Véronique Wiesinger war Leitende Kuratorin des französischen Kulturerbes und seit ihrer Gründung 2003 Direktorin der Fondation Alberto und Annette Giacometti in Paris. Im Herbst 2007 präsentierte sie im Centre Pompidou die Ausstellung „L’atelier d’Alberto Giacometti, collection de la Fondation Alberto et Annette Giacometti“.
2024 hat sie einen einführenden, reich illustrierten Band zu Alberto Giacometti (1901–1966) herausgegeben, einem der bedeutendsten Künstler der Menschheitsgeschichte.
Véronique Wiesinger: Giacometti: Die Gestalt als Herausforderung. Verlag Schirmer/Mosel, 2024, 144 Seiten mit 140 teils farbigen Abbildungen. ISBN 978-3-8296-0919-7. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Véronique Wiesinger analysiert in vier Kapiteln die Anfänge des jungen Mannes, der im Bergell als Sohn des Schweizer Postimpressionisten Giovanni Giacometti aufwuchs, um mit 22 Jahren nach Paris zu ziehen, seine Periode des Surrealismus, seine Zeit als Künstler, der sich nicht einordnen liess, das Finden eines einzigartigen Stils sowie die ewige Suche eines Mannes mit Widersprüchen. Abschliessend folgen Zeugnisse, Gespräche und Dokumente sowie eine Bibliographie.
Die Anfänge im Bergell im Kanton Graubünden als Künstlersohn des bekannten und beliebten Malers Giovanni Giacometti (1868–1933) standen unter einem guten Stern. Der Vater sagte und schrieb dem Sohn immer wieder: „Künstler ist, wer zu sehen weiss. Und Kunst studieren heisst sehen lernen.“
Véronique Wiesinger schreibt von der Bedeutung der Kunst von Paul Cezanne (nicht Cézanne, wie im Text) für Vater und Sohn, von Alberto Giacomettis Lehrjahren in Genf und Rom sowie seiner Ausbildung in Paris, wo bereits der Vater von 1888 bis 1891 dort selbst an der Académie Julien studiert hatte.
Alberto belegte ohne Begeisterung die Kurse von Antoine Bourdelle (1861–1929) an der Académie de la Grande-Chaumière. Die Autorin bekräftigt, dass Giovanni seinen von Selbstzweifeln geprägten Sohn bei dessen ersten Schritten auf seiner Laufbahn zuverlässig unterstützte. Alberto neigte dazu, in der Hoffnung, Tages das Meisterwerk zu schaffen, sein gesamtesbisheriges Werk zu zerstören – eine Vorgehensweise, die er sein Leben lang beibehalten sollte, so Véronique Wiesinger.
Der Vater teilte deshalb dem Sohn mit: „Ich kenne solche Phasen der Niedergeschlagenheit und Unzufriedenheit auch, das sind vielleicht die fruchtbarsten Zeiten, um zu lernen. Es cheint, als wolle nichts gelingen, man glaubt sich vor unüberwindlichen Schwierigkeiten, und eines schönen Tages merkt man plötzlich, dass man Fortschritte gemacht hat, dass man die nächste Stufe auf dieser unendlichen Leiter erklommen hat, die zur Perfektion führt, auf der man aber nie ganz oben ankommen wird.“
Véronique Wiesinger unterstreicht, dass Alberto Giacometti morgens in der Grande-Chaumière und nachmittags in seinem Atelier arbeitete. Nach der Tradition der Akademien arbeiteten die Studenten dort in grösster Freiheit und schufen ihre Plastiken nach einem lebenden Modell, doch Alberto Giacometti standen dank seiner Familie die finanziellen Mittel zur Verfügung, um sich ein Modell ins eigene Atelier zu holen. Der Professor kam nur einmal pro Woche zu ihm, um zu „korrigieren“ und Albertos im Entstehen begriffenen Werke zu kommentieren, sofern sie ihn interessierten.
Die Autorin schreibt, dass zwischen Bourdelle und seinem Schüler keine Harmoni eherrschte, da der junge Mann von Natur aus störrisch gegenüber Autoritäten gewesen sei, auch wenn im Fall Bourdelles die Autorität eher moralischer Natur gewesen sei. Sie verweist auf Alberto Giacomettis Briefe über Bourdelle, die oft verächtlich klangen. Alberto hielt es mit seinem Vater, er glaubte nicht an den Fortschritt in der Kunst, empfand keine Begeisterung für neue Materialien wie Beton oder für die technische Moderne. Ebenso wenig teilte er das spiritualistische Interesse seines Lehrers an exotischen Kulturen. Andererseits bestand Bourdelle darauf, dass das Nachzeichnen und das Arbeiten aus dem Gedächtnis wichtig wären, beides behielt Giacometti zeit seines Lebens bei. Und so fand sich bei ihm mancher Widerhall auf Bourdelles experimentelle Arbeiten, so Véronique Wiesinger.
