Nur noch bis am 19. November 2023 dauert die Ausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur Alberto Giacometti. Porträt des Künstlers als junger Mann (Amazon.de; alle Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Katalog kommen; wir erhalten eine Kommission).
Das Bündner Kunstmuseum Chur hat sich schon mehrfach mit der Künstlerfamilie Giacometti und insbesondere mit Alberto (1901-1966) auseinandergesetzt. Dazu gehören die Ausstellungen Von Photographen gesehen: Alberto Giacometti (1986), La Mama a Stampa. Annetta – gesehen von Giovanni und Alberto (1991) sowie Alberto Giacometti: Stampa – Paris (2000).
Die aktuelle Schau versucht zu ergründen, wo und wie beim jungen Alberto Giacometti das künstlerische Interesse wuchs, wie es befördert wurde, was er aus eigenem Antrieb leistete, woran er sich orientierte sowie wie sich sein Selbstverständnis als Künstler entwickelte.
Bereits mit 10 Jahren zeichnete er sich selbst. Von da an schuf er eine ganze Reihe von Selbstbildnissen. Insgesamt 16 sind im Bündner Kunstmuseum Chur zu bewundern. Die Autoporträts enden mit einer hieratischen Gips-Büste (41 x 21 x 28 cm) aus dem Jahr 1925 aus dem Kunstmuseum Zürich (Alberto Giacometti-Stiftung), denn bis zu jenem Jahr wird in der Ausstellung das Leben des jungen Alberto untersucht.
Christian Klemm analysiert im Katalog Albertos Selbstporträts als frühe Hauptwerke des Künstlers. Paul Müller stellt sie danach in den Kontext des Dialoges von Vater und Sohn. Vaclav Pozarek, der zusammen mit Peter Zimmermann das grafische Konzept dieser – abgesehen vom nichtssagenden Buchumschlag – visuell überzeugenden Publikation prägte, hat zehn Bildnisse von Alberto ausgewählt, die der Vater Giovanni Giacometti von seinem Sohn zwischen 1910 und 1929 schuf. Diese Werke werden im Katalog den Selbstbildnissen Albertos gegenübergestellt.
Die Bilder, die den jungen Künstler bei der Arbeit zeigen oder Einblicke in seine frühe plastische Produktion geben, gehören zu den Besonderheiten dieser Präsentation. Bei Giovanni Giacometti endet die Reihe der Familienporträts im Moment, in dem die Kinder das Elternhaus verlassen. Alberto hat sich auch später immer wieder selbstgezeichnet oder gemalt, mit längeren Unterbrüchen, jedoch laut Stephan Kunz in seiner Einleitung ohne die Selbstsicherheit, die wir in den frühen Bildern des jungen Mannes erkennen können.
Ausgehend von den Porträts des jungen Künstlers sind Ausstellung und Buch danach in sechs Teile bzw. Kapitel untergliedert. Sie beginnen mit den Bildnissen der Familienmitglieder und enden mit dem künstlerischen Aufbruch von Alberto Giacometti, der die Studienzeit bei Antoine Bourdelle in Paris beendet, um dort eigene Wege zu gehen; Bourdelle war ein ehemaliger Assistent von Rodin sowie Künstler und Lehrer.
Nebenbei erwähnt (nicht im Katalog): Bei Antoine Bourdelle (1861-1929) studierten neben Alberto Giacometti zum Beispiel auch Aristide Maillol, Germaine Richier, Maria Helena Vieira da Silva und Pierre Matisse, wobei Pierre später Albertos Kunsthändler wurde; auch ein gewisser Arno Breker suchte 1927 noch Bourdelle auf.
Zurück zu Katalog und Ausstellung: Stephan Kurz schreibt, dass die Porträts von Mutter, Vater, der beiden Brüder Diego und Bruno sowie der Schwester Ottilia zu Albertos ersten künstlerischen Arbeiten gehören, die über Kinderzeichnungen hinausgehen. Neben dem eigenen Lebensraum und den Menschen darin waren es Landschaften, die der junge Alberto parallel, im Mit- und Nebeneinander mit Werken des Vaters schuf und die erste eigene Entwicklungsschritte und Besonderheiten zeigten.
In seiner prägenden Schulzeit in Schiers erweiterte sich nicht nur sein persönliches Umfeld, sondern neue Anregungen kamen hinzu und führten ihn zu einem intensiven Studium der Kunstgeschichte, anhand von Büchern sowie dem Studium von Originalen auf Reisen nach Venedig, Padua, Florenz, Assisi und vor allem während des längeren Aufenthaltes in Rom. Casimiro Di Crescenzo zeigt in seinem Katalogbeitrag, wie dadurch Albertos Wunsch reifte, Künstler zu werden.
