligung fiel in einigen Kurdengebieten rund 3% bis 7% niedriger aus als bei den letzten Wahlen, was bei einer engen Abstimmung den Ausschlag geben kann. Zudem stimmten in diesen Gebieten aus was für Gründen auch immer signifikant mehr Wähler für das Ja zur Verfassung als Erdogans AKP und die in der Referendumsfrage mit ihm alliierte, nationalistische MHP zusammen an Stimmen bei den letzten Wahlen erhielten. Hinzu kommt die Entscheidung der Wahlbehörde, Stimmzettel ohne amtliche Stempel zu akzeptieren, die eigentlich als ungültig hätten gezählt werden müssen.

Mit der neuen Verfassung wird übrigens kein Präsidialsystem wie in den USA oder Frankreich geschaffen. In der Türkei gibt es unter Erdogan längst keine funktionierende Gewaltenteilung mehr, von „checks and balances“ kann keine Rede sein. Nun wird das Premierministeramt abgeschafft, dessen Befugnisse weitgehend vom Präsidenten übernommen werden, der quasi allmächtig wird. Selbst das Budget schlägt er vor. Das Parlament kann dieses nur zu Fall bringen, indem es sich selbst auflöst und Neuwahlen einleitet. Zudem könnte Erdogan nun bis 2034 an der Macht blieben. Da wird es manchem Türken zurecht mulmig.

Die Wirtschaft brummt schon lange nicht mehr wie früher. Touristen bleiben weg. Die Auslandsinvestitionen in der Türkei sinken. Tausende von Betrieben von Gülen- und angeblichen Gülen-Anhängern wurden enteignet und befinden sich nun oft in den Händen von AKP-Anhängern bzw. wurden geschlossen. Rund 130,000 Staatsangestellte sollen bis heute gefeuert und rund 45,000 gefangen genommen worden sein, weil sie angeblich in den fehlgeschlagenen Militärputsch verwickelt sein soll und/oder einfach nur angeblich Gülen-Anhänger sein sollen. Die Gülen-Bewegung gilt nun als terroristische Vereinigung. Selbst wer gegen das Verfassungsreferendum war, wurde als Terrorist verunglimpft. Die fehlende Rechtssicherheit, das unsichere politische Klima und Terroranschläge lähmen das Land zunehmend.

Erdogans Demokratur wurde nun mit dem Referendum legalisiert. Dabei spielten die Auslandtürken eine unrühmliche Rolle. In Deutschland stimmten rund 63% der rund 50% Auslandtürken, die am Referendum teilnahmen, für die neue Verfassung. In Österreich waren es gar 73,5% und in Belgien gut 75%. Nur in der Schweiz kam das Ja nur auf 38% der Stimmen. Die Auslandtürken sind folglich in Westeuropa nur schlecht integriert. Sie fühlen sich (zum Teil zurecht) als Bürger zweiter Klasse. Sie stammen oft aus armen Gegenden der Türkei und haben eine schlechte Bildung. Sie fühlen sich im Westen ohne Stimme, die ihnen der populistisch-vulgäre Schreihals Erdogan gibt. Er kommt ihnen als einer der ihren vor, der die Türkei wirtschaftlich vorangebracht hat. Allerdings soll sich das türkische Bruttosozialprodukt laut Dani Rodrik (siehe den englischen Artikel zum Referendum) von 2002 bis 2012 keinesfalls wie von Erdogan und der AKP behauptet verdreifacht haben, sondern lediglich um 64% bzw. 43% gestiegen sein. Wie auch immer, viele Türken sehen in Erdogan und der AKP jene, welche ihr Land vorangebracht haben und der dem präpotenten Westen die Stirne zeigt. Die Armut soll unter Erdogan von 30% auf 18% gesunken sein.

Spätestens in den letzten Jahren jedoch haben Erdogan und die AKP das Gemeinwohl aus den Augen verloren. Sie denken nun vor allem an ihren persönlichen Vorteil in einem korrupten System, in dem niemand mehr ungestraft abweichende Meinungen vertreten kann. Dass dieses Regime mit der neuen Verfassung und Diktator Erdogan an der Spitze in Zukunft den Türken weiterhin Wachstum und grösseren Wohlstand verschaffen kann, ist zu bezweifeln.

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.