Vitamin „B“ ist in der Kunst wichtig. Im zweiten Kapitel ist zu lesen, wie Alberto Giacometti 1929 durch seinen Freund, den Maler Massimo Campigli, in Kontakt mit Jeanne Bucher kam, die im März jenes Jahres eine Galerie eröffnen wollte. Sein Vater Giovanni war Anfang des Jahres in Paris, traf sie und gab seinem Sohn zu verstehen, dass sie einen „guten Eindruck“ auf ihn machte. Im April war die angehende Galeristin dabei, als Alberto Werke auswählte, die er in einer Gruppenausstellung „italienischer Künstler in Paris“ in der Galerie Zak in Saint-Germain-des-Prés zeigen wollte.
Véronique Wiesinger schreibt, dass Jeanne Bucher eine erste Arbeit an eine argentinische Sammlerin verkaufen konnte, eine Frau de Alvear, die zu Albertos Freude mit dem General verwandt war, für den Bourdelle ein Denkmal geschaffen hatte. Die Galeristin zeigte Giacomettis Skulpturen zudem dem Maler André Masson, dem Kopf eines abtrünnigen surrealistischen Zirkels, und nachdem er die Werke für gut befand, beschloss sie, einige von ihnen ab dem 24. Mai 1929 in der Campigli-Ausstellung ihrer Galerie zu zeigen.
Alberto Giacometti lernte den deutschen Kunsthistoriker und -kritiker Carl Einstein kennen, der seit 1928 in Frankreich lebte. Einstein war mit den bedeutenden internationalen Kunsthändlern Kahnweiler, Wildenstein und Flechtheim befreundet und wurde für den jungen Künstler gegen Ende April 1929 zu einer Art Agent. Er liess Marc Vaux Bilder der Werke anfertigen, um sie an seinen ausländischen Bekanntenkreis zu versenden, schickte Kahnweiler und Flechtheim in Albertos Atelier vorbei und konnte es einfädeln, dass ein ausschliesslich Giacometti gewidmeter Artikel in der neuen Zeitschrift Documents erschien, die er gemeinsam mit Georges Bataille und mit Wildensteins Geld ge-gründet hatte. Als Michel Leiris’ Artikel im September 1929 erschien, hatte Giacometti seit Juni einen Vertrag mit Pierre Loeb, dem Eigentümer der Galerie Pierre, und er hatte es in den künstlerischen Kreisen der Avantgarde zu Bekanntheit gebracht, etwa beim Ehepaar Noailles, den berühmten Kunstsammlern und Mäzenen, so unsere Autorin.
Alberto Giacometti wurde so zu einem angesagten Künstler, der gern für Fotografen posierte, darunter auch für jene, die enge Verbindungen zum Surrealismus hatten, wie Boiffard (1931) und Man Ray (1932). Brassaï fotografierte Albertos Atelier 1933 für eine Ausgabe der Zeitschrift Minotaure.
1931 wurde Alberto Giacomettis Werk Schwebende Kugel gezeigt. Der Dichter, Schriftsteller und führende Theoretiker der Surrealisten,, André Breton, glaubte daraufhin, in Alberto Giacometti den Bildhauer gefunden zu haben, der der Bewegung noch fehlte.
Véronique Wiesinger beschreibt die komplizierte Beziehung des Schweizers zu den Surrealisten, denen er von 1930 bis 1935 angehörte. 1931 soll er sich geweigert haben, an der Antikolonialismus-Ausstellung teilzunehmen, die die Surrealisten in Vincennes veranstalteten, um gegen die Schau Exposition coloniale internationale dort zu protestieren. Doch bei Alberto Giacometti: Surrealistische Entdeckungen (Ausstellung Max Ernst Museum Brühl; Katalog bei Amazon.de) ist zu lesen, dass sich der Künstler diskret an der Organisation der Gegenausstellung zur Pariser Kolonialausstellung beteiligte. Ein Übersetzungsfehler?