Die Leidenschaft des Kopierens von Kunstwerken wurde bei ihm in früher Kindheit im Elternhaus in Stampa geweckt, an die sich Alberto später als die glücklichste Zeit seines Lebens erinnerte. Alle empfanden die Tätigkeit des Vaters als Maler als normal. Alberto sagte gar: «les tableaux de mon père étaient la vision même de la réalité».
Casimiro Di Crescenzo schreibt, dass von Giovanni Giacomettis Söhnen einzig Alberto schon früh zeigte, dass er von seinem Vater ein natürliches Talent zum Zeichnen geerbt hatte, das seine Eltern ebenso förderten wie die frühen Versuche der anderen Söhne.
Das Haus in Stampa verfügte über eine umfangreiche Bibliothek mit Kunstbüchern. Laut Casimiro Di Crescenzo war bei Alberto der Akt des Kopierens mit dem Wunsch zu lernen verbunden. Das Zeichnen eines Kunstwerks mit Bleistift, insbesondere bei seinen Studienreisen durch Italien, ist für Alberto die Methode der Untersuchung, die ihm hilft, das jeweilige Werk vollständig zu verstehen, seine Struktur wie auch die Art und Weise der Ausführung. Bereits 1917 stellte er fest, dass «die Zeichnung die Grundlage aller Künste ist». Dies war eine Überzeugung, die er von seinem Vater übernommen hatte und der er sein ganzes Leben lang treu bleiben sollte.
Albertos Studium der Werke entfernter oder aussereuropäischer Zivilisationen, der ägyptischen, griechischen, römischen und byzantinischen Kunst, der Meister vergangener Jahrhunderte, aber auch von Künstlern seiner Zeit nährte seine eigene künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt. Laut Casimiro Di Crescenzo lassen die Kopien von Kunstwerken den Weg von Albertos künstlerischer Arbeit rekonstruieren und offenbaren seine Interessen, Obsessionen, Vorlieben und Neugier.
Rembrandt und Dürer waren die beiden Künstler, die Alberto bis zu seiner Schulzeit in Schiers am meisten bewunderte. Zu seinen frühesten Kopien gehört die Zeichnung nach Rembrandts Kupferstich Der barmherzige Samariter, die 1911 entstand, als er in der 4. Klasse einen Kurs für Druckgrafik besuchte. Er schenkte diese Zeichnung seinem Patenonkel Cuno Amiet. Weitere frühe Kopien fertigte Alberto unter anderem von Werken des Japaners Hokusai, des Schweizer Malers Ferdinand Hodler, der ein Freund des Vaters und der Patenonkel seines Bruders Bruno war, sowie von Arbeiten seines Giovanni Giacometti an.
Casimiro Di Crescenzo unterstreicht, dass Alberto bereits in jenen frühen Jahren italienische Maler wie Pinturicchio, Benozzo Gozzoli, Cosmè Tura, Luca Signorelli, Botticelli, Leonardo, Michelangelo, Tizian und Raffael für sich entdeckt hatte. E war nun von seinen eigenen Fähigkeiten und spürte im April 1919, dass seine Berufung in der Kunst lag. Er verliess daher das Internat in Schiers und kehrte nicht mehr zurück.
Casimiro Di Crescenzo beschreibt, wie Alberto nach einem dreimonatigen Malaufenthalt bei seinem Vater erklärte er, er wolle entweder Maler oder Bildhauer werden. Auf Anraten seines Vaters schrieb er sich im September 1919 an der Kunsthochschule in Genf ein, litt jedoch unter starkem Heimweh und verabscheute die Stadt ebenso wie den akademischen Unterricht; sein Aufenthalt endete mit einem Misserfolg, und bereits im März 1920 kehrte er zurück ins Elternhaus in Stampa.
Giovanni Giacometti beschloss im darauffolgenden Monat, seinen Sohn mit nach Venedig zu nehmen, wohin er im Auftrag der Eidgenössischen Kunstkommission reiste, um den Schweizer Pavillon an der 12. Biennale zu besichtigen. Diese Reise hatte den gewünschten Effekt. Der Sohn konnte den Genfer Misserfolg hinter sich lassen. Er war von der Lagunenstadt und ihren Kunstschätzen so fasziniert, dass er den Ausstellungen der Biennale keine Beachtung schenkte, sondern Tintoretto für sich entdeckte, für den er eine einzigartige Liebe empfand. Hinzu kamen in der Arenakapelle in Padua die Fresken Giottos. Alberto empfand bei ihrem Anblick ungeheuren Schmerz und tiefen Kummer. Diese Werke überstrahlten alles, sogar Tintoretto. Giotto drückte für Alberto eine ewige, objektive, universelle Realität aus, die über individuelle Gefühle hinausging.