Der Galerist Pierre Colle versprach Alberto Giacometti für 1931 eine Ausstellung, die allerdings erst im Mai 1932 stattfand. In derselben Galerie eröffnete im Juni 1933 die grosse Ausstellung der surrealistischen Bewegung, in der Alberto Giacometti vertreten war. Er wurde allerdings 1932 von den Surrealisten zwischenzeitlich ausgeschlossen, weil er zuerst für den Dichter und Schrifststeller Louis Aragon, einen Vertreter des sozialistischen Realismus, Partei ergriff, im Streit mit André Breton
Die Autorin erklärt, dass Alberto Giacometti André Bretons autoritäre Haltung nur schwer ertragen konnte, obwohl er ihn sehr bewunderte, und dieser zwischen 1932 und 1934 zu seinem bevorzugten Gesprächspartner wurde, insbesondere nach dem Tod seines Vaters Giovanni Giacometti am 25. Juni 1933. Zusammen mit dem surrealistischen Dichter Paul Eluard war Alberto Giacometti am 4. August 1934 Trauzeuge bei der Heirat von André Breton mit Jacqueline Lamba.
Véronique Wiesinger schreibt, dass Alberto Giacometti die Ambivalenz des Objekts an sich interessierte. Deshalb entwarf er parallel zu seinen surrealistischen Schöpfungen „objets utilitares“, wie er sie bezeichnete. Durch Vermittlung von André Masson erhielt er erste Aufträge, zunächst für ein Wandrelief aus Bronze, dann für Dekorationsgegenstände, Kaminroste in Hundeform, die er 1930 für die Familie David-Weill herstellte. Charles und Marie-Laure de Noailles gaben zudem bereits im November 1929 eine riesige Skulptur für ihren Garten in Hyères bei ihm in Auftrag. Alberto Giacometti arbeitete mit dem Haus Desny zusammen. Für den Innenarchitekten Jean-Michel Frank (1895–1941) stellte er Vasen, Stehlampen und Leuchten her. Die meisten Objekte führte sein Bruder Diego aus. Seine Schwester Ottilia, die 1929 zu Alberto nach Paris kam, designte Stoffe und webte nach ihrer Rückkehr in die Schweiz Teppiche für Jean-Michel Frank nach Entwürfen von Christian Bérard.
Bereits 1939 fotografierte Marc Vaux für Verve winzige Figurinen von Alberto Giacometti. Als der Schweizer nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Schweiz wieder nach Paris kam, war erneut Marc Vaux einer der ersten Fotografen, die bei ihm auftauchten. Laut Véronique Wiesinger fotografierte er wahrscheinlich im Auftrag von Zervos für die Zeitschrift Cahiers d’art einzelneWerke und Werkgruppen. Seine Bilder vom Atelier betitelte er mit „Skulpturen im Entstehen“. Darauf sind zum Beispiel ein fertiges Portrait von Marie-Laure de Noailles aus dem Jahr 1946 und ein Kopf von Rita Gueffier aus den 1930er Jahren zu erkennen. Es war der Beginn der Eroberung eines neuen Stils.
Alberto Giacometti wollte nicht mehr von den Surrealisten vereinnahmt werden. Laut der Autorin waren die Skulpturen, die er von 1947 bis 1950 schuf, dennoch stark vom Surrealismus geprägt. Die Amerikaner waren zurück in Paris, so David George Thompson, und der Künsthändler Pierre Matisse war bereit, grosse Summen in Bronzegüsse der Werke von Alberto Giacometti für eine Ausstellung im Jahr 1947 zu investieren, die allerdings erst im Januar 1948 stattfand; Brassaï machte noch 1947 Fotos der entstehenden Werke für Harper’s Bazaar, ehe die Ausstellung in New York eröffnet wurde. In Paris liess sich der Schweizer von Aimé Maeght repräsentieren. Matisse und Maeght teilten den Markt unter sich auf: Vereinigte Staaten bzw. Europa. 1964 brach Alberto Giacometti mit Maeght, doch zuvor hatte er der Stiftung von Marguerite und Aimé Maeght in Saint- Paul-de-Vence noch seine Rechte an einem aussergewöhnlichen Konvolut seiner Werke zum reinen Bronzeabguss-Preis angeboten.
Im vierten Teil schreibt die Autorin von der „unendlichen Suche“ des Künstlers, so nach der „absoluten Distanz“, von seiner paradoxen Malerei, vom Radiergummi, dessen Spuren ein wesentliches Merkmal seiner Zeichnungen wurden, von seinem unermüdlichen Kopieren von Kunstwerken, von der Zuspitzung der Wahrnehmung in seinen Werken.
Dies und noch viel mehr gibt es zu lesen in Véronique Wiesinger: Giacometti: Die Gestalt als Herausforderung. Verlag Schirmer/Mosel, 2024, 144 Seiten mit 140 teils farbigen Abbildungen. ISBN 978-3-8296-0919-7. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension von Giacometti: Die Gestalt als Herausforderung sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Buchkritik / Rezension vom 2. November 2024 um 00:57 Schweizer Zeit.