Doch noch am selben Tag brachte der Anblick von zwei oder drei Mädchen, die in Padua die Strasse entlang gingen, diese widersprüchlichen Gefühle durcheinander: «Entgeistert sah ich sie an, von einem Gefühl des Grauens überwältigt. Es war wie ein Riss in der Wirklichkeit. Jeglicher Sinn und Bezug der Dinge zueinander war verändert. Und gleichzeitig wurden die Werke Tintorettos und Giottos ganz klein, schwach, kraft- und konsistenzlos, sie glichen einem naiven, schüchternen, unbeholfenen Gestammel», so Alberto Giacometti 1952 in seinen Erinnerungen an Mai 1920 in der Zeitschrift Verve.
Casimiro Di Crescenzo notiert dazu, dass sich in den 1950er Jahren Albertos Interesse ganz auf die Beziehung zwischen Kunst und Realität fokussierte. Für ihn musste das Kunstwerk die Realität möglichst genau nachbilden, bis hin zu ihrer Verdoppelung – ein Unterfangen, das laut Casimiro Di Crescenzo zum Scheitern verurteilt ist, da die Realität von Natur aus veränderlich und schwer fassbar ist. Dennoch fand Alberto Giacometti in der Kunst eine Bestätigung seiner ästhetischen Prinzipien. Es gibt Beispiele für Kunstwerke – ägyptische, sumerische, frühchristliche, byzantinische –, denen ein Stil gemeinsam ist, der die Wirklichkeit nicht verdeckt, sondern sie lebendig werden lässt. Dies waren jedoch laut Casimiro Di Crescenzo die Gedanken eines reifen Künstlers auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens; 1920 war Alberto noch dabei, seinen Weg zu finden.
Mitte November 1920 konnte Alberto nach Florenz reisen, wo er jedoch vergeblich versuchte, sich für einen Kurs in Bildhauerei oder Malerei einzuschreiben. Einen Monat lang besuchte er alle Museen und Kirchen der Stadt. Die grosse Entdeckung war die Kunst des Alten Ägyptens.
Casimiro Di Crescenzo verweist darauf, dass Albertos Interesse an ägyptischer Kunst auf seine Schulzeit im Internat in Schiers zurückging. An der Versammlung der Studentenverbindung Amicitia am 20. Oktober 1917 sprach Giacometti zum Thema «Welche Kultur ist grösser? Unsere oder die ägyptische?» und kam zum Schluss, dass die ägyptische Kunst nicht nur besser sei, sondern dass nicht einmal die griechische Kunst an ihr Niveau herankomme. Alberto beschrieb die Erhabenheit der ägyptischen Architektur und stellte fest, dass der Tempel von Karnak dem Kölner Dom überlegen sei, und schloss mit der Feststellung, dass «die moderne Kunst teilweise auf der ägyptischen Kunst beruht, die gesamte Kultur auf der Antike».
Von Florenz aus reiste Alberto Giacometti über Perugia und Assisi nach Rom, wo er die Fresken von Cimabue «von fast einzigartiger Kraft, Erhabenheit und Ernsthaftigkeit» erlebte sowie erneut von Giotto beeindruckt war. Er blieb bis Juli 1921 bei einem Verwandten in Rom. Er bewunderte Bauwerke aus allen Epochen und Stilen, war von der Menge an Kunstwerken beeindruckt und begeistert davon, Kunstwerke, die er bis dahin meist nur schwarz auf weiss in Büchern bewundert hatte, endlich im Original sehen zu können. Casimiro Di Crescenzo unterstreicht, dass die ägyptischen Skulpturen in den Vatikanischen Museen von Rom Alberto so beeindruckten, dass er das reich bebilderte Buch der Gelehrten Hedwig Fechheimer Die Plastik der Ägypter kaufte, das ihm fortan als Grundlage für zahlreiche Kopien diente.
Der zweite Teil von Albertos Notizbuch aus jener Zeit ist einem Besuch in der Galleria Borghese gewidme. Es enthält Zeichnungen von Werken, die mit knappen Kommentaren versehen sind. Über Bernini urteilt er harsch: «[E]r verliert sich in der Gesellschaft der Grossen, wird ein wenig theatralisch, oberflächlich trotz seines Temperaments». Casimiro Di Crescenzo bemerkt dazu, dass seine jüngste Leidenschaft für die wesentlichen, strengen und sauberen Formen der ägyptischen Skulptur es Alberto nicht erlaubt habe, die brillante Virtuosität des Barockkünstlers zu schätzen.
Danach besuchte Alberto Giacometti noch Neapel und seine Museen sowie die antiken Bauwerke von Paestum. Die Italienreise motivierte laut Casimiro Di Crescenzo den jungen Mann, den Weg der Kunst einzuschlagen, und trug wesentlich zu seiner künstlerischen Ausbildung bei.
Alberto Giacometti hatte sich für den Beruf des Bildhauers entschieden und kam am 9. Januar 1922 in Paris an, um an der Académie de la Grande Chaumière den Kurs von Emile-Antoine Bourdelle zu besuchen. Alberto besuchte sie fünf Jahre lang, zwar nicht ständig, aber laut Casimiro Di Crescenzo mit einer gewissen Regelmässigkeit bis 1926, um sie dann 1927 zu verlassen, als er begann, sich mehr seiner künstlerischen Karriere zu widmen.
Alberto Giacometti besuchte oft den Louvre. In der Zeit an der Pariser Akademie stand die ägyptische Bildhauerei weiterhin im Mittelpunkt seines Interesses, ebenso wie die kykladische und sumerische Kunst, die er 1923 entdeckte und die für ihn einen ebenso hohen Stellenwert einnahm. Sein Lehrer Bourdelle hatte Albertos zeichnerische Qualitäten bemerkt und ihn öffentlich gelobt.
Ab 1925 galt Giacomettis Interesse zudem den Werken der afrikanischen, mexikanischen und ozeanischen Kunst im Musée de l’Homme. Während seiner letzten Jahre an der Akademie in Paris näherte er sich über Galerien mit zeitgenössischer Kunst sowie Ausstellungen der Avantgarde. Picasso und die Werke postkubistischer Bildhauer rückten in seinen Fokus: zunächst Constantin Brancuși, Ossip Zadkine und dann Jacques Lipchitz, der Künstler, der ihn bis 1929 am meisten beeinflusste, so Casimiro Di Crescenzo.
Als Alternative zur traditionellen Bildhauerei und zu seiner Arbeit an der Akademie arbeitete Alberto in seinem Atelier an neuen Lösungen, die sich an den von postkubistischen Künstlern entwickelten Formen orientierten. Die mexikanische Kunst inspirierte ihn zu Werken wie Femme, Petit homme und Le Couple, während die Femme-cuillère ihren Ursprung in der afrikanischen Kunst fand. Mit der Plaques-Serie und Tête qui regarde erreichte Giacometti den extremen Grad der formalen Reduktion. Die elegante Abstraktion dieser Werke geht auf Beispiele der Kykladenkunst zurück, die Giacometti bei seiner fortschreitenden Vereinfachung der Figur geholfen haben, so Casimiro Di Crescenzo.
Alberto bewahrte viele Zeichnungen aus den Jahren 1922 bis 1925 auf, nicht aber die Skulpturen, die er vernichtete, weil sie als akademische Werke galten. Erst ab 1925, dem Jahr, in dem er seine Werke zum ersten Mal öffentlich ausstellte, begann er, sie aufzubewahren. Nur ein Kopf des Vaters, der in der Familie geblieben ist, kann auf diese Zeit datiert werden.
Stephan Kunz bemerkt, dass sich seit seinem Umzug nach Paris 1922 ein deutlicher Wandel bezüglich Kolorit, Komposition und Bildauffassung in den Werken von Alberto Giacometti niederschlägt. Er bewegt sich von der Wiedergabe des Gesehenen hin zu einer Formulierung des Sehens, Erkennens, der Anschauung und des Bildens. Alberto Giacometti wollte verstehen lernen, was er sieht und wie er sieht und wie er es zum Ausdruck bringen kann.
Dies sind nur einige Angaben aus vor allem einem Kapitel eines anregenden Buch mit Beiträgen von sechs Autoren und vielen Illustrationen zum jungen Giacometti, der später zum bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts aufsteigen sollte.
Stephan Kunz, Paul Müller (Hrsg.): Alberto Giacometti. Porträt des Künstlers als junger Man. Scheidegger & Spiess, Bündner Kunstmuseum Chur, 2023, 320 Seiten, broschiert, 292 farbige und 3 s/w-Abbildungen 21 x 28 cm. Den hervorragend gestalteten Ausstellungskatalog – nur der Buchumschlag ist langweilig – bestellen bei Amazon.de (wir erhalten eine Kommission; akzeptieren Sie alle Cookies, damit Sie direkt zum Katalog gelangen).
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Ausstellungskritik sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.
Rezension / Ausstellungskritik vom 10. November 2023 um 13:37 Schweizer Zeit.